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Freiheit, die er meint: Joachim Gaucks Kritik des Liberalismus

Man hat es kommen sehen. Die  Frage war nur, wann Joachim Gauck die Gelegenheit ergreifen würde, wie von vielen Kritikern verlangt, seine Freiheitsrhetorik zu zügeln. Nun hat er ausgerechnet eine Rede zum Jahrestag der gewaltsamen Befreiung der Niederlande von der deutschen Besatzung dazu verwendet. Keine gute Idee.
Über die Kritik an Gaucks Freiheitsbegriff habe ich hier bereits einiges geschrieben:
Dabei habe ich unter anderem gesagt, dass die von den Grünen erfundene Phrase „Freiheit zur Verantwortung“  dem Bundespräsidenten eine Hintertür öffnet, die Freiheit im Namen der Verantwortung  einzuschränken. Das hat Gauck nun bei seiner Rede in Breda getan. Laut Agenturberichten kritisierte das deutsche Staatsoberhaupt das europäische Freiheitsverständnis: Während Völker in anderen Teilen der Welt die Freiheit entdeckten, könnten viele Menschen in Europa deren Segen „nur noch begrenzt erfassen“, so Gauck.. „Sie missverstehen Freiheit als Libertinage, als das Versprechen auf ein hedonistisches Lebensmodell, als politische oder ethische Beliebigkeit oder als Aufforderung zum Verzicht auf Mitgestaltung.“ Dabei fehle, „was besonders viele junge Menschen auf die Straßen und zum Protest treibt – Verantwortlichkeit, Verlässlichkeit, auch Gemeinsinn und Solidarität“.
Der ehemalige Pastor wurde, das sei hier nur nebenbei angemerkt, auf der Reise ins Nachbarland von seiner gegenwärtigen Lebensabschnittsgefährtin begleitet. Mir ist es völlig gleich, mit wem der Mann schläft, aber ich finde es schon ein Ding, wenn er dann andere Leute belehrt, sie dürften Freiheit nicht als Libertinage, Hedonismus oder ethische Beliebigkeit „missverstehen“. Der Mann, der immerhin einen Staat vertritt, dessen Verfassung den besonderen Rang von Ehe und Familie betont, mag sich die Freiheit herausnehmen, den sexualmoralischen Erwartungen zu trotzen, die bislang an den Amtsinhaber gestellt werden, und dazu soll er meinen Segen haben, aber dann sollte er den Zeigefinger nicht gar so erigieren.
Es ist schon erstaunlich, wie sehr Joachim Gauck inzwischen wie ein Echo des Joseph Ratzinger klingt (auch er ein Mann, der lieber vor der eigenen Tür kehren, genauer die Augiasställe seiner eigenen Kirche ausmisten sollte. Sie haben die gleichen Gegner: „Libertinage, Hedonismus, Beliebigkeit“. (Wer’s nicht glaubt, braucht nur die Begriffe zusammen mit den Namen „Ratzinger“ oder „Benedikt“ zu googeln, oder mein Buch zu lesen.)  Dafür, so meinen sie, dürfe der Begriff „Freiheit“ nicht „missbraucht“ werden.
Nun, es gehört nun einmal zur Freiheit eines Christen- wie jedes anderen Menschen, dass er mit ihr machen kann, was er will, und dass ihm weder Kirchenleute noch erst recht Politiker vorzuschreiben haben, was er darunter zu verstehen hat. Einem aktiven Kirchenmann könnte man das sogar eher nachsehen. Es gehört zum Markenkern der meisten Religionen, ihren Mitgliedern bestimmte Arten des Verzichts auf sinnliche Genüsse abzuverlangen, was die paradoxe Wirkung hat, die Anhänger noch stärker an die Organisation zu binden und sie zu ermutigen, auch intellektuell Verzicht zu üben. („Ich habe nun schon so viel in diese Geschichte investiert, da muss etwas dran sein.“)  Einem Staatspräsidenten, der das ganze Volk repräsentieren soll, steht es hingegen nicht zu, Libertinage und Hedonismus zu kritisieren. „The pursuit of happiness“ gehört nach Thomas Jefferson zu den elementaren Bürgerrechten, die der Staat gefälligst zu schützen habe. Ob Libertinage und Hedonismus, wie immer man diese Begriffe definiert, zum Glück der Menschen beitragen, ist eine philosophische, keine politische Frage. Die Freiheit ist aber  nicht nur die Freiheit des Andersdenkenden. Sie ist auch die Freiheit des Anderslebenden. Wenn der Islam zu Deutschland gehört, dann gehört der Hedonismus allemal dazu. Schließlich war das „Versprechen auf ein hedonistisches Lebensmodell“ – mehr Konsum, freies Reisen, besserer Sex, schnellere Autos – ein wesentlicher Impuls, der zum Fall der Mauer führte. Der Wunsch nach einer strengen, Gauck-Ratzinger’schen „Freiheit zur Verantwortung“ hätte niemals gereicht, um der DDR den Garaus zu machen, wenn etwa der unfreie Osten das Konsumentenparadies und der freie Westen so arm gewesen wäre wie es das Arbeiter- und Bauernparadies war.
Dass sich Gauck nicht scheut, „Gemeinsinn und Solidarität“ als Elemente der Freiheit zu beschwören, muss zu denken geben. Nichts gegen Solidarität. Ich bin Ver.di- Mitglied. Nichts gegen Gemeinsinn. Ich trenne meinen Müll. Aber sie sind eben Werte oder Haltungen, die ich als freier Bürger erstens definieren kann wie ich will und in deren Namen zweitens die Freiheit niemals eingeschränkt werden darf, soll nicht im Staat „der Terror des dörflichen Zusammenlebens“ (Niklas Luhmann) herrschen. Stadtluft macht frei, weil sie von der Diktatur des Gemeinsinns befreit. Ich kann so solidarisch oder unsolidarisch sein, wie ich will, mitmachen oder nicht mitmachen, wie ich will. Gerade diese Freiheit ist kostbar – kostbarer noch als die Freiheit, wählen zu gehen, zu reisen oder studieren zu können, was ich will. Nicht mitmachen müssen, sich dem Gemeinsinn und der Solidarität entziehen können, das ist gerade der Unterschied zwischen einer freien und einer totalitären Gesellschaft.
Ähnliches gilt für die von Gauck als nicht zur Freiheit gehörige „ethische oder politische Beliebigkeit“. Nun weiß ich nicht genau, was „ethische Beliebigkeit“ sein soll. Ich weiß aber, dass meine Freiheit, mir meine eigene Ethik zu entwickeln, nicht von der Politik beschnitten werden darf. Gesetze kann die Politik machen. Sie kann sie auch ethisch begründen und mich als Bürger zwingen, sie einzuhalten oder mich dafür bestrafen, sie nicht einzuhalten. Aber sie kann mich nicht zwingen, sie gut zu finden, und wenn sie noch so ethisch begründet daher kommen. So galt bis vor wenigen Jahren der Paragraf 175, der homosexuelle Handlungen im Namen der Moral als Verbrechen definierte. Heute sind wir eher geneigt den Paragrafen 175 als Verbrechen zu bezeichnen. So wurde der Philosoph Bertrand Russel verurteilt, weil er im Ersten Weltkrieg die Kriegsdienstsverweigerung verteidigt und empfohlen hatte, was damals als Verstoß gegen den Gemeinsinn, die Solidarität und den ethischen Grundsatz der Vaterlandsliebe gewertet wurde, vor allem aber gegen die Gesetze verstieß. Die Verurteilung war rechtens und entsprach dem Gefühl der überwältigenden Mehrheit der Bürger. Heute lesen wir Bertrand Russels pazifistische Schriften mit anderen Augen. Was also „politische Beliebigkeit“ angeht, so fragt man sich wieder, was das bedeuten soll. Die Gedanken sind nun einmal frei, auch und gerade die politischen. Und das ist gut so, weil sie sich ändern – und damit die ethischen und politischen Koordinaten.
Was „viele junge Menschen auf die Straßen und zum Protest treibt“ – etwa zur Teilnahme an der „Occupy“-Bewegung, die Gauck ja „unsäglich albern“ fand,  ist nicht das Fehlen von „Verantwortlichkeit, Verlässlichkeit, Gemeinsinn und Solidarität“, sondern das Fehlen von Jobs, Geld, Ausbildungsplätze und Zukunft – das Fehlen jener „Freiheit von Not“, die Franklin D. Roosevelt zu den „Vier Freiheiten“ zählte, in deren Namen der Sieg über Nazideutschland erkämpft worden war. Wie in Griechenland, Spanien, Italien und Frankreich, wo die Jugendarbeitslosigkeit zwischen 50 und 25 Prozent liegt, eine Zukunft zu schaffen ist, darüber muss diskutiert und gestritten werden; ich denke, dass die Lösung eher in der Liberalisierung des Arbeitsmarkts – also in einer Ausweitung der Freiheit – als in der Kritik der Freiheit im Namen der Solidarität zu finden sein dürfte. Wie dem aber immer auch sei: gefordert sind pragmatische Lösungen, nicht große Worte.
Gauck selbst hat sich wiederholt als „Demokratielehrer“ bezeichnet, wobei er offensichtlich die Tatsache, dass er einen Großteil seines Lebens in einem nichtdemokratischen Staat verbracht hat, als Qualifikation betrachtet. Andere würden das eher bezweifeln. Nun, erstens ist aber der Begriff ein Oxymoron. Zweitens gehört er nicht zur Jobbeschreibung eines Bundespräsidenten. Und drittens hat Gauck mit seiner Rede in Breda wohl gezeigt, dass er ein ganz guter Demokratielerner ist, indem er seinen Kritikern von linkskonservativer, grün-konservativer und christlich-konservativer Seite mit seiner Umwertung des Werts Freiheit nach dem Munde geredet hat; vom Liberalismus aber – wirtschaftlicher, sozialer, politischer und moralischer Natur – versteht er wenig. Ihm ist künftig mehr Jefferson und weniger Böckenförde als Lektüre zu wünschen.
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73 Gedanken zu “Freiheit, die er meint: Joachim Gaucks Kritik des Liberalismus;”

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    Keineswegs off-topic:
    Welche Freiheit?
    Empfehlenswert die gestrige Talk-Show von Sandra Maischberger. Wer gehört zu Deutschland?
    Antwort (leicht):
    1. Sandra Maischberger
    2. Wolfgang Bosbach
    3. Michel Friedman, Jude (muss hier mal erwähnt werden)
    4. Matthias Matussek, Katholik
    5. Renan Demirkan, geb. Türkin, Deutsche, Muslima
    6. Ayman Mazyek, Vorsitzender Zentralrat Muslime

    Es ist also alles dabei.
    Wer das Gefühl hat, er gehöre hier nicht hin, sondern nach Mekka, wandert am besten aus. Kristiane Backer, die sich von Esoterikerinnen kaum unterscheidet und die Frage nicht beantwortet hat, warum sie konvertiert ist, hat das getan. Sie lebt in Londonistan.
    Einer ist noch hier. Er fällt aus o.g. Reihe, die sich durch Klarheit und einem Gefühl für die Freiheit, die immer einzeln verhandelt wird, ausgezeichnet hat, heraus.
    Sehenswerte Sendung.

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    @homunkulus
    „Freiheit als negativen Begriff zu verstehen, wie es Schopenhauer mit der Willensfreiheit vorfabulierte, ist m.M. nach ergiebiger, … , da es bei ethischen Fragen zunächst auf den Charakter der handelnden Personen ankommt, die stets so agieren, wie es ihnen ihr jeweiliger Standpunkt jeweils nahelegt.“
    Soweit klar, nur vermute ich, daß wir, die da analysieren, nicht frei von einem „gegenwärtigen Standpunkt“ sind, was die Sache nicht vereinfachen würde. Mir als dilettierendem Nichtphilosophen bleibt da nur der Blick auf die Evolution, während derer sich der Mensch hat durchsetzen können, weil er in der Lage war, sich optimale Umweltbedingungen zu schaffen. Sein Überleben wird aber nur gesichert sein, wenn er dies auch weiterhin tut und zu jeder Zeit neu abzuwägen versucht, wieviel Gemeinsinn und wieviel Egoismus er dafür braucht. Ich sehe die Diskussion um Freiheit (= Egoismus?) genau in diesem Zusammenhang. Es geht also auch um das Menschenbild, daß sich auch ändern kann (muss?), da sich ja auch der Mensch entwickelt, entwickeln muss. Dazu passt auch ihr Hinweis auf Hirnforschung und Epigenetik. Mein Eindruck ist, daß sich in der Geschichte – in Wellenbewegungen – die Freiheit des Menschen summa summarum erhöht hat, wenn sich sich auch in bestimmten Bereichen stark verringert hat. (Denken Sie an Ihre Jugend, Feuer im Garten machen etc. oder überhaupt an heutige Umweltschutzgesetze.)
    Da ich aufgrund meines erlernten Berufes eher dazu neige mit thermodynamischen Ansätzen mit Begriffen, wie „Komplexität“ zu denken („Chaostheorie“), sehe ich die Ausdifferenzierung menschlicher Existenzformen positiv. Inwieweit das der „Gesellschaft“ zuträglich ist, wäre natürlich trotzdem zu diskutieren. Aber m.E. unter der Berücksichtigung der o.a. Frage: Wieviel „Gesellschaft“ (Gemeinsinn) ist notwendig?
    Mein Lieblingsbuch in Kindertagen war „Robinson Crusoe“. Besonders das Thema: Wie verändert sich das Leben von Robinson, als „Freitag“ dazu kam..

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    @KJN
    Sie haben natürlich recht (Kulturrevolution, Leute von gestern,…), aber mir geht es darum eine Diskussion zu befördern, die man nicht mehr mit phänomenologischen Analysen zum Begriff Freiheit bewältigen kann. Ethische Fragen sind im Prinzip Einzelfallfragen, und deshalb sind allgemeine ethische Erörterungen, und das wusste bereits Aristoteles, relativ „leer“. Politisch scheint es umungänglich, dass jede Stimme in ethischen Fragen gehört werden muss,was eine Art von Freiheit darstellen würde, die zwar organisatoriche Probleme aufwirft, aber angemessen erscheint (ähnlich auch Habermas). Freiheit als negativen Begriff zu verstehen, wie es Schopenhauer mit der Willensfreiheit vorfabulierte, ist m.M. nach ergiebiger, als es in existenzphilosophischer Weise vor zu exerzieren, da es bei ethischen Fragen zunächst auf den Charakter der handelnden Personen ankommt, die stets so agieren, wie es ihnen ihr jeweiliger Standpunkt jeweils nahelegt.

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    @ KJN
    Nochmal apropos bräsig: achgut ist langsam geworden. Eine Wahlanalyse mit „Wer sich grün macht, den fressen die Ziegen“, reicht nicht aus. Kocks ist da etwas schneller. Das Feindbild „Linke“ fällt im Moment weg. Mich erinnert das manchmal an ein Theaterstück mit Schablonen, die hin- und hergeschoben werden. Wenn der Erfolg zu Kopf steigt, kommt das Phlegma und die Einfallsarmut. Das haben wir in der Politik, der Wirtschaft, den Medien, überall. Dieses „Jetzt haben wir’s geschafft-Gefühl“, welches unberücksichtigt lässt, dass Politik auch immer aus denen besteht, die es nicht so leicht oder gar nicht schaffen.
    Was Sie über Akademiker schreiben, beobachte ich seit Jahren: Abnehmender Respekt vor Ärzten, Theologen, Geisteswissenschaftlern, Journalisten und Autoren, auch Verlegern. Nur der Jurist ist noch relativ unangefochten, da niemand da durchsteigt. Der Akademiker – der Idiot der Nation, auf dem man gern mal ‚rumtritt. Ein Busunternehmer oder Heizungsbauer kann mehr Kredit kriegen.

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    @Parisien
    „was sie denn werden wollen: “Hartz IV”..“
    Das ist nicht Faulheit, sondern Depression.
    Da sollte man den Sack auch voll machen und zuschnüren: Wenn aufgrund mangelnder Selbstwirksamkeit ganze Berufsgenerationen in solche verfallen („Burnout“), wird das Thema Freiheit zum volkswirtschaftlichen Faktor. Wirkungsvoller als Prävention und Therapie wäre eine wieder für alle funktionierende Wirtschaft. (Sagen wir für mehr, als jetzt, man wird ja bescheiden..)

    Der Zug geht aber woanders hin: homunkulus hat es dankenswerterweise angedeutet: Kulturrevolution nach maoistischem Vorbild zum Kampf gegen urbanen Hedonismus, Narzissmus und Positivismus – Akademiker an den Pflug. (Akademische Proletarisierung.) Ich praktiziere das schon länger mit Freude. Ich sage nur: Gemüsehandel!

    Übrigens geht mir diese Alt68er-Manie, die alte Zwanghaftigkeit („Hedonismus & Narzissmus..“) unter entgegengesetztem Vorzeichen ausleben zu „müssen“, gar nicht so weit am A… vorbei, man empfindet eher eine Art von Mitleid – wie mit alten Lehrern: Man hat sie gern, aber halt Leute von Gestern.

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    Die Freiheit der selbstverliebten Zauberlehrlinge geht mir direkt am A… vorbei.

    Hedonismus und Narzissmus, Elemente der Freiheit?

    Es scheint allmählich auch Zeit für ein Plädoyer für die Unfreiheit von Yuppies und ein Ende der Selbstvergessenheit einer fortschrittsgläubigen, dem Positivismus huldigenden Wissenschaftsgemeinde (zumindest aus meiner Perspektive als Homunkulus)? Vielleicht bedarf die Erörterung der „Freiheit“ in Hinsicht auf Hirnforschung und Epigenetik doch einer etwas engeren Toleranzbreite?

    Die Kritik Poseners bedeutet doch nur, dass es Gauck nicht gelungen ist, seinen Standpunkt „überzeugend“ zu entfalten. Das intellektuelle Niveau des wissenschaftlichen Sozialismus, unter dem Gauck, (als auch Merkel nebenbei gesagt) noch offensichtlich leiden, hat eben noch keine zeitgemäßen Worte, bzw. Sprache gefunden. Herr Posener zeigt, zumindest von der Methode her, interessante Ansätze.

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    @ KJN
    Die „altväterlichen Bräsigkeiten“ liegen eher daran, das ’68 pauschal, also zu 100%, abgelehnt wird, als wenn man sich schämte, dabei gewesen zu sein. Und welche Freiheit? Nun ja – achgut: Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust. Die eine ist von Random House. Gibt’s eigentlich noch freie Autoren?

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    @ KJN
    Ihr Sohn: Geben Sie ihm den guten Rat, nicht nur stur den Stoff zu bearbeiten, sondern auch mal auszubrechen und damit Interesse zu wecken. Wenn Lehrer Angestellte wären und nicht Beamte, wäre einiges gewonnen.

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    @Parisien
    Völlig richtig, die Frage nach der Perspektive der eigenen Kinder führt zu den ehrlichsten Antworten. So begann mein Sohn ein Maschinenbaustudium, obwohl ich bezüglich des Berufsbildes und der Studieninhalte skeptisch war, nicht nur wegen der Perspektiven. Aber er muss seine eigenen Erfahrungen machen und ich habe unterstützt, so gut ich konnte. Daß er nun wechselt, habe ich ohne große Gefühlsregung ihm gegenüber hingenommen, aber innerlich freue ich mich sehr über seine Entscheidung, erstmal ein Praktikum an einem Gymnasium zu machen. Einige Gründe sind wohl nach meinen Posts hier bekannt. Nach einigen längeren nächtlichen Telefonaten, weiß ich, daß er sich die Entscheidung nicht einfach gemacht hat und wenn ich auch weiß, daß der Lehrerberuf Tücken hat, so ist zumindest das Lehramstsstudium (wird wohl Chemie/Englisch sein) praxisorientierter und interessanter als früher und die Gefahr der Verbildung durch zu frühe Spezialisation nicht gegeben. Bei der vorhandenen Auffassungsgabe für Chemie/Physik bin ich auch froh, daß er sich nicht wie der Vater zu einem Diplomstudiengang hat hinreißen lassen, da erstens ein solches Studium (aufwändig!!) weder intellektuell noch pekuniär lohnend ist und zweitens seine (spezifische) Persönlichkeit zu einseitig gefordert wird. (Auch die mangelnde Industriekompatibilität hat sich offensichtlich vererbt.)
    Soweit das.
    Mein Interesse besonders bei diesem Thema hier liegt darin begründet, daß ich ein Versagen unserer Vertreter, Wortführer, wie Gauck u.a. erkenne, die offensichtlich komplett das Gefühl für Freiheit verloren haben, wenn die von solchen Sachen wie „Freiheit zur Verantwortung“ etc. faseln. Auch Broder, dessen „Achse“ sich ja der „Freiheit“ (welcher eigentlich) verschrieben hat, erscheint da nur begrenzt kompetent, wenn immer wieder solche
    altväterlichen Bräsigkeiten durchknallen, typisch übrigens für die wachstumsverwöhnten Alt68er-Derivate (nicht Sie, Lyoner).

    Status quo ist jedenfalls hierzulande:
    Wollen Sie was machen, das außerhalb des Mainstreams liegt, aber gebraucht wird, wollen Sie selbständig sein, wollen Sie richtig arbeiten – entsprechend Ihrer Vorstellungskraft und Ihres Könnens und nicht nur verwalten, dann tun Sie das anderswo. Hierzulande stören Sie nur damit!
    Denn hierzulande stellen sich andere was vor, nicht Sie, denn wir sind im Reich von ISO 900x, den Gremien und der Sicherheit. Wo kämen wir denn da hin?

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    @ KJN
    Dieses PraktikantIn sein, das gab’s schon vereinzelt zu meiner Zeit, weil es zu wenig Medizinerstellen gab. Das machten nur Streber. Der Rest war sich einig, dass das die Stellen rarefizieren würde und ging erstmal kellnern. Ich war zweimal ein halbes Jahr kellnern. Heute machen das viel zu viele mit, schon im Studium. Sie leben bei Mama und Papa, oder Mama und Papa zahlen brav die WG und Essen, und Sprößlig macht PraktikantIn und verdünnt die offenen Stellen.
    Unser einer Sprössling wäre gut für alles Geisteswissenschaftliche, aber Beamter kommt nicht in Frage. Also drei Jahre Kaffee kochen bei der „Zeit“ (mit etwas Pech bei „Bunte“) oder so was, und dann ein Pipi-Gehalt. Mit viel Glück ein Buch, aber das muss in jeder Hinsicht politisch korrekt sein, sonst ist es ja „nicht hilfreich“. Und am besten sollte man noch in China gewesen sein, sonst braucht man sich doch gar nicht zu bewerben.
    Mein anderer Sprössling will Architektur machen. Auch ganz tolle Aussichten. Wir sehen schon alle seine schönen Häuser.
    Jetzt sind wir bei der Medizin und Tiermedizin. Semesterferien? Pustekuchen. Praktikum. Anfangsgehalt? Man lacht sich kaputt. Wer als Kellner freundlich ist, kann auf mehr kommen. Der alte bayrische Spruch wird interessant: „Wer nichts wird, wird Wirt.“ Am besten in der Schweiz. Die stöhnen schon. Zu viele Deutsche.
    Und die Türken und Araber in den Neuköllner Schulen sagen auf die Frage, was sie denn werden wollen: „Hartz IV“. Ich finde das total realistisch, aber die Republik wundert sich, während sie Hotel Mama und Generation Praktikum unterstützt.

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    @ KJN
    Kürzlich fragte mal wieder eines meiner Kids, was denn nun das beste Studium wäre und was ich vorschlagen würde. Das war noch vor unserem Gemüsestand hier: Ich sagte: „Nichts. Ich würde erst das und das machen und später studieren. Oder willst Du Praktikant werden?“
    „Prima“, war die Antwort (glatter Einser). „Ich kann also auch erstmal nicht studieren? Das hätte ich dir nicht zugetraut mit deinem Bildungsfimmel.“ „Bildung kann man privat erwerbem“, meinte ich und hielt den Laptop hoch und zeigte auf die Bücher. Ist sowieso fraglich, wieviel Bildung man an der Uni noch kriegt. Zähl mal die Lehrer, die dir Bildung vermittelt haben.“
    Sie haben halbwegs die Hoffnung verloren. Ich auch. Gucken Sie mal Blessing. Er braucht den Zaster, damit er in denselben Hotels schlafen kann wie Rockefellers oder Bernanke oder gar der amerikanische Präsident. Wir verstehen das einfach nicht. Es ist eine Frage von Image und Connections. Wir sind einfach nur doof.

  12. avatar

    Tja
    Aktionärsschützer kritisiert Commerzbank-Chef „Kann man mit 500.000 Euro nicht leben?“

    11.05.2012 · Die Commerzbank hat das Gehalt ihres Vorstandsvorsitzenden fast verdreifacht, nun regt sich heftige Kritik. Die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger hält die neuen Bezüge für „vollkommen unangemessen“, die Commerzbank verteidigt sich nach Kräften.
    http://www.faz.net/aktuell/wir.....47820.html

    @ Lyoner
    War doch nur ein Scherz.

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    @ Moritz Berger und KJN
    Einerseits klingt das richtig (über Hayek):
    http://www.achgut.com/dadgdx/i....._progress/

    Andererseits fragt man sich, was Hayek heute sagen würde. Es kann ja nicht sein, dass noch viele Impulse kommen in der Zukunft, wenn Kleine und Mittlere und der oft innovationsfreudige Mittelstand zunehmend erdrückt werden. Random House ist überall.
    Auch in der Bauwirtschaft ist Impulslosigkeit angesagt. Es ist doch klar, dass keine großen Ideen mehr wachsen, wenn freie Architekten es zunehmend schwer haben (Generation Dauerpraktikum) und Fertighausfirmen florieren. Ein norddeutsches Bauernhaus hat erheblich mehr Charme als nachgebaute Reetdachbuden, meist in Doppelhausbauweise, alle gleich. Ein bayerisches Haus mit Holzbalkons ist attraktiver als ein Haus, das schon im Büro nach Schema F fertiggestellt wird. Gleichzeitig schwinden die Stellen, vor allem, wenn die Bauarbeiten von Leuten gemacht werden, die unter deutschen Lohnvorstellungen arbeiten. Wen die Buden hinterher keiner haben will, nennt man das Immobilienblase. In Spanien habe ich es noch großartiger erlebt. Dort baut schon lange, gestützt von EU-Geldern, MOPU (das Ministerium für Urbanisationsarbeiten) sogenannte urbanisations. Da stehen dann, teilweise über Jahre, Inseln aus Straßen mit Pfosten für Wasser und Elektrizität, Betoninseln mitten in der Landschaft, wartend auf Investoren. Falls das überhaupt je fertig wird, wartet man auf Käufer, teils jahrelang, denn das Zeug (die Buden) sind teuer. Wer aber so viel Geld hinblättert, will nicht unbedingt in einer einförmigen urbanisation leben. Man baut nicht nach Bedarf und Bestellung, sondern der Bedarf soll hinterher geschaffen werden. Niemals oder selten würden mittelständische Firmen, wenn sie es allein stemmen, sich auf so etwas einlassen.
    Es ist alles zu groß und zu gierig und funktioniert nicht mehr. Der Kapitalismus ist gefragt, sich zu reformieren wie einst die Kirchen, und hat’s noch längst nicht begriffen. Er verliert die vielgerühmte Vielfalt, die erst den Wettbewerb schafft. Im Prinzip ist es egal, ob man ein i-phone oder ein Samsung hat.
    In der Tierzucht ist es gar nicht unähnlich. Traf neulich einen Pferdezüchter, der klipp und klar sagte, dass das Gefriersperma das Ende der Individualität in der Zucht bedeute. Eines Tages, wenn das so so weiterginge, könne man auch statt Holsteiner, Oldenburger, Hannoveraner oder Trakehner Totilaserbe sagen.
    Diese Vereinheitlichung ist das Gegenteil von der Vielfalt, die Hayek rühmt. Also müsste sich theoretisch alles wieder verkleinern. Und in der Politik ist manche kleine Kommune, aber auch Bundesländer wie Bayern oder BW, bedeutend besser regiert als die Brüsseler Bürokratie.
    Und die Presse ist so lange nicht frei, wie wir User erwarten, dass sie umsonst ist, denn klar, dann kann sie nicht gegen den Financier, den Werbeträger, schreiben, und wesentliche Dinge bleiben unausgesprochen.
    Somit ist unsere Freiheit längst eingeschränkt.
    Und Gauck merkt das nicht oder meint, es reiche, wenn wir reisen und meckern dürfen. Gauck liegt in seiner Auffassung 20 Jahre zurück. Seine Kinder sind groß, sonst würde er mehr bemerken. Sein Freiheitsbegriff ist antik, und der türkische Gemüsehändler ist freier als die meisten Angestellten.

  14. avatar

    Hossa, wat is‘ denn nu‘ los?

    „…Ihm ist künftig mehr Jefferson und weniger Böckenförde als Lektüre zu wünschen…“

    Mit seiner Kritik am „Wertordnungsfundamentalismus“ erteilt Böckenförde gesinnungskonformistischen Bestrebungen und Ansprüchen, mit denen das kodifizierte Wertespektrum einer politisch-normativen Ordnung zugleich als Grenze des zivilgesellschaftlichen Wertespektrums definiert werden soll, eine ähnliche Absage, wie Sie doch auch. Gerade Böckenförde ist in so mancherlei näher an Ihnen dran, als es Ihnen lieb sein mag.

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    @Moritz Berger
    „Wer sich nicht wehrt lebt verkehrt“
    Staatlich industrielles Konglomerat, staatlicher Monopolkapitalismus (mit Siemens, Volkswagen, DIN & Co.), seit Kaiserszeiten ununterbrochen das deutsche (und japanische) Konzept. Auf Kosten unserer Freiheit.
    Wehren? Sehen Sie sich mal an, mit welcher Bereitschaft neue Regelungen und Sanktionen, Eingriffe in die persönliche Freiheit, begrüßt werden. Ich bin da etwas entmutigt. Und jetzt soll auch noch an deutschem Wesen Europa genesen..
    In absehbarer Zeit sucht man sich möglicherweise ein Ausweichquartier.

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    @ jan z. volens

    Ich lese immer vergnügt Ihre lateinamerikanischen Sichten auf uns Gringos. Ich finde Ihren Hinweis interessant, dass in USA die gruppenspezifische Orientierung an „Hedonismus“ á la Hollywood, Las Vegas und Alan Posener einer geringeren competitiveness korreliert ist und vice versa. Einen Teil können wir sicher auf Auswahlkriterien der Einwanderung zurückführen, nach denen die wettbewerbsfähigsten bevorzugt die Green Card bekommen. Das kann jedoch nicht die ganze Erklärung sein. Wenn wir hier genetische Faktoren kategorisch ausschließen, wo sehen Sie politische, soziologische, psychologische oder andere Ursachen dieser Entwicklung, insbesondere bei den vormals dominierenden Euro-Weissen? Sind dann nicht auch Propheten des Hedonismus wie Posener Dr. Feelgoods, die die Wettbewerbsfähigkeit (Orientierung an no-nonsense) untergraben?

    @ Parisien

    Ihnen ist immer noch nicht klar geworden, dass ich nicht Bestätigung durch „meinen“ Mann suche. Ansonsten: das Interview mit dem alten besonnenen Herrn ist doch schön?

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    @derblondeHans: Das war übrigens mal ein blühender Garten. Ja! Antonia Arslan: Das Haus der Lerchen Was für ein schönes Land.

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    Bitte um Entschuldigung für die Schreibfehler, war abgelenkt. Champagne-Frühstück und David Rothkopf natürlich.

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    @Parisien
    So isses und der Blick auf die Realität ist durch Ängstlichkeit, aber auch deutsche Überheblichkeit und fehlenden Diskurs verstellt.

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    Parisien: Somit gehört die Zukunft (KJN) dem türkischen Gemüsehändler, weil er es sich selbst einteilen kann.

    … Sie meinen so wie Anatolien? Das übrigens mal ein blühender Garten.

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    Wenn wir hier zu Hause über Demokratiedefizite diskutieren, mangelnde Freiheit für die Jugendlichen, darüber, dass wir von 8-13 Uhr Schule hatten, keine Absitz- (sog.“Frei“-)stunden, dann ein Mittagessen in der Familie, denn es gab noch die Mittagspause, dann werden wir etwas traurig. Auch damals war Deutschland ein sehr produktives Land. Ich meine, es könnte sogar sein, dass Leistung wie eine Sinuskurve ist mit einem Optimum in einem ausgeglichenen Verhältnis von Arbeit zu Freizeit/Familie. Die Amerikaner, die nur zwei Wochen Urlaub im Jahr haben, schienen nie produktiver zu sein als wir. Wir diskutieren ständig darüber. Ich glaube nicht, dass zunehmende Belastung und nachfolgende Lustlosigkeit die Produktivität steigern können. Jedenfalls sprechen viele schulische Leistungen dagegen.
    Somit gehört die Zukunft (KJN) dem türkischen Gemüsehändler, weil er es sich selbst einteilen kann. Und die Unzufriedenheit der Deutschen gehört wie der Regen zu diesem Land, wenn wir bis 67 arbeiten sollen, während Hollande wieder auf 60 gehen will. Wir sollten auch auf 60 gehen, finde ich, und die freiwerdenden Stellen mit jungen Spaniern, Franzosen und Griechen auffüllen. Das wäre ein sinnvolles Europa. Share the jobs.

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