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Atom-GAU – It can’t happen here

Vor zwei Tagen wurden wir an dieser Stelle Zeugen eines äußerst seltenen Ereignisses:  Michel Friedman bekannte, die Ereignisse in Japan hätten seine bis dahin positive Einstellung zur Atomkraft erschüttert. Hut ab vor jeden, der sich zu einem Irrtum und einer Korrektur bekennt. Schon am nächsten Tag jedoch belehrte uns Daniel Dettling: „Japan ist nicht Deutschland“. Deshalb könne, ja müsse man wie bisher mit der Nutzung der Kernenergie fortfahren.

„Japan ist nicht Deutschland“: will sagen, die Japaner sind vielleicht so doof, ihr von Erdbeben und Tsunamis bedrohtes Land mit AKWs vollzupflastern, aber wir Deutsche nicht. Bei uns bebt die Erde ja nicht. It can’t happen here.

Die Argumentation kennen wir. Bis vor ein paar Tagen lautete sie: Japan ist nicht die Sowjetunion. So schrieb etwa der Umweltexperte Michael Miersch vor drei Jahren einen Artikel über den „Mythos von der Gefährlichkeit der Atomkraft“:

http://www.welt.de/politik/article2137403/Der_Mythos_von_der_Gefaehrlichkeit_der_Atomkraft.html

Darin schrieb er (unter dem Untertitel „Der Mythos vom größten anzunehmenden Unfall“): „Gegen Tschernobyl als finales Anti-Atom-Argument spricht auch der Umstand, dass der Unfall, wie später nachgewiesen wurde, durch extremes Fehlverhalten der verantwortlichen Ingenieure geradezu provoziert wurde.“ Genau. Die Technik ist sicher, bloß die Menschen nicht. Dass es neben Tschernobyl – und vor Fukushima – mindestens fünf weitere Kernschmelzen bzw. Teil-Kernschmelzen gegeben hat, darunter in Ländern wie Großbritannien und den USA, in denen weder statistisch unwahrscheinlich starke Erdbeben noch sowjetisch verbildete verrückte Professoren verantwortlich gemacht werden können, wird dabei verschwiegen; doch wenn die Befürworter der Atomkraft auf Three Mile Island, Sellafield e tutti quanti zu sprechen kommen, wird auch dort der Mensch, dieses dumme Tier, für die Unfälle verantwortlich gemacht. Uns ist offensichtlich nicht zu trauen. Vielleicht wäre es besser, um Brecht zu paraphrasieren, die Technik löste die Spezies auf und wählte sich eine neue.

Ich will nicht moralisch argumentieren. Stattdessen will ich eine Erklärung für das Versagen der Experten liefern. Sie stammt übrigens nicht von mir. Ereignisse wie in Fukushima sind das, was der Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb „Schwarze Schwäne“ nennt: äußerst unwahrscheinliche Ereignisse. Sie sind das Produkt dessen, was der ehemalige US-Verteidigungsminister „unknown unknowns“ nannte: Dinge, von denen wir nicht einmal wissen, dass wir sie nicht wissen.

Vor allem Experten wissen nicht, was sie nicht wissen, und darum überschätzen sie immer die Stabilität der Systeme, für die sie als Experten gelten.

Welcher „Ostexperte“ prognostizierte den Fall der Berliner Mauer? Welcher „Finanzexperte“ warnte vor der Kernschmelze (nomen est omen) des internationalen Finanzsystems 2008? (Nun, Nassim Nicholas Taleb, aber er gehörte zu den wenigen, und man hörte nicht auf ihn.) Welcher „Nahostexperte“ sah die arabische Revolution voraus? Welcher AKW-Experte sah ausgerechnet im Hochtechnologieland Japan, das seit Jahrzehnten Erfahrungen mit Erdbeben und Tsunamis hat, die Gefahr eines GAU durch jene Kombination unglücklicher Ereignisse voraus, die nun eingetreten ist?

Da „Schwarze Schwäne“ ihrem Wesen nach unvorhergesehen auftreten und die Experten überraschen, gibt es wenig, was man dagegen (oder im Fall erwünschter Ereignisse wie einer demokratischen Umwälzung: dafür) tun kann.

Man sollte, so Taleb, erstens den Experten misstrauen. Zweitens auf Außenseiter und Warner hören. Drittens, so scheint mir, sollte man grundsätzlich den Zusammenbruch eines Systems für möglich halten, vor allem wenn man ihn für völlig sicher hält („Deutschland ist nicht Japan“).

Und dann sollte man fragen: Will man mit diesem Risiko leben, um sich – so die Berechnung Daniel Dettlings – 50 Euro im Monat zu sparen, oder will man das lieber nicht? Ich habe weder berechnet, was mich die Finanzkrise Monat für Monat in Gestalt der Steuern, mit denen ich das System stütze, kostet, noch, was die finanziellen Folgen eines katastrophalen Elbe-Hochwassers wären, bei dem etwa ein losgerissener Tanker ins AKW Brokdorf geschwemmt wird mit der Folge eines GAUs, der notwendigen Evakuierung Hamburgs, dem Herunterfahren der anderen AKW, der Stromrationierung usw., vielleicht wären es nur 40 Euro im Monat. Ehrlich gesagt, möchte ich es nicht darauf ankommen lassen.

Zu meiner eigenen bisherigen Einstellung zur Atomkraft: sie war schwankend. Aber am 7. September 2008 schrieb ich – auch als Antwort auf Mierschs Mythen – folgenden Leitartikel für die „Welt am Sonntag“:

http://www.welt.de/wams_print/article2406704/Aus-fuer-die-Atomkraft.html

 

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51 Gedanken zu “Atom-GAU – It can’t happen here;”

  1. avatar

    Tja! Spätestens jetzt wissen wir, was man noch so mit
    Polizeiwasserwerfern anfangen könnte, Herr Mappus könnte schon mal damit anfangen, Listen mit mutigen, aufopferungswilligen Kamikaze-Polizisten zu erstellen. Mit beidem kann er, wenn es bei uns mal brennt, auf Kernbrennstäbe „pieseln“ lassen. Es gehört eben weniger Mut dazu diese Wasserwerfer auf Bürger zu richten.
    Wer wird sich opfern bei uns, ohne Staatszwang und wer wird utopische Summen ausgeben für die letzten Flugtickets?
    Aber mal ohne Zynismus! Würden alle Bürger mit Ihrem Kaufverhalten darüber abstimmen daß „Geiz ist geil“ in Bezug auf Energiegewinnung, im Ernstfalle jahrhundertelang verbrannte Erde bedeutet, müßten die Energiekonzerne 100% ihres Atomstroms doch exportieren. Fallen auch noch unsere Subventionen dafür weg und müßten sich AKW`s gegen das Restrisiko versichern, käme ein Kilowattpreis von mindestens 2500 Euro/Kwh zustande. Kauft nicht diesen Strom, euren Kindern zuliebe! Ihr habt jeden Tag noch eine Wahl. Noch!
    Denkt mal darüber nach!

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