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Unser jährlicher Lumumba

Weihnachtsmarkt.

In seiner Abhandlung „Phänomene,“ in der Vorgänge und Orte der Moderne eine kritisch-huldigende Würdigung erfahren, hat der Philosoph Walter Benjamin beschrieben, wie der moderne, aufgeklärte Mensch Alltag wahrnimmt, oder besser gesagt, wahrnehmen könnte. Es findet sich in diesem Werk kein Kapitel über den Weihnachtsmarkt. Gäbe es eins, würde es vielleicht mit den Worten eingeleitet: „Der Augenblick der Konstruktion, chaotisch und sehnsuchtsnah, unter dem immer gleichen Gestank nach Verbranntem und dem Funkeln eines toten Baumes.“

Ambrose Bierce hat in seinem „Wörterbuch des Teufels“ leider auch keinen Eintrag dazu verfasst, obwohl ein solcher Artikel sich nahezu aufdrängen würde: „Weihnachtsmarkt, der –  Tempel der Völlerei und des Konsumrausches unter dem Vorwand der Vorbereitung auf die Völlerei und den Konsumrausch anlässlich der Geburt eines jüdischen Kindes, von dem niemand weiß, wie es in den Mutterleib gekommen ist.“

Für die meisten von uns ist der Weihnachtsmarkt ein Familienausflugsziel, ein Treffpunkt mit Freunden und Kollegen oder einfach nur ein Stück Eskapismus, ohne dafür weit reisen zu müssen. Für die wenigsten von uns ist es ein Ort der politischen Bildung. Aber das soll sich nun ändern.

Vorreiter.

Die Veranstalter des Weihnachtsmarktes in Frankfurt am Main, die der Stadt gehörende „Tourismus + Congress GmbH,“ prescht bei der Verwirklichung dieses pädagogischen Ansinnens nach vorn. Zurück geht das wohl auf die Initiative der Altkommunistin und Stadtverordneten Jutta Ditfurth, die dazu in der Frankfurter Rundschau zitiert wird: „(Der Name)… spielt höhnisch auf den Mord, verächtlich auf den Menschen Patrice Lumumba und rassistisch auf die antikoloniale Bewegung Afrikas an.“ Das aktivistische Deutsch der Formulierung mag dem Volontär des Blattes unterlaufen sein, oder auch nicht. Man empfiehlt allen Standbetreibern dringend (sic), sofern sie Getränke anbieten, auf die Bezeichnung „Lumumba“ zu verzichten. Wörtlich heißt es:

„Dringende Empfehlung. Sollten Sie ein Getränk im Angebot haben, welches Sie als „Lumumba“ bezeichnen, möchten wir Sie eindringlich bitten, den Namen zu ändern und es auf auf Menükarten/Getränkekarten/Schildern unkenntlich zu machen.“

Ein Grund wird dafür auf der Kachel nicht genannt, und jeder, der nicht die Frankfurter Rundschau liest, bleibt ratlos zurück. Auf meine Rückfrage bei der „Tourismus + Congress GmbH,“ warum man glaubt, den Standbetreibern keine Erklärung schuldig zu sein, erhielt ich keine Antwort. Aber das bin ich schon gewohnt. Anlässlich einer Recherche im Frankfurter Bahnhofsviertel richtete ich eine Anfrage nach Unterstützung an die entsprechende Abteilung eben jener „Tourismus + Congress GmbH“. Das war vor sechs Jahren. Ich warte heute noch auf eine Rückmeldung. So bleibt mir nur übrig, mit langen Stangen im Nebel der Spekulation herumzustochern.

Tote Tante.

„Lumumba“ heißt nicht überall so. In Norddeutschland ist das Mixgetränk aus Kakao und Rum, gerne mit einer Haube aus Schlagsahne, als „Tote Tante“ bekannt. Auch in Dänemark – Død tante – oder in den Niederlanden – Dode tante – wird es so bezeichnet. Einer Anekdote nach geht der Name auf ein Ereignis zurück, bei der die Asche einer verstorbenen Tante aus Amerika in einer Kakaokiste an den Geburtsort auf der Insel Föhr zurückgekehrt sein soll. Ob das stimmt, ist gar nicht wichtig, weil es lustig ist. Warum es auf vielen anderen deutschen Weihnachtsmärkten so heißt, wie es heißt, ist nicht zu ermitteln, aber es ist ganz und gar nicht lustig, schaut man sich den Namensgeber des Gesöffs an.

Patrice Émery Lumumba.

Der progressiv linke, kongolesische Politiker war drei Monate lang der erste Ministerpräsident des unabhängigen Kongo. Er hatte die belgische Kolonie friedlich in die Unabhängigkeit geführt. Auf der Unabhängigkeitsfeier am 30.06.1960 hielt Lumumba eine Rede, die ihn für jeden Kongolesen unvergesslich macht:

„Wir haben Spott, Beschimpfungen und Schläge ertragen müssen, morgens, mittags und abends, nur weil wir N**** waren. Wir haben erfahren müssen, dass uns Land geraubt wurde, im Namen vorgeblich legaler Dokumente, die lediglich das Recht des Stärkeren zur Geltung brachten. Wir haben gesehen, dass das Gesetz für Schwarze und Weiße nicht gleich ist, bequem für Letztere, grausam und unmenschlich für Erstere. Wer wird je die Massaker vergessen, in denen so viele unserer Geschwister umgekommen sind, die Zellen, in die jene geworfen wurden, die sich weigerten, sich einem Regime der Unterdrückung und Ausbeutung zu unterwerfen?“

Da das Land reich an Bodenschätzen ist, gefiel das der ehemaligen Kolonialmacht ganz und gar nicht. Denn Lumumba wollte alle Ressourcen verstaatlichen und so das Land aus der kolonial verursachten Armut befreien. Lumumba machte den entscheidenden Fehler, die belgischen Offiziere der Streitkräfte nicht zu entlassen, sondern darüberhinaus auch noch mit den Belgiern einen Vertrag zu schließen, der es der ehemaligen Kolonialmacht gestatte, zwei Stützpunkte im Land zu behalten. Daraufhin meuterten die Soldaten der „Force Publique,“ denn Kongolesen war der Zugang zum Offiziersrang verwehrt. Es kam zu Pogromen gegen die belgischen Zivilisten, die sich noch im Land befanden. Die öffentliche Ordnung brach in weiten Teilen des Staatsgebietes zusammen. Als hätte man nur darauf gewartet, ließen die Belgier nun ihre 10000 Soldaten aus den Stützpunkten ausrücken, was zunächst von Lumumba akzeptiert wurde, obwohl das ein klarer Bruch des Stationierungsabkommens war. Doch die belgischen Truppen begnügten sich nicht damit, ihre Landsleute zu schützen, sondern übernahmen de facto wieder das Staatsgebiet, vor allem die Provinzen, in denen die Bodenschätze lagen. Die Situation eskalierte. Die UN wurde angerufen, die daraufhin Blauhelme schickte. Aber, wie so oft, waren diese Blauhelme zahnlose Tiger. Lumumba sah die territoriale Integrität des Landes gefährdet und suchte sein Heil bei Chruschtschow, was die USA auf einem der Höhepunkte des kalten Krieges als feindlichen Akt ansahen. Schließlich bezog die amerikanische Atomwaffenindustrie ein Großteil des benötigten Urans und Cobalts aus dem Kongo. Die belgische Regierung setzte mit Hilfe der CIA die Sezession des Landes um. Lumumba wurde gestürzt, verhaftet und im Januar 1961 von einem Erschießungskommando hingerichtet.

Solches Vorgehen war damals üblich. Die Geschichte der CIA-Plots ist voll davon, vom Iran über Chile und Nicaragua bis hin zu Panama. Aber das nur am Rande bemerkt.

Warum Lumumba?

Es ist nicht klar, wieso ausgerechnet die Deutschen ein völlig überzuckertes Heißgetränk nach einem toten kongolesischen Politiker benennen, und das nahezu ausschließlich auf den 2283 Weihnachtsmärkten zwischen Flensburg und der Zugspitze. Das Getränk erfreut sich außerhalb der Weihnachtsmarktsaison keiner wirklich großen Beliebtheit. Man stößt bei der Recherche auf verschiedene Gerüchte. Eines dieser Gerüchte besagt, dass die Bezeichnung aus dem Spanien Francos stammen könnte. Was Franco allerdings damit zu tun haben sollte, erschließt sich mir nicht. Fakt ist jedenfalls, dass im vergangenen Advent ungefähr 80000 Lumumbas über die Tresen gingen. Dass schätzungsweise vielleicht 0,5% der Zecher wussten, was es mit dem Namen auf sich hat, ist bei der grassierenden Unbildung in Deutschland nicht überraschend.

Warum nicht mehr Lumumba?

Ob der Name ursprünglich dem Gedächtnis des sozialistischen Politikers Patrice Lumumba gilt oder einer Verspottung des Menschen, darüber streiten sich die Geister, die Zeit dafür haben, sich darüber Gedanken zu machen. Es handelt sich meiner Meinung nach bei diesen Geistern vor allem wohl um Absolventen der 173 Lehrstühle für Genderstudies und Forschende der Fachrichtung Postkoloniale Studien, die wir an deutschen Universitäten unterhalten. Irgendwas müssen die ja auch das ganze Jahr über machen. Da kam Ditfurths Vorstoß gerade recht. Dass man sich letztendlich dafür entschieden hat, die Zuschreibung als rassistischen Spott zu verstehen und nicht die erste Möglichkeit wenigstens in Erwägung gezogen hat, muss bei der Obsession in Bezug auf Rassismus und Aufarbeitung der Kolonialgeschichte nicht wundern. Die Verantwortlichen müssten eigentlich vor Dankbarkeit auf die Knie sinken, denn ohne den „Lumumba“ hätten sie vielleicht dieses Jahr gar nichts gefunden, was es auf einem Weihnachtsmarkt im Sinne der Aufarbeitung der kolonial-rassistischen Vergangenheit des Westens gibt. Obwohl, möglicherweise ist uns durch die „Lumumba-Affäre“ der Vorschlag erspart geblieben, einen Weihnachtsmarkt nicht mehr Weihnachtsmarkt zu nennen, sondern vielleicht „Jahresendmarkt,“ oder „‚Wir-saufen-uns-die-Hucke-voll-Festung.'“ Das könnte uns dann nächstes Jahr blühen, wenn die Forschenden die Axt mal richtig an unsere strukturell-rassistischen Feiertage legen und nicht nur so halbherzig mit dem Namen eines Getränks rumspielen. Damit wäre dann endlich auch die rassistisch-koloniale Konnotation des Weihnachtsmarktes – Stichwort Kreuzzüge und so weiter – ausgemerzt. Löblich, so löblich wie die Kindergärten und Grundschulen im ganzen Land, die im Namen der Toleranz und Integration keinen Weihnachtsbaum mehr aufstellen, keine Weihnachtsfeiern mehr veranstalten und Krippenspiele schon mal gar nicht.

Hölle live.

Übrigens: Sollte jemand mal auf die Idee kommen, einen Blick in die Hölle werfen zu wollen, könnte er, nach dem man sich auf dem lumumbafreien Weihnachtsmarkt in Frankfurt die Birne vollgekippt hat, eine Runde durchs Frankfurter Bahnhofsviertel drehen. Es ist sogar empfehlenswert, sich vorher einen erklecklichen Alkoholspiegel anzusaufen, denn nüchtern ist das eigentlich nicht zu ertragen. Sicher, man muss trotzdem äußerste Vorsicht walten lassen, um unversehrt da wieder raus zu kommen. Abzuraten ist all jenen der Besuch, die sonst eher in einer beschaulichen Umgebung ihr Dasein fristen, denn sie könnten für den Rest des Lebens mit einer schweren Traumatisierung zu kämpfen haben, trotz Alkohol. Klar, die „Tourismus + Congress GmbH“ ist für die haarsträubenden Zustände dort nicht verantwortlich. Je höher man im Elfenbeinturm residiert und nach unten schaut, verschwimmt ohnehin alles zu einem undefinierbaren Gewürm an Ereignissen, die aber keinen Einfluss auf das eigene hehre Ziel haben, zumal, wenn man Gedöhnswissenschaften studiert hat. Vielleicht könnte man aber dennoch mal den umgekehrten Weg gehen und nicht auf die Impulse einer Politikerin warten, sondern dieser Politikerin mal stecken, was da so im Bahnhofsviertel abgeht, vor allem was die Zwangsprostitution osteuropäischer Frauen aus den Slums von Chișinău bis Kiew betrifft. Denn das, so möchte man Frau Ditfurth zurufen, ist Menschenverachtung und Rassismus im Hier und Jetzt. Das eine zu fordern, den Namen Lumumbas nicht mehr für das Getränk zu verwenden, und nichts gegen das andere, die menschenunwürdigen Zustände im Frankfurter Bahnhofsviertel, zu tun, ist ein Schattenkrieg, Heuchelei und grenzt an Zynismus.

Alternativen.

In Frankfurt am Main soll man das Getränk als „Kakao mit Schuss“ oder als „Schokolade mit Schuss“ anpreisen. Ob das allerdings so schlau ist, bezweifle ich. Bedenkt man, dass die Bundesinnenministerin vor einer „abstrakt hohen Gefahr von Anschlägen“ auf Weihnachtsmärkten warnt, hätte „Schuss“ dann doch nicht den unverfänglichen Klang, den es haben sollte. Und wäre „Schuss“ angesichts der Tatsache, dass Patrice Lumumba erschossen wurde, nicht völlig unangebracht?

Hier meine Vorschläge:

„Dunkle Wummsplürre“

„Dunkle Doppel-Wummsplürre“

„Ungern Ungarn“ 

„Laterne ganz unten“

„Freude schöner Götterfoffo“

„Toccata mit Fuge.“

Fröhlichen Advent uns allen.

Daniel Anderson: Regiestudium an HFF „Konrad Wolf“ in Babelsberg. Berufsverbot als Filmregisseur in der DDR. Oberspielleiter, Autor und Schauspieler am Theater Senftenberg. Nach dem Mauerfall freier Regisseur, Autor (TV-Serie, Theater, Synchron) und Schriftsteller. Gründer und Leiter der „Theaterbrigade Berlin.“ Anderson lebt in Berlin und immer mal wieder in Tel Aviv.

Andersons Bücher erscheinen im Spiegelberg-Verlag.

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2 Gedanken zu “Unser jährlicher Lumumba;”

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    Ich war 1973 mit einer Delegation der KPD (AO) in Albanien. am Strand von Dürres gab es Cafés, in denen man „Lumumba“ servierte. Wir westdeutschen Maoisten kannten den Namen nicht und waren – wie Frau Ditfurth jetzt, die damals mit uns sympathisierte, und aus den gleichen Gründen – ein wenig pikiert. Ich schätze, der Name ist also ein Ost-Import (da müsste man Ex-DDRler fragen), wie die Betonung des Worts „Festival“ auf der letzten Silbe oder das Ampelmännchen. Und falls es sich um einen Ost-Import handelt, könnte er zugleich antiimperialistisch und rassistisch gemeint sein.

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      Tatsächlich könnte „Lumumba“ ein Ostimport sein. Da ich aus dem Osten komme, erinnere ich mich sehr gut daran, dass das Getränk unter diesem Namen schon in den 70ern auf dem Dresdner Strietzelmarkt ausgeschenkt wurde. Aber die Gegenfrage wäre, ob es vor den „Wende“ genannten Ereignissen auch auf westdeutschen Weihnachtsmärkten Lumumba gab.
      Die Betonung des Wortes „Festival“ auf der letzten Silbe war im Osten nicht durchgängig so. Das variierte regional.

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