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10.000 km ostwärts – eine Reise durch das beginnende 1989 (7)

MOSKAU – CHABAROVSK, 4. – 11. Februar 1989, erster Teil: Zum Ende Europas

„Gott, Gott !“ Der kleine Bube im Abteil drückt seine Nase an die Fensterscheibe und zeigt mir die Kirche, an der wir vorbeirollen.

(Bild oben: Die nahe des Jaroslawer Bahnhofs gelegene Kirche der Himmelfahrt des Herrn, Bildausschnitt aus Wikipedia)

Er ist drei Jahre alt und heißt Oleg, wie sein Vater, ebenfalls im Abteil. Mutter Katja und Onkel Igor vervollständigen die Familie.

Sie sind aus der Ukraine und sagen deshalb „Ihor“ statt „Igor“ und „Oleh“ statt „Oleg“, oder einfach: „Oljescha“. Und der kleine Oleg sagt „Boh“ und nicht „Bog“, was das russiche Wort für „Gott“ ist.

Nach Tschita fahren sie, weit hinter dem Baikalsee, zur Arbeit. Eine Flugkarte war in Odessa nicht mehr zu bekommen, auch in Kiew und Moskau nicht.

So muss es also mit dem Zug gehen, fünf Tage lang.

Igor ist 23 Jahre alt, seine Schwester und ihr Mann etwas älter. Oft noch stehen er und ich auf dem Gang und plaudern. Es regt sich im Sowjetland. Igor kann vieles davon nicht verstehen, die Aktivitäten der Krimtataren zum Beispiel, die ihre Autonome Republik haben wollen. Und das wollen sie ausgerechnet in Igors Heimat, der Südukraine. Oder die Armenier und Aserbaidschaner mit ihrem „Gekünstelten Gehabe, mit dem sie einander die Fehler der Großväter vorwerfen.“

„Schau.“ sagt Igor. „Möglicherweise hat einer Deiner Verwandten einen meiner Verwandten umgebracht. Möglicherweise war es auch umgekehrt, das war ja so üblich im letzten Krieg. Aber werden wir uns deshalb jetzt die Schädel einschlagen? – Nein. Wir sind doch vernünftige Menschen. Die Kaukasier sind dies nicht.“

Ich werfe ein, dass wir beide nicht dort leben und deshalb nicht sehr viel davon verstehen. lgor winkt ab: „Da gibt es nichts zu verstehen.“

Am Abend gibt es – Vater Oleg flüstert es mir leise zu – Selbstgebrannten. Er ist scharf, schmeckt aber nicht schlecht.

Am nächsten Morgen sehe ich vor dem Fenster mehr und mehr Wald, ab und an ein Dorf, Felder, dann wieder Wald und endlich: Schnee.

Igor kommt mit mir zum letzten Waggon. Auf der nächsten Bahnstation putzen wir den Schnee vom Schlussfenster und fotografieren: zwei einsame Gleise, mitten im Nirgendwo.

Am Mittag sind wir in Perm, am Nachmittag schon in Swerdlowsk, in Asien.

Am Abend kommen Wassili und Viktor ins Abteil. Viktor war in Deutschland bei der Armee. Bei Magdeburg, erzählt er. „Kennst Du ? – Das ist bei Dresden. “ Ich nicke, nach 5 Tagen Eisenbahn bin ich nicht mehr sicher, welche Städte nah und welche fern von einander liegen.

Rum ? Ich biete den beiden an.
Moment. Wassili ist verschwunden und kommt nach einer Weile mit einem Konservenglas wieder – Wodka. Wassili selbst langt kräftig zu. Igor und ich, wir nehmen Brot und Wurst mit und gehen zu ihnen ins Abteil. Während mir Wassili immer mehr einschenken will, warnt mich Igor. Außerdem schiebt er mir immer wieder ein Stück Wurst hinüber. „Iß“, flüstert er.

Aus mir zunächst unerklärlichen Gründen werde ich tags darauf gefragt, wann in Deutschland der „Tag der freien Liebe“ sei. Ich überlege lange, ehe mir einfällt, dass wohl Fastnacht gemeint ist.

Heute ist Rosenmontag ! lch erzähle von Köln, dem Rosenmontagszug dort und dem in Bonn, wo ich studiere, von den Rosenmontagsvorlesungen einiger Professoren…

„Und die freie Liebe ?“ will lgor wissen. „Ach, Du mit Deiner freien Liebe,“ weist ihn seine Schwester zurecht, „die kannst Du auf der AIexandrowka haben, für 20 Rubel.“

Und natürlich will auch ich viel wissen. Was hält Katja von der Perestroika ? Mit zwei Worten: nicht viel. „Was habe ich davon ? – Alles wird teurer. Zucker gibt es auf Rationen, zwei Kilo im Monat. Fleisch bekomme ich in den Geschäften gar nicht mehr.“ – „Und Wodka ja auch nicht.“ fügt Vater Oleg hinzu.

Bild unten: Perestroika-Briefmarke aus 1988 (Quelle: Wikipedia)

„Ja, die Kooperativen machen jetzt das Geld. Und wir ? 0legs Familie hat eine kleine
Landwirtschaft in der Ukraine. Eine Tasche voll Speck schleppen wir jetzt nach Sibirien. Wenn sie nicht wären, woher sollten wir zu essen bekommen ?“

Ich sage, dass ich vieles nur vom Hörensagen kenne und von der Wirtschaft in diesem Land bisher nicht viel Ahnung gehabt habe. „So ?“ fragt Katja ironisch. „Erzählt Euch Gorbatschow nicht, was die Leute hier abends in den Kochtopf tun ?“ – „Nein,“ sage ich, „natürlich nicht. Aber ich denke nicht, dass er deswegen gleich ein Lügner ist.“

Katja blickt spöttisch. „So ? – Was erzählt er Euch denn ?“ – „Er erzählt von Abrüstung und Verminderung der Waffen und ich denke, dass er es ehrlich meint.“ Sie nickt: „Ja, das ist zumindest wahr. Schau meinen Sohn an. Wenn er 18 ist, kommt er zur Armee – entweder für zwei Jahre zum Heer oder für drei Jahre zur Marine. Niemals vorher werde ich erfahren, wohin sie ihn schicken und wie lange er geht. Aber zumindest kann ich hoffen, dass er zurück kommt. Früher war das nicht so sicher. Vielleicht kommt er nach Afghanistan ? Vielleicht kommt er nie wieder ? Ja richtig – das wird möglicherweise anders.“
Ein Gorbatschow – Fan ist sie deswegen aber noch lange nicht.

Am Abend fragen mich die drei. ob mir noch nichts an unserem Schaffner aufgefallen sei. Nein, was denn ?

Er und der Schaffner vom ersten Wagen haben sich eine Glatze rasiert. Den ganzen Tag läuft unser Schaffner schon mit Pudelmütze herum.

Mit Igor gehe ich in den letzten Wagen, den „Video-Salon“. Sie zeigen einen französischen Krimi.

Am nächsten Tag, 11.30 Uhr Moskauer Zeit halten wir in einer Station namens „Sima“, das heißt „Winter“. Eine matte Nachmittagssonne scheint, die Uhren des Ortes zeigen 16:30. Nicht allerdings die Bahnhofsuhr . Sie hält eisern an der Moskauer Zeit fest.

Ein Traktor fährt am Zug vorbei. Auf dem Anhänger hat er Kisten voller Steinkohle. In jeden Waggon wird der Inhalt einer Kiste hinter die Eingangstür geschüttet. Dort befindet sich das Feuerloch für die Warmwasserheizung. Ab hier ist nämlich ein Teil der Strecke ohne Elektrifizierung und der Schaffner hat rund um die Uhr zu heizen.

Es ist kalt hier draußen. Reif und kleine Eiszapfen hängen in dem Verbindungsgang von einem Waggon zum anderen. Deshalb sind hier auch die Beutel und Taschen mit dem Fleisch der Mitreisenden. Es ist stocksteif gefroren.

Heute Nacht werden es wieder Minus 35 Grad sein.

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Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

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