avatar

Mensch, sei doch frei! Von der Lust und dem Fluch, alles zu regulieren

„Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten“ - Jean Jacques Rousseau. Grafik: Frank Vollmer

„Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten.“

(Jean-Jacques Rousseau, Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher und Komponist, 1712-1778)

Nun gut, wirklich frei geboren ist der Mensch nicht. Er ist von Geburt an abhängig: von seiner Mutter, von der Familie, Gesellschaft, Umgebung und so weiter. Ohne Zwang, ohne Ketten geht es nicht, denn nur auf sich allein gestellt ist der Mensch nach seiner „freien Geburt“ nicht lebensfähig. Aber so meinte es Rosseau, Vordenker der Aufklärung, eh nicht. Oder? Naja, ein wenig schon. Denn Teil seines Werks ist die Kritik an der Entwicklung von Gesellschaften und die Entstehung von Gesetzen und Hierarchien, die diesen natürlichen Zustand der Freiheit zunehmend einschränken. Und diese Kritik ist auch heute, fast 250 Jahre nach seinem Tod, immer noch aktuell.

Auch wenn sich Rousseaus Ansatz auf das Europa des 18. Jahrhunderts bezieht, haben sich die Abhängigkeiten doch höchstens verschoben, aber nicht verringert. Zwar gibt es keinen König mehr, und auch das Ständewesen ist abgeschafft, aber versuchen Sie doch einmal, im Staatsforst einen Hirsch zu erlegen. Damals wie heute gehört der Hirsch dem König / dem Staat. Und der sind nun einmal nur auf dem Papier wir alle. In der Praxis hat sich ein Bürokratismus entwickelt, der bestens geeignet ist, Menschen weiterhin in Ketten zu legen. Das gilt ganz besonders für Deutschland, wo man alles wasserdicht und vollkaskotauglich absichern will. Dass das Kreativität tötet und Individualität verhindert, dazu richtig Geld kostet? Geschenkt. Das Dach wird entweder rot oder schwarz geziegelt. Und wehe, der fertige Neubau weicht vom Bauantrag ab! Dann muss das Gebäude halt wieder abgerissen werden.

„Je mehr Verbote und Beschränkungen das Reich hat, desto mehr verarmt das Volk.“

Laotse (vermutlich 6. Jahrhundert vor Christus), chinesischer Philosoph und Begründer des Taoismus

Letztlich ist es wie so oft: Gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht. Die Idee hinter vielen Regulierungen ist es, die grundlegenden rechtlichen Beziehungen zwischen Bürgern in Deutschland zu ordnen und damit zu vereinfachen, denn für jeden gelten ja dieselben Spielregeln. In der Praxis aber hat diese Sehnsucht nach absoluter Rechtssicherheit dazu geführt, dass wir uns jeden Spielraum nehmen. Für alles und jedes gibt es einen Paragrafen. Allein 2385 davon finden wir mittlerweile im Bürgerlichen Gesetzbuch. Noch 1950 waren es „nur“ 1713. Es gibt nun einmal nichts, was nicht nicht reguliert werden könnte.

Wobei diese Regulierung nur eine Seite der Medaille ist. Auf der anderen finden wir die Strafen bei Verstößen gegen diese Regulierungen, also die Sanktionen. Während die grundsätzlich bei Verbrechen angebracht und notwendig sind, fehlt mir doch oft das Verständnis dafür bei Vergehen ohne Opfer. Nur ein Beispiel: Ein Autofahrer ist nachts auf der Autobahn unterwegs. Es ist trocken, er ist weit und breit der einzige auf der Strecke. Plötzlich ein greller Blitz: Er war mit 120 km/h laut Tacho unterwegs anstatt der „erlaubten“ 100 und bekommt in den nächsten Tagen ein teures Foto nach Hause geschickt. Aber warum eigentlich? Wem hat der Autofahrer hier weh getan, wem hat er geschadet oder wen wenigstens beeinträchtigt?

„Die Bürokratie wurde erfunden, um die Bedürfnisse der Bürokratie zu stillen.“

(Verfasser unbekannt)

Die Liste der Vergehen, für die man sanktioniert werden kann, obwohl es kein Opfer, keine Benachteiligten gibt, ist lang. Und wieso? Es könnte oder müsste dem Staat doch egal sein, wie schnell der Souverän, der Bürger, nachts auf einer leeren Autobahn unterwegs ist. Dazu kommt, dass viele Tempolimits, um bei diesem Beispiel zu bleiben, recht willkürlich ausfallen. Warum war an dieser Stelle Tempo 100 und nicht 120 oder Richtgeschwindigkeit? Musste hier überhaupt reguliert und der Bürger so der Gefahr ausgesetzt werden, gegen diese Regulierungen zu verstoßen? Und, hat die Gesellschaft überhaupt etwas davon, wenn dieser Autofahrer ein Bußgeld zahlt? Die Summe verschwindet schließlich in den Mahlwerken der Bürokratie.

Auf etwa 65 Milliarden Euro werden die direkten Kosten der deutschen Bürokratie vom ifo Institut geschätzt, die entgangene Wirtschaftsleistung liege sogar bei etwa 146 Milliarden Euro, heißt es in der Publikation der Wissenschaftler. Man muss kein Volkswirt sein um zu ahnen: Dieses Geld wird verschleudert, weil wir uns ein Monster gezüchtet haben. Und dieses Monster braucht Futter. immer mehr. Allerdings ist dieser Hunger der Bürokratie nach Geld und Beachtung bei weitem nicht die einzige Erscheinungsform der Überregulierung. Denn wir erleben einen Staat, der seine Aufgaben als bloße Verwaltung im Sinne seiner Bürger massiv missversteht. Er ist nicht, wie früher in der Monarchie und im Absolutismus, der Chef des Apparats, sondern gewählter Vertreter der Gesellschaft, also auch dieses Autofahrers. Diese Verwaltung hat nicht die Aufgabe, die Menschen zu erziehen – das ist schlicht übergriffig. Ihre Aufgabe ist viel simpler. Sie soll den Rahmen schaffen, dass jeder Bürger sich selbst bestmöglich verwirklichen kann, ohne andere dabei zu schädigen. Dafür braucht es Regeln und Gesetze, aber sicherlich nicht derart viele und in so vielen Bereichen

„L’État, c’est moi!“

Ludwig XIV (1638-1715), französischer König aus dem Haus der Bourbonen

Vor allem: Bei vielen Gesetzen schimmert der Missionierungsgedanke durch, der Erziehungsvorsatz. Und das ist fatal, denn mündige, volljährige Bürger brauchen sich nicht erziehen zu lassen. Es steht Politikern, egal welcher Couleur, schlichtweg nicht zu. Und da kann der Gedanke dahinter auch noch so edel wirken (zumindest im Glanze des Zeitgeists betrachtet), es ist grundsätzlich falsch.

Derzeit fällt das staatliche Selbstmissverständnis am deutlichsten beim Thema Klimapolitik auf. Eine zusätzliche Abgabe hier, eine weitere Steuer da, alles unter dem Deckmantel des Klimaschutzes – am Ende stehen galoppierende Lebenshaltungskosten für die Bürger, die gar nicht anders können, als diese zu zahlen. Denn, wer Energie verteuert, verteuert damit alles. Seit 1998 haben sich die Strompreise in Deutschland verdoppelt – und die Verbraucher zahlen diese Mehrkosten zwei- und dreifach: Nicht nur wird ihre eigene Stromrechnung teurer, auch berappen sie für Preissteigerungen bei Waren und Dienstleistungen, weil deren höhere Kosten weitergegeben werden (müssen). Der Bürger als Melkkuh staatlicher Erziehungsversuche? Zumindest kostet die Energiewende deutlich mehr als eine Kugel Eis, die der damalige Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) 2004 prognostizierte. Tatsächlich sind es, je nach Kugelpreis, viele, viele Kugeln. Und der oberste Preistreiber sind nicht die Stromproduzenten, sondern der Staat. Um die 30 Prozent des Preises für Endverbraucher machen Mehrwertsteuer (19 Prozent), Konzessionsabgaben, Umlagen sowie weitere Abgaben wir die Stromsteuer (2,05 Cent pro Kilowattstunde) aus. Und aus dem Gewinn aus dem Energieverkauf müssen die Anbieter ja auch noch einiges an direkten und indirekten Steuern bezahlen.

Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.

Charles de Secondat, Baron de Montesquieu (1689 – 1755), französischer Staatstheoretiker und Schriftsteller

Der staatliche Gottkomplex wird spätestens dort deutlich, wo er in die Eigentumsverhältnisse der Menschen eingreift und ihnen Anschaffungen verwehrt oder vorschreibt. Anstatt die Menschen zu informieren und sie letztlich selbst entscheiden zu lassen, werden Technologien gefördert oder gar verboten. So setzt sich nicht der Markt durch, nicht das beste Produkt, sondern der Plan. Und das war noch nie eine gute Idee, schließlich ist auch Planwirtschaft immer ein Kind des Zeitgeists. Wenn der sich verändert, ist der Plan eben hinfällig. Bestenfalls.

Diese Liebe, dieser Zwang zum Verbieten ist Ausdruck des tiefsten Misstrauens der Politik gegenüber den Menschen. Sie traut dem Volk gar nicht erst zu, sich mit Fakten auseinanderzusetzen und selbst abzuwägen. Sie setzt ihm stattdessen Entscheidungen vor, deren Sinnhaftigkeit oft genug den Realitätstest nicht besteht. Es gibt auch schon längst keinen Wettbewerb der besten Idee, der besten Argumente mehr – mittlerweile steht das Ergebnis einer Entscheidungsfindung bereits vorher fest, und es geht nur noch darum, dieses Ergebnis zu begründen. Das alles hat nichts mehr mit Freiheit zu tun, mit Selbstverantwortung, freiem Willen und eigenen Entscheidungen, vor allem auch nicht mit dem Verständnis des Volks als Boss in einer Demokratie. Es ist an der Zeit, dass Politiker sich wieder ihrer Aufgaben besinnen: Politik machen für die Menschen, getragen von den Menschen. Und nicht zu versuchen, diese Menschen stattdessen zu erziehen.

„Die beste Regulierung ist die, die es nicht gibt.“

Verfasser unbekannt

Shares
Folge uns und like uns:
error20
fb-share-icon0
Tweet 384
avatar

Über Till Becker

Langjähriger Journalist mit breiten Interessen. Aufgewachsen in Hildesheim, Zeitsoldat bei der Marine, seit einigen Jahren heimisch in der ostfriesischen Idylle. Lokalredakteur mit Leidenschaft, aufmerksamer Beobachter. Hat eine starke Vorliebe für Musik, die andere als Krach bezeichnen könnten. War Jugend-Fußballtrainer und versteht nicht, warum man einen SUV fahren sollte. Liebt Fischbrötchen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Shares
Scroll To Top