Die feierlich gestartete Litauen-Brigade der Bundeswehr ist keine Garantie, das kleine baltische Land gegen einen russischen Angriff auf die Nato zu verteidigen. Aber sie stellt sicher, dass sich Deutschland dann nicht mehr drücken kann.
Die Deutschen haben einen weiten Weg zurückgelegt von der Niederlage am Ende des Zweiten Weltkriegs, dem Nie-Wieder und Widerstand gegen die Wiederbewaffnung, der Friedensbewegung, den ersten Kriegsbeteiligungen nach 1945 im Kosovo und in Afghanistan bis zu den Bemühungen, das Land nun wieder kriegstüchtig (Pistorius) zu machen. Nicht nur für sich, sondern auch für die Nato-Verbündeten und europäischen Nachbarn. Viele fremdeln damit noch. Aber Deutschland nimmt endlich seine auch militärische Rolle an – in einer Zeit, in der womöglich schon bald ein noch größerer Krieg in Europa droht.
Auch für die Länder, die unter den Überfällen Nazideutschlands und der Besatzung gelitten haben, war es ein langer Weg. Die Anfänge der EU, die Montanunion, dienten vor allem noch dazu, eine deutsche Wiederaufrüstung zu verhindern. Auch der Widerwillen einiger Länder gegen die deutsche Wiedervereinigung rührte nicht zuletzt aus der alten Furcht, dass das noch größere Land wieder zu einer gefährlichen dominierenden Macht im Herzen Europas werden könnte.
Diese Sorge ist längst der Befürchtung gewichen, dass es gerade nicht seine Verantwortung wahrnimmt. Frankreich und Polen, die beiden wichtigsten Nachbarn, fordern wie die USA schon lange, dass Deutschland sich stärker engagiert und nicht mehr abseits steht, wenn es um den gemeinsamen militärischen Schutz geht. Doch bei Merkel und Scholz stießen sie auf taube Ohren.
Freude in Litauen und Osteuropa
Umso mehr wird nicht nur in Litauen die erste dauerhafte Stationierung deutscher Soldaten im Ausland seit 1945 an der Ostflanke der Nato begrüßt, die Verteidigungsminister Pistorius gegen viele Widerstände in der Ampelregierung erfolgreich vorangetrieben hat. Nicht so sehr, weil die Bundeswehrbrigade, die noch im Aufbau ist und erst 2027 im vollen Umfang stehen soll, sie alleine mit der kleinen litauischen Armee gegen einen russischen Großangriff verteidigen könnte. Dazu wäre sie gar nicht in der Lage. Sondern weil sie sozusagen als Faustpfand sicherstellt, dass Deutschland dann schon um seiner eigenen Soldaten willen militärisch eingreifen muss.
Das sendet ein wichtiges Signal an Putin, aber auch an Trump und die übrigen Nato-Staaten: Die Zeit, in der Deutschland wie noch unter Scholz zögerte und zauderte, ob es im Zweifelsfall tatsächlich sich und Europa verteidigen will, ist endgültig vorbei. Und es ist zugleich eine Art Selbstverpflichtung. Das Land muss nun aufrüsten und sich militärisch wieder ertüchtigen, da sich Europa nicht mehr auf den Schutz der USA verlassen kann.
Trump wird wahrscheinlich beim bevorstehenden Nato-Gipfel im Juni ankündigen, dass er weitere amerikanische Truppen aus Europa und Deutschland abzieht. Damit wird in Berlin und Brüssel jedenfalls gerechnet. Dann kommen noch ganz andere Aufgaben auf die Merz-Regierung wie die der anderen europäischen Staaten zu: durch rasche gemeinsame Verteidigungsanstrengungen sicherzustellen, dass Putin keinen Angriff über die Ukraine hinaus wagt. Und wenn doch, dass sich Europa auch alleine verteidigen kann.
Russischer Angriff auf die Nato 2028?
Einen Waffenstillstand in der Ukraine, nach der sich das Land und viele bei uns sehnen, würde einen weiteren Vormarsch Russlands nach Westen sogar wahrscheinlicher machen. Denn dann wären Putins Truppen dort nicht mehr gebunden. Und er könnte, nachdem er seine Kriegsmaschinerie mit Soldaten, Panzern, Drohnen und Kampfjets wieder aufgefüllt und weiter gestärkt hat, an Litauen testen, ob Deutschland, die Nato und die USA bereit und fähig sind, sich wie die Ukraine zur Wehr zu setzen. Schon für diesen Herbst hat er ein Großmanöver in Belarus angekündigt, vermutlich als Vorbereitung und Probelauf, wie 2021 und Anfang 2022 an der Grenze zur Ukraine, als viele im Westen seine Kriegsentschlossenheit ebenfalls nicht sehen wollten.
Litauen eignet sich für ihn am besten, da es geografisch praktisch isoliert liegt, eingeklemmt zwischen Weißrussland und der hochgerüsteten russischen Exklave Kaliningrad und nur durch einen schmalen Korridor mit dem übrigen Nato-Gebiet verbunden. Und deshalb nur schwer zu verteidigen und leicht abzuriegeln und zu erobern ist. Christoph von Marshchall, diplomatischer Korrespondent des „Tagesspiegel“, Osteuropahistoriker und US-Kenner, beschreibt in seinem Buch „Der schwarze Dienstag“ ein sehr konkretes, realistisches Szenario, ausgehend von Planspielen amerikanischer War Gamer. Danach würde Putin am 3. November 2028, dem Tag der nächsten US-Präsidentenwahl, wenn die USA mit ganz anderem beschäftigt sind, den Befehl zum Einmarsch geben. Mit dem Ziel, die drei baltischen Republiken binnen weniger Tage wieder unter russische Kontrolle zu bringen, nachdem Trump bis dahin die Nato weiter geschwächt und die Zweifel an der US-amerikanischen Zuverlässigkeit gestärkt hat.
Putin würde nach Marschalls Darstellung Litauen auch deshalb wählen, weil die deutsche Nato-Brigade dort nur wenige tausend Soldaten umfassen wird und die Bundeswehr auch sechseinhalb Jahre nach dem Überfall auf die Ukraine dann noch immer nicht kriegsfähig sein werde. Und er Deutschland als das schwächste Glied in der Kette sehe, da er die Bereitschaft der deutschen Politik und Gesellschaft, Verbündete zu verteidigen, wie es der Nato-Vertrag verlangt, als gering einschätze. Wahrscheinlich leider sehr zutreffend.
Deutsche Soldaten in einen neuen Krieg gegen Russland?
Selbst wenn die USA unter dem dann noch Präsidenten Trump oder seinem Nachfolger Truppen schickten, würde es Wochen, wenn nicht Monate dauern, bis sie an der Front wären. Falls sie überhaupt durch Deutschland mit seinem maroden, für schwere Panzer und Truppentransporter nicht geeigneten Brücken, Straßen und Schienenwegen kämen. Die deutsche Brigade und die litauische Armee wie die von Estland und Lettland wären bis dahin schon zum erheblichen Teil aufgerieben und Nachschub kaum dorthin zu bringen, da Putin als erstes die Häfen und alle Flugplätze in der Region werde zerstören lassen.
Die Bundesregierung stünde dann mit den europäischen Verbündeten vor der Entscheidung, ob sie sehr schnell Truppen in den Krieg schicken, um die baltischen Staaten gegen die russische Armada zurückzuerobern und zu befreien. Und womöglich ihrerseits Kaliningrad anzugreifen, um sich den Weg freizukämpfen und die Truppen, Militärbasen und Raketen dort zu zerstören. Putin seinerseits würde dann höchstwahrscheinlich mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen oder sogar einen ersten nuklearen Sprengsatz zünden um herauszufinden, ob (und wie) die USA reagieren.
Daran gibt es allerdings schon jetzt erhebliche Zweifel. Erst recht wenn, wie Marschall in seinem Buch beschreibt, China gleichzeitig Taiwan bedroht oder angreift. Sehr klar sei, dass die USA dann ihr militärisches Gewicht dorhin legen würden. Europa wäre sich überlassen.
Das sind keine Schreckenszenarien, sondern sorgfältige Analysen, die Militärexperten nicht nur in den USA und nicht nur im Nato-Hauptquartier anstellen. Auch viele von ihnen halten einen Angriff Russlands auf das Gebiet des westlichen Bündnisses 2028 für realistisch bis wahrscheinlich. Vieleicht später, vielleicht aber auch schon früher. Wird Europa bis dahin wenigstens Ansätze für einen eigenen atomaren Schutzschirm haben, basierend auf den geringen französischen und etwas stärkeren, allerdings von den USA abhängigen britischen Atomwaffen? Werden die europäischen Armeen, vor allem Deutschlands, Frankreichs, Polens und Großbritanniens, binnen der kurzen Zeit genügend ausgestattet sein z.B. mit Artielleriemunition, aber auch Drohnen, um Stand halten zu können? Und wird die Verteidigungs- und Kriegsbereitschaft hierzulande bis dahin gewachsen sein? Oder schert die SPD schon vorher aus, getrieben von der Friedenssehnsucht vieler Deutscher und dem alten Wunsch, sich mit Russland zu verständigen auf Kosten der Mittel- und Osteuropäer?
Die Litauen-Brigade ist erst ein Anfang. Bis zum Selbst- und Freiheitsbehauptungswillen ist noch ein weiter Weg.
(veröffentlicht auch im Blog „Ruhrbarone„)
„Womöglich brauche der Westen einen «guten Krieg»..
.. Es sei sehr unerfreulich, das zu sagen, aber womöglich brauche es einen «guten Krieg», um die Lust am Leben wiederzufinden. «Doch an dem Punkt, an dem wir angelangt sind, weiss ich noch nicht einmal, ob das ausreicht.» Einige Zuschauer beantworten den Zynismus mit verhaltenem Gelächter.“
https://www.nzz.ch/feuilleton/michel-houellebecq-in-jerusalem-der-westen-ist-verloren-israel-nicht-ld.1885212