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Linke Antisemiten: Zur „Kritischen Theorie des Zionismus“

Obwohl Linke nach eigenem Selbstverständnis Antirassisten und Internationalisten sind, also „gar nicht antisemitisch sein können“, gab es innerhalb der Linken immer schon eine starke antisemitische Strömung.

Die Traditionslinie reicht von Karl Marx, der den Wucher als Wesen des Judentums ausmachte und die kapitalistische Gesellschaft darum als „jüdisch“ bezeichnete – eine nicht sehr originelle Idee, die er von Martin Luther geklaut hatte – über die 68er, deren antisemitisch-antizionistische Verstrickungen etwa Götz Aly und Wolfgang Kraushaar bloßgelegt haben, bis hin zu Teilen der Linkspartei, der Grünen und der SPD in unseren Tagen.

Besonders Henryk Broder hat – beginnend mit seiner Kampfschrift gegen „Linke Tabus“ schon 1976 – den Antisemitismus der so genannten „Neuen Linken“ immer wieder angegriffen und gezeigt, dass der Antizionismus eine – vielleicht die gegenwärtig bedrohlichste – Form des Antisemitismus darstellt. Auch dafür hat ihm die Deutsch-Israelische Gesellschaft 2011 mit ihrem „Ehrenpreis“ ausgezeichnet; was in meinen Augen die DIG – deren Ortsgruppen oft eher ein betulicher Honoratiorenverein sind als ein aktiver Anwalt Israels in Deutschland – sehr aufgewertet hat.

Umso erstaunter war ich, als ich auf der Internetseite der Hochschulgruppe der DIG in Rostock die Ankündigung eines Schulungsseminars entdeckte, bei dem es um die Aneignung einer „kritischen Theorie des Zionismus“ geht; also um die Kritik des Zionismus:

 

http://dighochschulgruppe.wordpress.com/2013/05/21/kritik-des-antisemitismus-kritische-theorie-des-zionismus/

 

Wer sich durch das Elaborat quält, stellt fest, dass es sich um eine Zusammenfassung der Theorie der „Antideutschen“ (mit denen ich mich gelegentlich auch hier befasst habe, so etwa im Beitrag „Bahamas goes Bananas“) zu Israel handelt. Die Antideutschen haben nicht nur einige Orts- und Hochschulgruppen der DIG gekapert und zu Schulungs- und Agitationsplattformen umfunktioniert; sie beziehen sich zuweilen auch auf den DIG-Preisträger Henryk Broder, völlig zu Unrecht; denn obwohl sich die Sekte dezidiert, ja geradezu martialisch pro-israelisch gibt, stellt sie in Wirklichkeit nur eine neue Verkleidung jenes „beständigen Gefühls“ (Broder) dar: eine neue Ausprägung des Antizionismus, also des Antisemitismus. Schauen wir, wie Stephan Grigat seine „kritische Theorie des Zionismus ableitet“:

 

„Soll der Antisemitismus nicht als ein bloßes Vorurteil verharmlost werden, sondern im ideologiekritischen Sinne als wahnhafte Projektion dechiffriert werden, so gilt es, sich den Begriff der „antisemitischen Gesellschaft“ zu vergegenwärtigen, der von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer entwickelt wurde. Was sind die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die beschädigten Subjekte sich immer wieder für das Ausagieren des antisemitischen Hasses entscheiden? Und inwiefern kann angesichts eines fremdbestimmten gesellschaftlichen Daseins überhaupt von einer freien Entscheidung gesprochen werden?“

 

Das ist der Kern der antideutschen Ideologie: Im Verblendungszusammenhang kann der einzelne nichts für seinen Antisemitismus, für den er sich ja nicht frei entscheiden kann. Er ist nicht ein „Ressentiment“, wie Broder das beschrieb, sondern nur ein Symptom. Die Gesellschaft ist schuld, die Subjekte sind „beschädigt“. Erst andere „gesellschaftliche Bedingungen“, also eine andere Gesellschaft, würde keinen Antisemitismus mehr hervorbringen.

Eine nicht sehr originelle Idee, der alle Linke huldigen: Um das „falsche Bewusstsein“ aufzuheben – Religion, Nationalismus, Egoismus, Misogynie, you name it – muss die Gesellschaft „aufgehoben“ werden.

In der Praxis bedeutet das: die Antideutschen müssen überall „Antisemiten“ entdecken, um zu beweisen, dass es sich in Deutschland tatsächlich um eine „antisemitische Gesellschaft“ im Sinne ihrer Hausheiligen Adorno und Horkheimer handelt. Da ganz gewöhnliche Antisemiten ein wenig rar geworden sind, obwohl nicht so rar, wie manche meinen, verfielen die Antideutschen vor etwa zehn Jahren auf den Clou, den Antizionismus anzugreifen. Ihr Prozionismus ist also nur eine Verkleidung; es geht ihnen eigentlich und immer nur darum, das Vorhandensein der „antisemitischen Gesellschaft“ und damit die Notwendigkeit einer Fundamentalrevolution nachzuweisen.

 

Doch damit kommen die Antideutschen wiederum in theoretische Schwierigkeiten.

 

„Der Zionismus ist die unmittelbare Antwort sowohl auf den europäischen als auch auf den arabischen und islamischen Antisemitismus. In ihm existiert zwangsläufig ein Spannungsverhältnis zwischen universalistischem Emanzipationsanspruch und notwendigerweise partikularer Organisation in Form eines Nationalstaates. Wie ist der Zionismus als nationale Befreiungsbewegung der Juden und Jüdinnen vor dem Hintergrund einer kritischen Theorie der Gesellschaft zu begreifen?“

 

Nun, „vor dem Hintergrund“ der Kritischen Theorie ist der Zionismus gar nicht zu begreifen. Er ist eben nicht die „unmittelbare Antwort“ auf den europäischen (und schon gar nicht auf den „arabischen und islamischen“) Antisemitismus, und er ist auch keine „nationale Befreiungsbewegung“.

Der Zionismus hat eine lange Geschichte, die Jahrhunderte zurückreicht. Immer wieder sind Juden – aus religiöser Sehnsucht heraus – nach Zion aufgebrochen. Jerusalem war unter den Osmanen eine Stadt, deren Bevölkerung mehrheitlich jüdisch war. Der moderne Zionismus Theodor Herzls war viel mehr als eine Antwort auf den Antisemitismus. Er war eine Kritik an der Daseinsform des Diaspora-Juden. Erst die Bildung eines „Judenstaats“ würde die Selbstemanzipation der Juden von dieser Diaspora-Existenz ermöglichen.

Übrigens hatte Herzl die Situation der Juden in den arabischen Ländern gar nicht im Blick; und er hätte wohl kaum vorgeschlagen, dass jener Judenstaat unter den Auspizien des türkischen Sultans und des Kalifats errichtet wird, wenn er wegen des islamischen Antisemitismus besorgt gewesen wäre.

Der Zionismus ist also weit mehr als eine Antwort auf den Antisemitismus. Weit mehr als eine Notmaßnahme. Er ist das Programm der Schaffung eines neuen jüdischen Menschen. Und was die Bezeichnung als „nationale Befreiungsbewegung“ angeht: Die Unterstellung, die Juden in der Diaspora seien eine eigene Nation, die etwas anderes sei als das „Wirtsvolk“, ist ein bevorzugtes Argument der Antisemiten aller Länder, die damit die Loyalität der jüdischen Staatsbürger in Frage stellen.

Entscheidend ist aber die Kritik der Antideutschen, im Zionismus existiere ein „Spannungsverhältnis zwischen universalistischem Emanzipationsanspruch und partikularer Organisation in Form eines Nationalstaates (sic)“.   Quatsch. In der Kritischen Theorie existiert dieses „Spannungsverhältnis“, sprich: Widerspruch.  In der Kritischen Theorie wäre es am besten, die Gesellschaft wäre derart „universalistisch emanzipiert“, dass es weder Antisemiten noch Zionisten gebe. Im Zionismus exisitiert dieser Widerspruch nicht. Im Zionismus ist die nationale Organisation, die Konstituierung zum Staat vielmehr Voraussetzung der Emanzipation. Wer das nicht kapiert, begreift den Staat Israel nicht und kann schlechterdings das Anliegen dieses Staats in Deutschland nicht vermitteln.

 

Das haben die Antideutschen auch nicht vor. Nach dem Mittagessen geht es auf der Schulungssitzung wie folgt weiter:

 

„Der kategorische Imperativ nach Auschwitz. Über die Geschichte des Zionismus und die aktuelle Bedrohung Israels. Adorno formulierte einen neuen kategorischen Imperativ: alles Handeln und Denken im Stande der Unfreiheit so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederholen kann. Der Zionismus hat versucht, diesem Imperativ auf seine Weise gerecht zu werden, indem sich die israelische Armee konsequent gegen jeden Vernichtungsversuch zur Wehr setzte und setzt – mitunter präventiv und aggressiv. Was waren dabei die entscheidenden Situationen in der israelischen Geschichte von der Staatsgründung bis zur gegenwärtigen Konfrontation mit dem iranischen Regime? Was ändert sich durch den arabischen „Frühling“ für Israel? Und wie ist die globale Delegitimierungskampagne gegen Israel einzuschätzen?“

Adorno wieder. „Im Stande der Unfreiheit“, also in der noch unerlösten Gesellschaft, müsse man vor allem eine Wiederholung von Auschwitz verhindern. Und zwar müsse „alles Handeln und Denken“ diesem Ziel dienen. Adorno meinte damit, wenn wir ihn einmal ernst nehmen wollen, dass der demokratische Rechtsstaat verteidigt werden müsse, sozusagen als zweitbeste Lösung gegenüber der umfassenden Erlösung des Menschen aus jeder Unterdrückung. Die Antideutschen aber weigern sich, die Bundesrepublik als demokratischen Rechtsstaat und darum als verteidigungswürdig anzuerkennen. Für sie besteht die Umsetzung des Adorno’schen Imperativs in der unablässigen Schnüffelei nach Belegen für die Existenz der „antisemitischen Gesellschaft“. Dabei bedienen sie sich einer zirkularen Logik. Weil die deutsche Gesellschaft antisemitisch ist, muss es Israel geben. Dass es Israel gibt, belegt den antisemitischen Charakter der deutschen Gesellschaft.

Typisch ist überdies, dass sich die Antideutschen für die konkreten Ergebnisse des Zionismus, für das real existierende Israel auch gar nicht interessieren. Nichts findet man bei ihnen etwa über die Kibbuzim, das einzige freiwillige kommunistische Experiment der neueren Geschichte; denn es kann ja laut Adorno „kein richtiges leben im Falschen“ geben, und das „partikularistische“ Israel ist ja letztlich Teil des Falschen. Nichts findet man bei ihnen über die Umwandlung des Staats und der Gesellschaft unter den Likud-Regierungen und besonders unter der Ägide von Binjamin Netanjahu von einer Kommandowirtschaft mit starken sozialistischen Elementen zu einer kapitalistischen Markt- und Konsumwirtschaft; denn das wäre ja nach Adorno ein Zurückfallen in der Entwicklung, kein Fortschritt. Weder findet man dort etwas über die Entwicklung Israels zu einer multikulturellen und hedonistischen Gesellschaft noch zu den Konflikten innerhalb der Gesellschaft zwischen europäischen und orientalischen Juden, religiösen und säkularen Juden, arabischen und jüdischen Israelis  usw. usf.; kurzum nichts über das, was Israel heute ausmacht und die heutigen Israelis interessiert und sicher sehr viele Deutsche interessieren würde und jedenfalls interessieren sollte.

Stattdessen wird die ganze Geschichte des Staates Israel reduziert auf die Erfüllung von Adornos „kategorischem Imperativ“, bei dessen Vollzug Israels Armee „mitunter präventiv und aggressiv“ vorgehe. Dass es zwischen Prävention (1967 etwa der Schlag gegen die ägyptische Luftwaffe, 1980 die Zerstörung des irakischen Atomreaktors bei Osirak, 2007 des syrischen Atomreaktors) und Aggression einen Wesensunterschied gibt, wird durch das „und“ unterschlagen. So wird die  angebliche„Aggressivität“ der israelischen Armee zum Bestandteil einer Schulung unter dem Deckmantel der DIG. Sich da unschuldig zu fragen, was „die globale Delegitimierungskampagne gegen Israel“ zu bedeuten habe, zeugt von, sagen wir: Chuzpe.

 

„Die antideutsche Kritik solidarisiert sich mit Israel aus der Erkenntnis, dass die Welt, so wie sie heute eingerichtet ist, den Antisemitismus immer aufs Neue hervorbringt.“ So brachte Stephan Grigat schon vor Jahren das Bekenntnis der Antideutschen auf den Begriff. Die Welt muss also „anders eingerichtet“ werden, darunter tun diese Linksradikalen es nicht, und nur darum geht es diesen Leuten, nicht um Israel. Ich habe eine Weile gedacht, die Antideutschen stellten gegenüber dem dumpfen Antiimperialismus der traditionellen Linken, die regelmäßig Israel als „aggressiv“ brandmarkt, einen gewissen Fortschritt dar; mittlerweile sehe ich das anders. Es sind falsche Freunde Israels, die unter dem Deckmantel der Israelsolidarität eine perfide, dogmatische Ideologie propagieren, die Israel, ein bewundernswertes Land, und die Israelis, ein liebenswertes Volk, auf eine imaginierte Rolle als  Exekutoren eines „kategorischen Imperativs“ des Heiligen Theodor reduzieren. Die Antideutschen schaden Israel, sie schaden der deutsch-israelischen Freundschaft, und sie stellen damit, auch wenn sie – wie alle Antisemiten – behaupten, nur Israels Bestes zu wollen, objektiv nur eine besonders skurrile Spielart des linken Antizionismus dar.

 

 

Zum Nachlesen:

https://starke-meinungen.de/blog/2012/08/07/bahamas-goes-bananas/

 

http://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article116823078/Falsche-Israelfreunde.html

 

http://freie.welt.de/2012/09/03/der-adorno-preis-und-die-wirrungen-der-dialektik/

 

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212 Gedanken zu “Linke Antisemiten: Zur „Kritischen Theorie des Zionismus“;”

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    Wenn ich richtig verstehe worauf Sie hinaus wollen:

    Bei „Spezifik des Antisemitismus“ geht es nicht darum, die Juden in einer positiven Bestimmung besonders herauszuheben, also nicht um den auch hier berechtigterweise vielgescholtenen Philosemitismus, sondern darauf hinzuweisen, dass die Gewalt der Judenfeinde eine qualitativ andere ist als z.B. beim allgemeinen Rassismus. Vernichtung statt Unterwerfung wäre ein Stichwort.

    Ich würde mitgehen, dass dieser Antisemitismus auch andere treffen kann, den Völkermord in Ruanda halte ich nach oberflächlicher Beschäftigung für durchaus vergleichbar.

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    … Korrektur

    H.N.: Oh, und noch eine Ergänzung, Antisemitismus mit Menschenfeindlichkeit gleichzusetzen, also die Spezifik des Antisemitismus nicht sehen zu wollen, …

    … netter Versuch werter H.N. – aber ‚Über-Menschen‘ gibt ’s nur einen.

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    H.N.: Oh, und noch eine Ergänzung, Antisemitismus mit Menschenfeindlichkeit gleichzusetzen, also die Spezifik des Antisemitismus nicht sehen zu wollen, …

    … netter Versuch werter H.N. – aber ‚Über-Menschen‘ gibt ’s nur einen.

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    Oh, und noch eine Ergänzung, Antisemitismus mit Menschenfeindlichkeit gleichzusetzen, also die Spezifik des Antisemitismus nicht sehen zu wollen, lässt die Frage offen, warum die Transgenderleute eigentlich keinen eigenen Staat kriegen.

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    Ich wurde auf einen besonders ulkigen Einwand aufmerksam gemacht und komme deshalb mal kurz aus der Versenkung zurück. 🙂

    Zitat von der blonde Hans:

    „… nun werte/r Genossin Hugo Noack, die Theorie, auf die Marxisten sich berufen, ist, in der Konsequenz der daraus geforderten Weltrevolution (Voraussetzung für den Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus) nicht nur eine Anklage gegen Juden, sie ist auch eine Anklage gegen die Schöpfung insgesamt.

    Insoweit ist Antisemitismus, vergleichbar mit ‘Humanophobie’ – eine Wortschöpfung meines Hamsters – ebenso eine Anklage gegen Polen, gegen Russen, gegen Türken, gegen … die Völker. Ja sogar, werte Genossin Hugo Noack, in der ‘sogenannten Moderne’ gar gegen die Geschlechter.“

    Dass der Kommunismus eine Anklage gegen die Völker ist, will ich doch meinen, nämlich gegen die Völker, die sich dafür benutzen lassen, sich gegenseitig fürs große Ganze abzuschlachten.

    Wenn jemand darüber hinaus sein polnisches, jüdisches oder deutsches Brauchtum im Privaten pflegen oder die Berge schön finden will, soll er das meinetwegen, solange er damit niemandem wehtut und sein überkommenes Zeug nicht für einen vernünftigen Grund gegen eine Abschaffung des Zwangs zu Ausbeutung und Krieg hält.

    Auch die Schöpfung klage ich sehr gerne an, denn wenn diese „Schöpfung“ eben Antisemitismus und Ausbeuterei enthält, habe ich meine Bedenken daran.

    Im übrigen ist daran nichts Schöpfung und das meiste menschengemacht. An der Schwerkraft habe ich gerade nichts zu kritisieren. Also nicht „die Schöpfung“ insgesamt, sondern eben das, was man sich zur Kritik gerade vornimmt. Diese Verallgemeinerung ist nichts als eine Nichtbefassung mit den genauen Inhalten der Kritik.

    Wie können Freunde der Schöpfung eigentlich Kommunisten kritisieren? Das sollte doch bitteschön Gott vorbehalten bleiben.

    Was die Geschlechter angeht, auch die lassen sich schlecht kritisieren insofern sie natürlich sind, lediglich deren gesellschaftliche Seite ist Sache der Kritik.
    Wieder nichts als eine Verallgemeinerung von vernünftiger Kapitalismuskritik mit Genderstudies und so einem Kram.

    Kurze Anmerkung noch zu der Debatte über Einheit und Zerrissenheit: In einem Satz gesagt, man würde überhaupt nicht an Zerrissenheit denken, wenn man sich nicht auch eine Einheit denken könnte. Die Einheit ist in der Zerrissenheit eben aufgehoben. In diesem Sinne sind beide Begriffe verbunden, das ist die ganze Dialektik daran, das ist ja wohl schwer zu bestreiten. Zwischen völlig beziehungslosen Sachen wie Farben und Logarithmen wird ja wohl kaum einer ein auseinanderfallen beklagen wollen, weil da nie eine Einheit war.

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    Herr Blumentritt, Sprachanalytiker nennen das, was Hegel objektiver Geist nennt, Gedöns, und das, was „schon“ Kant zu sehen glaubte, das, was bei Kant „noch“ ungeklärt war, obwohl er es klären wollte: Metaphysik.
    Auch zu Tugendhats Selbstbewusstseinsanalyse („Abstieg vom ICH zum ich“ – Das ist wie wenn man aus einem zu prall aufgeblasenen Luftballon die Luft rauslässt…) habe ich eine andere Meinung. Aber meine Hochachtung speist sich v.a.D. aus seiner Persönlichkeit und seiner philosophischen Praxis, nicht aus einer bestimmten Lehre. Eine solche gab es auch gar nicht, außer der, immer sehr vorsichtig, sehr skeptisch zu sein, wenn man es mit Philosophie zu tun hat. In einer Vorlesung zu Sein und Zeit richtete er sich an sein Publikum mit (ungefähr) der Frage: „Ich habe mit Heidegger diskutiert u. Jahre darüber nachgedacht, aber leider noch immer keine Ahnung, was das bedeuten soll. Hat jemand von Ihnen vielleicht eine Ahnung?“ – Das war kein Gag, obwohl sehr lustig, sondern Tugendhat ist der Meinung, das sich viele selber etwas vormachen, wenn sie glauben, etwas verstanden zu haben.
    Seine eigenen Verständnisschwierigkeiten lagen übrigens nicht daran, dass Herr Tugendhat irgendein Problem mit der Auffassungsgabe hat (er ist außerordentlich intelligent). Auch nicht daran, dass er sich irgendwie gedanklich verrannt hatte. Sondern er war eben einfach nur sehr genau, verglich mehrere Möglichkeiten, sortierte aus, wenn es absurd wurde, wog Formulierungen gegeneinander ab… Unter dem scharfen Blick wurden die Beschwörungsformeln Heideggers sozusagen eingekocht, bis nicht viel übrig blieb (außer großer Sprachkunst).

    @Parisien: Es gibt sehr unterschiedliche Ehen, auch sehr unterschiedliche Arten von Scheidungen. Man sollte sich hüten, alle über einen Kamm zu scheren. Ich sage ja nicht, dass es keine Liebe gibt oder keine Liebe in der Ehe; im Gegenteil weiß ich sehr gut und aus eigener Erfahrung, dass es das gibt. Aber es gibt eben auch Verbindungen und Ehen ohne Liebe oder mit vergänglicher Liebe. Viele Philosophen – der Deutsche Idealismus mit Herrn Blumentritt – begeben sich auf die Suche nach einem Universalschlüssel und halten dabei die merkwürdigsten Gebilde hoch. Wenn man den vermeintlichen Schlüssel dann am Beispiel ausprobieren will, heißt es: „Nein, SO darf man das natürlich nicht tun; nein, SO auch nicht“. Und wenn dann der Meister selber hantiert und seine Ergebnisse präsentiert, dann sehen die Ergebnisse, tja, seltsam aus…

    Egal. Schöne Ferien für alle!

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    @Roland Ziegler &Parisien: Vor dem Hintergrund als Tugendhat- Student kann ich die Mistverständnisse durchaus besser verstehen, da ich diesen persönlich kennenlernte, auch über den Dauerbrenner-Streit in Berlin mit Theunissen in den Seminaren. Sein Hegelverständnis, oder auch die des Selbstbewußtseins im Deutschen Idealismus, ist unangemessen. Und die Differenzen, die sich hier auftun, haben auch mit dieser Deutung zu tun. Hegels Begriff des Denkens, das auch bei Adorno, Haag usw. eine Rolle spielt geht darauf hinaus, daß Denken das Auffassen und Zusammenfassen des Mannigfaltigen in der Einheit sei, das Mannigfaltig hierbei der Äußerlichkeit bzw. Gefühl und Anschauung angehört und das dann im Denken aufgehoben wird. Schon bei Kant war die Einheit eine, die Leistung der Subjektivät ist, nicht eine Gegebenheit, sondern Aufgegebenheit oder Aufgabe, nämlich die Leistung der Gegenstandskonstitution. Ohne subjektive Leistung keine Einheit, dies ist eine notwendige Bedingung der Gegenstände und der Erkenntnis, allerdings nicht der zureichende Grund, worauf Kritische Theorie aufmerksam macht und die verabsolutierung des Subjekts kritisiert.
    Postmodern würde man Liebe oder Ehe rein in die Performanz verschieben. „Ich erkläre Sie zu Mann und Frau.“ allerdings habe ich auch mal vor Kurzen in einer Radiodiskussion ausgesprochen, um zu zeigen, daß die beiden Mitdiskutantinnen nun ganz und gar nicht verheirat sind, weil zu dieser Vereinigung ein ganzes System von Rechtsbestimmungen gehört, in manchen Ländern auch religiöse, wenn die Eheschließung in Synagoge, Kirche usw. stattfindet. Sprachanalytiker haben durch die Selbstbeschränkung ihres Denkens allerdings Schwierigkeiten das, was etwa bei Hegel objektiver Geist heißt, überhaupt zu formulieren und zu denken. Hegel: „Der Inhalt der Vorstellungen ist aus der Erfahrung genommen, aber die Form der Einheit selbst und deren weitere Bestimmungen haben nicht in dem Unmittelbaren derselben als solchem ihre Quellen, sondern in dem Denken.“(Logik der Mittelklasse)
    Eine 40-jährige Diskussion, die sich nachträglich Neue Marx-Lektüre taufte, hatte solche Fragen der Gegenstandskonstitution, die auch fetischistische Gegenstandskonstitution umfaßte wie Geld und Staat, zum Thema. In diesem Kontext stehen auch Begriffe wie Verblendungszusammenhang, ein Begriff, den man gar nicht so einfach abhandeln kann, da die darin implizierten Begriffe etwas mit Reflexion, Wesen und Erscheinung bzw. Schein zu tun haben, paradigmatisch in seiner frühsten Form in Platons Höhlengleichnis vorgebildet. Diese Lichtmetaphorik ist durchgängig nicht nur in Philosophie und Religion, sondern auch in Ideologiekritik. „Aufklärung“ gehört ja auch zu diesen optischen Metaphern. Blendwerk z.B. zeugt davon, daß für die menschlichen Sinne – oder in Analogie den Geist – etwas zu hell ist, daß es blendet und damit die Erkenntnis verstellt. Licht ist ja das, was Einheit in die Mannigfaltigkeit bringt, in der Emanationslehre war allerdings erst einmal von dem Einen die Rede, was auch zu einer Transformation „religiöser“ in theologische Diskurse führte und wiederum zu dessen Aufhebung in Philosophie bei Fichte, Schelling, Hegel und der Romantik.
    Was dort noch viel allgemeiner gilt, daß Einheit so etwas wie ein geistiges Band ist, gilt im Besondere bei Liebe und Ehe. Man kann ein Bild wählen, etwa ein zerbrochenes Herz oder dergl. nur abstrahiert die bloß Reflexion auf das materielle Substrat des Bildspenders von dem, worauf es ankommt. Die Einsicht der Psychoanalyse ist, daß die erste Liebe, die zur Mutter ist und jede andere ein Stück weit ihr nachgebildet ist, weil die Bildung der Psyche durch Niederschlag von Interaktionsformen (bereits pränatal beginnt das) die ganze Individualgeschichte bewahrt. Das Phänomen der „Übertragung“ wird ja auch therapeutisch genutzt (und die Gefahren der Gegenübertragung reflektiert), indem alte Interaktionsformen revitalisiert werden und der Reflexion zugänglich.
    Die alljährlich stattfindenden Antideutschen-Bashings sind sozialpsychologisch eine Art Übertragung, weil ja die Antideutschen (wenn man von den gigantischen Unterschieden mal absieht, die es da gibt) den Finger in die Sozialisation in den 60er/70er Jahren legen. Die antiautoritäre Revolte schlug um in die autoritäre und plötzlich wollten alle in den vielen stärksten aller Parteien sein. Und hierbei spielen die ADn das infant terrible jener Bewegung, das immer wieder daran erinnert. Adorno hatte – bei aller Sympathie mit der Studentenbewegung und Krahl als sein Lieblingsschüler – das schon früh bemerkt und die antideutschen Rezipienten mußten seine Einsichten schmerzhaft nachvollziehen, um dann überall anzuecken bei denen, die davon vollends sich getroffen sahen:
    http://www.copyriot.com/sinist.....rno02.html
    Zuviel Ressentiment steckt in solch bashing, als daß man nicht das Moment der Projektion darin erkennen muß.

  8. avatar

    @ Parisien

    Dû bist mîn, ich bin dîn.
    des solt dû gewis sîn.
    dû bist beslozzen
    in mînem herzen,
    verlorn ist das sluzzelîn:
    dû muost ouch immêr darinne sîn.

  9. avatar

    @ Roland Ziegler

    Sie brauchen m.E. zu der Philosophie Religion, damit Sie richtig gut werden. Man sieht an Ihren Einlassungen über Geschiedene, auch der letzten, dass Ihnen Religion fehlt, weil sie die weiter bestehende Einheit der Seele nicht berücksichtigen, die ja so gravierend sein kann, dass man sie psychotherapeutisch zerbrechen muss, damit der Zurückgebliebene überlebt.

    Schauen Sie mal, diese beiden waren dann physisch getrennt, seelisch aber nicht:

    Ich zôch mir einen valken
    mêre danne ein jâr.
    dô ich in gezamete
    als ich in wolte hân
    und ich im sîn gevidere
    mit golde wol bewant,
    er huop sich ûf vil hôhe
    und floug in anderiu lant.

    Sît sach ich den valken
    schône fliegen:
    er fuorte an sînem fuoze
    sîdîne riemen,
    und was im sîn gevidere
    alrôt guldîn.
    got sende si zesamene
    di gerne geliep wellen sîn!

    Der von Kürenberg

    Schöne Ferien!

    @ Lyoner
    Danke für die Ecken und Kanten! Schönes WE!

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    @Lyoner: Danke für Ihren Wunsch, ich wünsche Ihnen ebenfalls einen schönen Sommer. Es tut zwar nichts zur Sache, ist aber auch kein Geheimnis: Studiert habe ich Philosophie (u.a. bei dem bewundernswerten Ernst Tugendhat) und Germanistik; Geld verdiene ich in Teilzeit als Freiberufler mit Texten (insb. Betriebsanleitungen für Software). Es ist kein Beruf, eher ein Job.

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    @ Edmund Jestadt

    Stellen Sie sich vor, das Thema spielt bei mir nur auf diesem Blog eine Rolle (früher bei den Einzigwahren Freunden Israels), ansonsten weder in meiner Familie, noch Freundeskreis, zu dem auch ein paar Juden gehören, noch in irgendwelchen sonstigen Kreisen. Inwieweit das also mein Lebensinhalt ist, ich weiß es nicht, vielleicht wissen Sie es besser. Hier interessiert mich hauptsächlich, weiweit es in Bezug auf Israel zu Mythenbildungen und apologetischen Ideologien kommt und von welcher Seite. Daneben ein paar Überlegungen zum Schicksal des Abendlandes. – Ihr Grr, Grr amüsiert mich; einer meiner Lieblingssongs stammt vom Zigeunerbaron „mein idealer Lebenszweck, Grr, Grr, ist Borstenvieh und Schweinespeck“

    @ Roland Ziegler

    Ich wünsche Ihnen schöne Ferien mit Ihrer Familie. Diese Zeiten mit den Kindern sind kostbar. Entschuldigen Sie meine neugierige Nase: Auch wenn ich nicht mit allem d´accord gehe, was Sie ausführen, imponiert mir doch immer wieder, dass Sie sich immer wieder Ihres eigenen Verstandes bedienen und Ihre Argumente klar vorbringen. Was haben Sie denn studiert? Wenn Sie Lust haben: welcher Tätigkeit gehen Sie nach?

    @ Martin Blumentritt

    Bei den allermeisten Kombattanten, Roland Ziegler, derblondehans, Parisien, KJN, Edmund Jestadt u.a., habe ich das Gefühl, dass dies Menschen mit Ecken und Kanten sind, mit Ideosynkrasien, also Besonderem und Eigensinn, nicht Allgemeinem. Bei Ihnen habe ich jedoch das Gefühl, dass Sie auch ein Abspielgerät, ein Papagei sein könnten, tut mir leid. Wenn Ihre Interventionen hier auf je unterschiedliche Weise auf allergische Reaktionen stoßen, was schließen Sie denn daraus?

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