Persönlich Verantwortung übernehmen – das wäre doch mal ein guter Vorsatz von Regierenden in diesem Land fürs Wahljahr. Für den verheerenden Anschlag auf den Weihnachtsmarkt zum Beispiel. Das Platzen der Ampel. Oder die ausgebliebene Zeitenwende. Über eine ausgestorbene politische Tugend und rapide sinkendes Vertrauen der Bürger.
Den ersten Rücktritt erlebte ich als junger Bonner Korrespondent 1993. Der damalige CDU-Bundesinnenminister Rudolf Seiters übernahm ohne Umschweif die Verantwortung für einen missglückten Polizeieinsatz im mecklenburgischen Bad Kleinen, bei dem ein GSG-9-Beamter und der gesuchte RAF-Terrorist Wolfgang Grams starben, obgleich schon zu diesem Zeitpunkt ziemlich klar war, dass der nicht durch eine Polizeikugel ums Leben gekommen war, wie der „Spiegel“ fälschlich behauptet hatte, sondern durch eigene Hand, und Seiters keine persönliche Schuld an dem Debakel trug. Ein rascher Abgang in Ehren, der ihm viel Respekt eintrug.
Seiters war danach Vizepräsident des Bundestags und lange Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Sein Rücktritt ist mir nicht nur deshalb sehr in Erinnerung, weil es die erste Eilmeldung war, die ich für eine große Nachrichtenagentur absetzte – damals noch von einer Telefonzelle aus. Sondern weil ich ihn als stilbildend empfand. Da tut ein im Wortsinn verantwortlicher Politiker ohne großes Gezerre das, was Bürger erwarten können sollten: Dass ein Minister für sich Konsequenzen zieht, wenn etwas Gravierendes in seinem Macht- oder politisch-persönlichen Bereich schief läuft, statt abzuwarten, ob ihm oder ihr konkretes Fehlverhalten nachgewiesen werden kann.
Große Ausnahme
Leider ist das eine ziemliche Ausnahme. Ich habe danach über zahllose Rücktritte oder eigentlich fällige Rücktritte berichtet und sie kommentiert. Nur selten gelang den jeweiligen Amtsinhabern (oder auch z.B. Managern), sich ehrenvoll aus der Affäre zu ziehen und in Würde beseite zu treten, ohne dass sie selbst, ihre Partei und die Politik insgesamt größeren Schaden nahmen.
Der frühere Wirtschafts- und Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg nur zum Beispiel, ein großer Blender, zierte sich wochenlang, bis er endlich zugeben musste, seine plagiatvolle Promotion, mit der sich promovieren wollte, nicht selbst geschrieben zu haben, und von der politischen Bühne verschwand. Scholz‘ erste Verteidigungsministerin Lambrecht wechselte der Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt in Kriegszeiten erst aus, als sie nach mehreren peinlichen Auftritten nicht mehr zu halten war, weil sie selbst uneinsichtig blieb, obwohl von Anfang an unübersehbar war, dass sie der Aufgabe nicht gewachsen war, schon gar nicht nach dem russischen Überfall auf die Ukraine und der von Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“. Die er selbst allenfalls viertelherzig bewerkstelligte.
Vielfaches Versagen
Wer aber übernimmt jetzt Verantwortung für das offenkundige erneute vielfältige Behördenversagen im Fall des Todesfahrers über den Weihnachtsmarkt in Magdeburg mit fünf Toten und mehr als 200 teils schwer Verletzten? Dafür, dass niemand seine Gefährlichkeit erkennen wollte, obwohl er in mehreren Bundesländern mit wirren Todesdrohungen, auch im Internet, aufgefallen war und es konkrete Warnungen vor ihm gab? Und dass er trotz der früheren Anschläge, besonders auf den Weihnachtsmarkt in Berlin vor acht Jahren, ungehindert mit seinem Auto durch die Menschenmenge walzen konnte? Das frage ich nicht nur, weil meine Tochter, ihre beiden kleinen Töchter und ihr Mann um ein Haar unter den Opfern gewesen wären, sondern weil die Bürger nicht nur in Magdeburg eine Antwort erwarten dürfen müssen – und zwar schnell.
Wahrscheinlich aber wird es wie so oft laufen: Es wird monatelange Prüfungen und Ermittlungen geben, ob und wem – möglichst auf untergeordneter Ebene – Fehler angelastet werden können. Vielleicht wird es später einen Untersuchungsausschuss im Landtag von Sachsen-Anhalt oder im neuen Bundestag geben. Und irgendwann, wenn kein Bürger sich mehr so genau erinnern kann, wird ganz vielleicht jemand den Kopf hinhalten müssen. Oder auch nicht.
Warum jedoch ist nicht die Landesinnenministerin sofort zurückgetreten, und sei es aus Scham und Respekt von den Opfern, um ein Zeichen zu setzen? Denn ganz unabhängig davon, ob sie selbst direkte Verantwortung trägt, ist ja unbestreitbar, dass (auch) in ihrem Verantwortungsbereich Einiges gehörig schief gelaufen sein muss – mit verheerenden Folgen. Auch für die poltische Kultur. Denn wenn nicht sehr schnell etwas passiert, wird die AfD bei der Bundestagswahl vor allem im Osten von der Lernresistenz der Regierenden und ihrer Ignoranz gegenüber den Ängsten in der Bevölkerung profitieren, weil es wieder heißen wird: „Die Politik tut nichts gegen gefährliche Migranten und Muslime, selbst nach einem solch schrecklichen Anschlag.“ Egal ob der Täter Islamist war oder nicht, wie es AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel und ihre Leute schon streuen.
Persönliche Signale können Bürger überzeugen
Die ohnehin nur noch amtierende Bundesinnenministerin Faeser könnte und müsste ebenfalls Verantwortung übernehmen für die vielen Versäumnisse in der Flüchtlings-, Migrations- und Integrationspolitik, auch in diesem Fall, auch wenn es längst nicht nur ihre waren. Schon nach dem Anschlag von Solingen hat sie sich mit ihrem Messerverbot lächerlich gemacht (sollen nun Autos ab einer bestimmten Größe in der Öffentlichkeit untersagt werden?). Mit einem vorzeitigen Abgang jetzt könnte sie immerhin in Demut zeigen: „Wir Regierende haben alle versagt.“ Aber das ist von ihr nicht zu erwarten vor dem D-Day der SPD am 23. Februar. Sie klebte ja schon trotz ihrer blamablen Niederlage in Hessen an ihrem Stuhl.
Bei der Neuwahl werden die drei gescheiterten Matadore der gescheiterten Ampelregierung wieder als Kanzler- und Spitzenkandidaten antreten, obwohl alle drei, insbesondere Scholz und Lindner, aber auch Habeck Verantwortung tragen für das monatelange Gewürge der Koalition und deren schließliches Ende. Wie wollen sie da einen Neuanfang verkörpern? Also müssen und werden die Wähler eine Antwort geben. Und die wird für sie nicht schön sein.
Warum es dann nicht wie weiland Rufolf Seiters halten und von sich aus gehen, bevor es zu spät ist? Und die Bürger noch mehr Vertrauen in die politische Klasse verlieren? Nein, man soll keine falschen Hoffnungen hegen. Das habe ich mir für 2025 wieder mal vorgenommen. Ganz fest.
Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor. Er war Korrespondent der Nachrichtenagentur Reuters, Politikchef der „Woche“ und politischer Autor bei zeit-online. Er schreibt v.a. für „Politik & Kultur“ des Deutschen Kulturrats und die christliche Zeitschrift „Publik-Forum“.
Wenn man sich wirklich vorbildliche Rücktritte anschauen will, könnte ich den von Henning Voscherau empfehlen. Nachdem er bei der Hamurger Wahl 1997 „nur“ 36 Prozent gewinnen konnte und ganze 4 Prozentpunkte verloren hatte, übernahm er die Verantwortung für die „Wahlniederlage“ und trat zurück. Er hätte sich ohne weiteres zum Ersten Bürgermeister wählen lassen können. Eine Mehrheit hätte er gehabt.
Oder Willy Brandt, der fatalste „ehrenwerte“ Rückrtitt in der Geschichte der BRD. Weil sein Innenminister Genscher im Rahmen der Guillaume-Affähre den Kanzler ins offene Messer laufen liess, trat Brandt anstelle von Genscher zurück und rettete damit u. a. die sozialliberale Koalition.
Vielen Dank, Ludwig Greven. Die Politikverdrossenheit und der Verlust des Vertrauens in das politische System der Bundesrepublik wird weitergehen. Das durch dieses selbstherrliche Verhalten die Demokratie nachhaltig beschädigt wird, ist besonders bitter, weil es von denen gepflegt wird, die immer vorgeben, die Superdemokraten zu sein.
Herr Greven,
wenn Sie meine anderen Posts nicht freischalten wollen,
hätten Sie wenigstens die Freundlichkeit den einen – Ihnen scheinbar genehmen Post, den Sie freigeschaltet haben, zu löschen?
Ich habe hier früher im Forum relativ viel geschrieben und weiss, dass aus dieser Zeit noch einige hier mitlesen und -schreiben. Es ist mir daher wichtig, dass ich hier nicht in einer von Ihnen „kastrierter“ Form wahrgenommen werde.
Herr Posener hatte hier früher einen anderen Stil gepflegt.
Mit vorzüglicher Hochachtung!
68er