Eine Erinnerung an den „Runden Tisch“ und die „DDR-Volkskammer“
Dreißig Jahre nach dem Mauerfall und der Vereinigung beider deutscher Staaten werden zwei Beschlüsse von DDR-Bürgerrechtlern, die Einladung verfolgter sowjetischer Juden (12. Februar 1990) und das Bekenntnis zur Verantwortung und Haftung für die Naziverbrechen (12. April 1990), nur schlecht erinnert. Sie bilden jedoch das Herzstück der demokratischen Kultur der neuen Bundesrepublik.
Die Erfolge der „nachholenden Revolution“ (Jürgen Habermas) in der DDR bestehen im Sturz der Diktatur, der Souveränität des deutschen Nationalstaats und der Anerkennung der Verfassung der alten Bundesrepublik für die fünf neuen Bundesländer.
Anders aber als oft behauptet, wurde während der friedlichen Revolution kein nationaler sondern ein postnationaler Gründungsgeist artikuliert, in dessen Zentrum Verantwortung und Haftung für die deutschen Verbrechen im Nationalsozialismus und Solidarität mit ihren Opfern stehen.
Diese Basiserzählung einer demokratischen Kultur des vereinigten deutschen Gemeinwesens, Habermas spricht von einem „Verfassungspatriotismus“, konnte sich nur wegen und nach Auschwitz mühsam gegen drei heute immer noch einflussreiche deutsche Opfernarrative durchsetzen.
„Runder Tisch“
Der Zusammenbruch der SED-Diktatur, der Fall der Mauer und die Vereinigung beider deutscher Staaten durchliefen verschiedene Stadien. Am Beginn der spektakulären Massenfluchten und der Demonstrationen in der DDR, im Sommer und Herbst 1989, stand nicht fest, ob es überhaupt zu einer Vereinigung kommen würde.
Erst am 10. Februar 1990, als Bundeskanzler Helmut Kohl in Moskau von Michail Gorbatschow überraschend die Zusicherung erhielt, die Sowjetunion würde sich einem deutschen Vereinigungswunsch nicht widersetzen, wurde sie zur realistischen Option. DDR-Bürgerrechtler und zum ersten Mal frei gewählte Abgeordnete der DDR-„Volkskammer“ trafen in der Folge zwei selten wahrgenommene Entscheidungen, mit denen sie den neuen Geist der Republik signalisierten.
Der „Runde Tisch“, dort verhandelten nach polnischem Vorbild seit Dezember 1989 Bürgerrechtler sowie Abgesandte der SED und der Blockparteien über politische Reformen, beschloss am 12. Februar 1990 einstimmig, die Regierung aufzufordern, in der Sowjetunion verfolgte Juden aufzunehmen. Der Antrag wurde vom „Jüdischen Kulturverein“ eingereicht, einem 1985 gebildeten Kreis oppositioneller jüdischer Überlebender, Autoren, Wissenschaftler und Künstler.
Im Beschluss hieß es, da bei der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden durch Deutsche „die ganze Welt zugesehen“ habe, riefe man jetzt auf, „die deutsche Schmach der Vergangenheit nicht zu wiederholen.“ Ein talmudisches Gesetz sage, „alle Gesetze“ müssten „gebrochen werden, wenn ein Leben gerettet werden“ könne. Der Beschluss wurde von der amtierenden DDR-Regierung angenommen. Man begann sowjetische Juden in der DDR aufzunehmen.
DDR-Volkskammer
Die ersten freien Parlamentswahlen in der DDR am 18. März 1990 bescherten den Parteien eine deutliche Mehrheit, die sich für eine rasche Vereinigung mit der Bundesrepublik aussprachen. In der zweiten Sitzung der „Volkskammer“, am 12. April 1990, verabschiedeten die neu gewählten Parlamentarier ohne Gegenstimme, bei nur 21 Enthaltungen, eine „Gemeinsame Erklärung“, die weiter ging als der Beschluss des „Runden Tischs“.
Bürgerrechtler Konrad Weiß, Leitungsmitglied der protestantischen „Aktion Sühnezeichen“ und Mit-Gründer der Bürgerrechtsgruppe „Demokratie Jetzt“ formulierte die Erklärung wesentlich. Die Volkskammerabgeordneten bekannten, man übernehme – das hatte die DDR nie getan – Verantwortung und materielle Haftung für die Vernichtung der europäischen Juden. Sie entschuldigten sich für die antijüdische und antiisraelische Politik der DDR und versprachen jüdisches Leben in Zukunft zu fördern, verfolgten Juden generell Asyl zu gewähren und diplomatische Beziehungen zum Staat Israel aufzubauen. Die Abgeordneten übernahmen auch Verantwortung für den Völkermord an den Sinti und Roma. Sie entschuldigten sich für die Mithilfe der DDR bei der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ und sicherten Polen zu, seine Grenzen auch bei einer Vereinigung der deutschen Staaten nicht anzutasten. Bei der UdSSR bedankte man sich für Glasnost-Reformpolitik und die Inspiration, die sie für Reformbewegungen in Osteuropa und der DDR bildete. Man versprach, der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion sei nicht vergessen und sicherte zu, gemeinsam an einem europäischen Sicherheitssystem arbeiten zu wollen.
„Wiedervereinigung“?
Nur wer sich vom Begriff einer „Wiedervereinigung“ löst, versteht, dass beide Ereignisse, obwohl sie in Dokumentationen und Werken zur deutschen Zeitgeschichte nur selten erwähnt werden, keineswegs Randereignisse waren. Die vielen verschiedenen Architekten der neuen Bundesrepublik haben ihnen einen bedeutenderen Platz zugewiesen.
So wie die neue Bundesrepublik heute territorial, politisch, sozial, ökonomisch und in ihrem Bündnis mit den westlichen Demokratien verfasst ist, hat sie vorher nie existiert. Das gilt auch für den Geist ihrer Verfassung, wie er u. a. in den beiden Entscheidungen von „Rundem Tisch“ und „Volkskammer“ niedergelegt wurde.
Der Einladung an sowjetische Juden folgten bis heute etwa 220.000 Menschen. Jüdisches Leben ist damit in der vereinigten Bundesrepublik neu aufgeblüht. Zwar wurde die Einladung nach ihrer Annahme durch die im März 1990 gewählte DDR-Regierung nicht in den Einigungsvertrag vom August 1990 übernommen. Aber die erste Sitzung aller Innenminister der vereinigten Bundesrepublik beschloss am 9. Januar 1991 die Aufnahme der sowjetischen Juden. Allerdings wurde ihr Status als „Kontingentflüchtlinge“ festgelegt, was viele ihrer sozialen Rechte, zum Beispiel die Renten, gegenüber deutschen Staatsbürgern erheblich mindert.
Dennoch schrieb eine der Bürgerrechtlerinnen, die sich für den Beschluss und seine Umsetzung stark macht, Anetta Kahane, 2004 in ihrer Autobiografie, es wäre für sie „eine unerträgliche Niederlage gewesen, den Juden sagen zu müssen, dass sie vor dem Antisemitismus nicht mehr nach Deutschland fliehen konnten, weil dies bei der Einheit im Land des Holocaust nicht vorgesehen“ wurde. Kahane macht sich heute mit anderen für die sozialrechtliche Gleichstellung der Eingewanderten mit deutschen Staatsbürgern stark.
Die Erklärung der DDR-Volkskammer vom 12. April schaffte es auch nicht in den Einigungsvertrag vom August 1990. Sie wurde von den Parlamentariern der DDR und der alten BRD, dem Vertrag jedoch als Begleitmaterial, als Interpretationshilfe beigefügt. Über den Geist, dem eine zukünftige Republik verpflichtet sein solle, heißt es da: „Durch Deutsche ist während der Zeit des Nationalsozialismus den Völkern der Welt unermessliches Leid zugefügt worden. Nationalismus und Rassenwahn führten zum Völkermord, insbesondere an den Juden aus allen europäischen Ländern, an den Völkern der Sowjetunion, am polnischen Volk und am Volk der Sinti und Roma. Diese Schuld darf niemals vergessen werden. Aus ihr wollen wir unsere Verantwortung für die Zukunft ableiten.“
Neugründung mit Herausforderungen
Bei der Vereinigung beider deutscher Staaten wurde so ein neues Gemeinwesen geschaffen, aus dem die Entscheidungen des „Runden Tischs“ und der DDR-„Volkskammer“ nicht herausgelöst werden können. Die Neugründung der Bundesrepublik 1989/90 stellt einen wichtigen Schritt bei der Demokratisierung und Zivilisierung Deutschlands nach dem Nationalsozialismus dar.
Wie neu diese Republik seit 1989/90 ist, wird deutlich, wenn man den Blick einige Jahrzehnte zurück lenkt. Als die alliierten Armeen Europa und dabei auch Deutschland vom Nationalsozialismus befreiten, sah die Mehrheit der Deutschen das keineswegs als „Befreiung“. Beide deutsche Nachkriegsgesellschaften verschanzten sich mehrheitlich hinter Opfer-Erzählungen, mit denen Verantwortung und Haftung der Deutschen für die NS-Verbrechen sowie Mitgefühl und Unterstützung für die Opfer des Nationalsozialismus abgewehrt wurden.
Der alten Bundesrepublik war von den westlichen Alliierten eine parlamentarische Demokratie geschenkt worden. Zu Beginn der 50er Jahre begann sie, zunächst nur wirtschaftlich, die Gesellschaft der Shoa-Überlebenden, Israel, zu unterstützen. Deutsche Politik und Gesellschaft verschanzten sich aber bis Ende der 60er Jahre hinter der Erzählung, Deutsche seien zunächst von einem totalitären System missbraucht worden und nach Hitlers Ende durch Vertreibung, Teilung und Errichtung der SED-Diktatur erneut Opfer, nun des sowjetischen Totalitarismus geworden. Diese Opfererzählung setzte das Leiden der Opfer des Nationalsozialismus mit dem Leiden der deutschen Vertriebenen und der Deutschen unter der SED-Diktatur gleich. Bis sich demgegenüber Haltungen durchsetzen konnten, die vor allem das Leid von Juden, Polen, Russen, Sinti- und Roma und viele andere Opfer des deutschen Zivilisationsbruchs reklamierten und dass man ihnen deshalb auch etwas schuldig sei, dauerte es, lange. Erst 1988 sprach der Soziologe Rainer M. Lepsius von einer beginnenden „Internalisierung“ deutscher Schuld bei größeren Teilen der Gesellschaft.
Die Geschichte der untergegangenen DDR lässt sich bis zu ihrem Ende als die eines „verordneten Antifaschismus“ darstellen. Mit Hilfe der sowjetischen Alliierten setzten deutsche Kommunisten keine demokratische Verfassung ein. Die Basiserzählung des Staates bildete ebenfalls ein deutsches Opfernarrativ. Der Faschismus wurde hier wesentlich als kapitalistisches Regime gedeutet, dessen Hauptopfer die von den großen Konzernen missbrauchten deutschen Arbeiter waren. Das deutsche Proletariat wurde nach dem Ende des Krieges erneut Opfer eines aggressiven Imperialismus, der Deutschland spaltete und die Arbeiterklasse in der BRD kolonisierte. Lediglich in der DDR, so die Erzählung, war man vom Kapitalismus befreit und kämpfte nun gegen Faschismus, vor allem in der BRD, USA und Israel. Kriege zur Zerstörung Israels unterstützte die DDR seit 1967 auch militärisch. Der Historiker Robert Wistrich spricht von einer „Holocaust-Inversion“, die die früheren Opfer und Befreier der Deutschen mit den Nazis gleichsetzte.
Diese beiden deutschen Opfernarrationen wurden mit der Neugründung der Republik und den beiden Entscheidungen des „Runden Tischs“ und der „Volkskammer“ ad acta gelegt. Allerdings ist die westdeutsch-deutsche „Selbstviktimisierung“ (Katrin Hammerstein) in der CDU/CSU immer noch weit verbreitet, die ostdeutsch-deutsche findet sich in der Partei „Die Linke“, wie auch bei vielen Linksradikalen.
Auch eine dritte deutsche Opfererzählung, die trotz Entnazifizierung und Demokratisierung in der Bundesrepublik nie verschwand und heute mit dem Aufstieg der Partei „Alternative für Deutschland“ bis in der Mitte der Gesellschaft Unterstützung findet, ist mit der Neugründung der Weg verstellt. Sie wurde von alten Nationalsozialisten und der „Neuen Rechten“ seit 1945 in Umlauf gebracht und bildet heute den Kern der geschichtspolitischen Propaganda der AfD. Folgt man dieser Erzählung dann wurde die Würde der deutschen Nation durch die „Nürnberger Prozesse“ und eine auf die Shoa fokussierte Erzählung deutscher Geschichte zerstört. Darüber hinaus wird angeblich der Bestand des deutschen Volkes durch Einwanderer, Flüchtlinge, Multikulti-Ideen, einen großen „Bevölkerungsaustausch“, zerstört. Als Auslöser beider Formen der Zerstörungen werden Juden und Amerikaner imaginiert. Dieses deutsch-völkische Opfernarrativ artikuliert sich auch durch Vertreibungsterror gegen Linke, Juden, Einwanderer, Obdachlose und andere. Ihm sind seit dem 3. Oktober 1990, so die Amadeu Antonio Stiftung, fast 200 Menschen zum Opfer gefallen.
Dreißig Jahre nach dem Mauerfall und der Neugründung der Bundesrepublik gibt es gute Gründe die beiden Entscheidungen des „Runden Tischs“ und der DDR-Volkskammer deutlicher als bisher herauszustellen. Das ist nicht nur eine Aufgabe für Historiker. Sie artikulieren die demokratische Essenz der Selbstbefreiung von völkischem Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus in Deutschland, die erst nach der militärischen Befreiung durch die alliierten Armeen begann. Sie ist bis heute nicht abgeschlossen.
Lieber Herr Taylor,
beide Entscheidungen, die des Runden Tisches und die der DDR-Volkskammer sind Teil der neugegründeten Bundesrepublik. Im Januar 1991 beschlossen bei der ersten Sitzung der Innenminister der vereinigten Bundesrepublik die Versammelten, dass die Einladung des Runden Tisches übernommen würde. Die Juden aus der Sowjetunion wurden zwar nur als „Kontingentflüchtlinge aufgenommen, aber sie wurden aufgenommen. Die Entscheidung der DDR-Volkskammer wurde zwar nicht Teil des Einigungsvertrages, sie wurde ihm aber als Begleitmaterial, gewissermaßen als Interpretationshilfe, beigefügt. Damit ist auch diese Entscheidung Teil des Einigungsprozesses. Beide Entscheidungen haben damit nicht nur Bedeutung für die untergegangene DDR, sondern auch für die neu vereinigte Bundesrepublik.
Mit freundlichen Grüßen
Martin Jander
Sehr geehrter Herr Jander,
ich habe eine sachliche Nachfrage, denn wie Sie korrekt den Begriff „Wiedereinigung“ in Frage stellen, liegt darin begruendet doch auch der Makel, den Sie mit Recht benennen.
Es bestanden nach meiner Erinnerung zwei Moeglichkeiten die deutsche Einheit wiederzuerlangen, einmal gemaess Art. 23 GG durch den schlichten Beitritt zum Rechtsraum der Bundesrepublik Deutschland und alternativ dazu gemaess Art. 146 GG, was dann eine neue Verfassung und damit eine neue Staatsgruendung induziert haette.
Bedingt durch die Wahl dieses Verfahren gemaess Art. 23 GG entstanden Unschaerfen (sage ich einmal hoeflich), die in der Folge viele Probleme schufen, aber im Zusammenhang mit der Realisierung des Zwei-Plus-Vier-Vertrages zu sehen sind. Souveraen fuer die Beitrittserklaerung war das Land erst am 15. Maerz 1991, der Einigungsvertrag trat bereits am 29. September 1990 in Kraft, also vor der Souveraenitaet.
Ich moechte nun die damals handelnden Personen nicht in Schutz nehmen, aber faktisch sehe ich kaum Moeglichkeiten, alle Wuensche in einen Beitrittsvertrag (keine Wiedervereinigung, da haben Sie recht) aufzunehmen, der unter dem Vorbehalt der Erlangung der Souveraenitaet steht.
Das die von Ihnen aufgeworfene Fragestellung elementar ist, dies besonderes nach dem aufkeimen einer Partei wie der AfD, ist unbestritten und gehoert geloest. Der Weg ist entscheidend und hier ist mein vorsichtiger Einwand, dass eine Rückwendung zu einem Beschluss der Volkskammer oder eines Runden Tisches nichts bringt, weil diese Moeglichkeit in der Vergangenheit liegt und nicht genutzt wurde oder genutzt werden konnte. Es bedarf eines neuen Ansatzes ohne den verpassten zu bedauern.
Mit freundlichen Gruessen
James Taylor