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Die Abenteuer meines Urgroßvaters Joseph Samuel (3): Von Liverpool nach New Orleans

Im Mai 1840 ist der mittellose jüdische Schneidergeselle Joseph Samuel aus der preußischen Provinz Posen (daher „Posener“) nach England aufgebrochen. 

Ich bin bereits neun Monate hier, und habe kaum mein Reisegeld zusammen, jedoch hatte ich das Glükk mir 2 Pfund Sterling zu sparen, welche ich heute den 15ten April 1841 an meine Eltern sende. Wie glükklich werden sie sein, wenn sie diesen Beweis meiner Zährtlichkeit sehen werden und wie froh und glüklich bin ich selbst fürs erste mahl seitdem ich vort bin meine Eltern ein wenig unterstützen zu können. Ich hoffe der Allmächtige Gott wird mir helfen solches für immer prakziziren zu können.

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Die Abenteuer meines Urgroßvaters Joseph Samuel (2): von Berlin nach Liverpool

Der zweite Teil des Tagebuchs, das mein Urgroßvater Joseph Samuel, der sich später Posener nennen musste, über seine Auswanderung aus und Rückkehr nach Preußen führte.

Den 10ten May 1840 bin ich in Berlin angelangt. Mein böser Fuss ist die Ursache, dass ich die Stadt nicht sehen kann!
Den 16ten habe ich Berlin verlassen und komme den 19ten in Hamburg an, ich muss all mein bisschen Geld für die Seereise nach England anwenden, nicht allein das Geld, sondern auch eine alte Uhr, welche mir mein Schwager Wolf zum Andenken gegeben hat, habe ich verkaufen müssen, um das ganze Reisegeld zusammen zu machen.
Den 24ten dieses, bin ich in Hull (England) angelangt. Wir waren 3 Tage zur See und wir hatten sehr schlechtes Wetter, obgleich ich das Wetter gar nicht gesehen habe, indem ich alle 3 Tage sehr seekrank war und habe viel Übel und Schmerzen daran gefunden; wir kamen in Hull des Nachts an, und mein ganzes Vermögen (musste ch ausgeben, um) die erste Nacht mein Logie (zu bezahlen). Nun jetzt bin ich in der grossen weiten Welt, ich verstehe kein Wort von der Sprache, und es fängt mich zu hungern. Ich kann keine Arbeit finden, obgleich ich mir solche viele Mühe gegeben habe um solche zu suchen. Der liebe Gott weiss, wie es mir gehen wird. Mein Reisekamerad Wolf Lippmann ist auch schon in (unleserlich), er schreibt aber heute an seinen Bruder, wo er hofft, etwas Geld geschikt zu bekommen. Er ist sehr gut für mich, und hat mir versprochen Wortzuhalten.

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Die Abenteuer meines Urgroßvaters Joseph Samuel aus Wirsitz (1)

Mein Urgroßvater väterlicherseits, ein Ostjude aus der damals preußischen Provinz Posen, heute Großpolen, hinterließ ein Tagebuch. Es beschreibt, wie er 1840 als armer Schneidergeselle aus seinem Dorf Wirsitz bei Schneidemühl aufbricht, um zuerst in Großbritannien, dann den USA, schließlich Brasilien sein Glück zu machen, und wie er 1856 als wohlhabender Mann in seine Heimat – nach Berlin allerdings, nicht Wirsitz – zurückkehrt. Joseph war also das, was man heute abschätzig einen Wirtschaftsflüchtling nennen würde. Ich werde das Tagebuch hier abschnittsweise veröffentlichen und gegebenenfalls kommentieren. Es ist ein Dokument des jüdischen Aufstiegswillens. Original-Orthografie und Grammatik sind beibehalten. Joseph war kein gebildeter Mann.

Es ist ein jeden Menschen seine Schuldigkeit, der Gesellschaft eine klare Rechnung seiner
Thaten, Handel und Gewerbe zu geben. Der Mensch ist nicht allein dieses an der Gesellschaft
schuldig, sondern sich selbst und seinen Eltern. Wenigstens ist dieses mein Vorsatz, das wenn ich
mein Geburts-Ort verlassen soll, alle meine Thaten, Gute oder Schlechte (welches ich zu Gott
bitte, mich nur zur Besten zu leiten) in diesem kleinen Heft nieder zu schreiben, um das wenn ich
einst durch einen Unglücksfall sterben sollte (indem ich den Allmächtigen Schöpfer anflehe diesen
großen Grahm nicht so bald meinen guten Eltern zuzufügen) wie oben gesagt, wenn mich der
große Gott so hoch strafen sollte, auf meinen Reisen umzukommen, dass wenigstens meine
Eltern über mich urtheilen können.

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Das Jagger-Richards-Songbuch (16): The Singer Not the Song

Mein alter Freund Paul Badde schrieb im Vorwort zu „Ohne Filter„, der Autobiographie von Bernie Conrads, dieser Song sei „Stuss“. Das hat meinen berüchtigten Widerspruchsgeist provoziert; außerdem habe ich, ohne je besonders auf den Text zu achten, diesen Song immer geliebt und schon als 15-Jähriger mit meiner Schulband gesungen.

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Dem Zynismus eine Gasse oder ein Gassenhauer: „You Like Me Too Much“

Als Beatle-Fan war „Help“ für mich eine Enttäuschung, wie schon „Beatles For Sale“. Die Beatles wirkten auf beiden Alben abgekämpft und einfallslos. Andere Bands wie die Rolling Stones, Kinks, Pretty Things, Byrds waren musikalisch aufregender; Bob Dylan zeigte, was man alles an Text in einem Rocksong unterbringen konnte, aber die Beatles …

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Der anachronistische Zug (frei nach Bertolt Brecht)

Sommer wurd‘s in deutschem Land
An Unis und am Badestrand
Wurde wieder Haut gezeigt
Nebenbei Hamas geliked

Denn vom Süden, dem globalen
Bewegte sich von Postkolonialen
Ein modischer und schicker Zug
Der eine alte Losung trug

Miniröcke, Palli-Tücher
Gucci-Taschen, Butlers Bücher
Und man rief so etwas wie:
From the River to the Sea

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Das Jagger-Richards-Songbuch (15): Memory Motel

Songs mit Hotels spielen in der Rockmusik eine große Rolle, was nicht verwunderlich ist, weil Rockmusiker notgedrungen viel Zeit in Hotels verbringen. Wenn sie Glück haben. Ich erinnere mich an eine Tournee mit der „Berlin Blues Band“, wo wir – vermutlich aus Versehen – angeheuert wurden, in einem Sylter Puff zu spielen und anschließend in den vakanten Fickkabinen übernachten mussten … andere Geschichte.

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„Let It Be“: Ein Song gegen den Strom der Zeit

Es gehörte schon Chuzpe dazu, der aufgewühlten post-68er Jugend „Let It Be“ als Abschiedssingle zuzumuten. Ein Song, der allem Aufbegehren gegen „times of trouble“, und „darkness“ eine Absage erteilt und der Weisheit der „Mother Mary“ vertraut: Lass gut sein, es wird schon.

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„The Weight“ von The Band: Das Gewicht der Sünde und der Erlösung

Dies ist ein prätentiöser Song, geben wir es zu. Und trotzdem ziemlich gut. Die Musik sowieso, diese Mischung aus Country und Gospel, aber hier geht es um den Text. Der Komponist Robbie Robertson meinte, der sei von den Filmen Luis Bunuels inspiriert worden; es gehe um die Unmöglichkeit, ein Heiliger zu sein.

Womit ein weiteres Mal bewiesen ist, wenn es dieses Beweises noch bedürfte, dass die Dichter die Letzten sind, die man befragen soll, wenn man wissen will, was ein Gedicht „bedeutet“. Denn wo ein Gedicht „herkommt“ (wer zum Beispiel all die Leute sind, die im Song vorkommen, welche Bilder Robertson im Kopf hatte, als er frei assoziierend und vermutlich mit Hilfe diverser bewusstseinsverändernder Substanzen den Text festhielt), ist weniger wichtig als die Frage, wohin wir mit dem Song gehen können.

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Der Krieg gegen Israel ist die Fortsetzung des Holocausts

Vortrag, gehalten vor der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V., Sektion Bremen, 11. April 2024

Beginnen wir mit der humanitären Krise, die einem das Herz zerreißen muss. Allein im Flüchtlingslager Zamzam verhungern pro Stunde zwei Kinder. Hunderttausende Kinder werden, innerhalb des kommenden Jahres sterben. Nach Einschätzung der Vereinten Nationen, die ihre Hilfsoperationen wegen der unsicheren Lage einstellen musste, sind 18 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht.

Moment: 18 Millionen? Dann kann nicht Gaza gemeint sein, wo überhaupt nur zwei Millionen Menschen leben. Nein. Wir reden vom Sudan. Das Massensterben dort ist Folge eines Machtkampfs und eines Bürgerkriegs, vor allem aber Folge einer Politik der ethnischen Säuberung und des Einsatzes von Hunger als Waffe in der Provinz Darfur. Und wie reagiert die internationale Gemeinschaft? Die Weltöffentlichkeit? Gibt es Beschlüsse des Sicherheitsrats? Anklagen vor dem Weltgerichtshof? Jetten die Außenminister der USA und der EU hin und her, um ein Ende der Gewalt zu vermitteln? Richten die USA eine humanitäre Luftbrücke ein? Ist die Bundeswehr vor Ort, um die Lebensmittelverteilung zu schützen? Vor allem aber: Gibt es an westlichen Universitäten täglich Demonstrationen? Organisieren Intellektuelle Petitionen, bekunden ihre Betroffenheit und Empörung? Schreiben sich Leitartikler die Finger wund?

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Neid und Missgunst

Ich habe bereits meinem Ärger über den plumpen Professoren-Humor in der Biografie des Kaisers Friedrich II von Olaf B. Rader Luft gemacht. Diese dröge Lebensbeschreibung, die aus unerfindlichen Gründen als Standardwerk gilt, verglich ich mit der funkelnden Biografie von Ernst Kantorowicz. Wie es scheint, ist sich Rader des Unterschieds in der schriftstellerischen Potenz bewusst und grenzt sich von Kantorowicz ab – in einer Art jedoch, die jede Fairness vermissen lässt.

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