(Karikatur: Andre Utkiek)
Irgendwo und irgendwann in den vergangenen Jahrzehnten ist es passiert, heimlich, still und leise: Das erlebnisorientierte Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll wurde ersetzt durch Spießigkeit, durch eine vorgebliche Vernunft. Was für den Einzelnen durchaus eine erstrebenswerte Einstellung sein mag, ist gesamtgesellschaftlich eine Katastrophe. Wir haben die Freiheit, das Recht auf Rausch, gegen ein Sicherheitsdenken eingetauscht, das uns lähmt. An die Stelle von Kreativität und situationsbedingter Spontaneität sind Vorschriften und Überwachungen getreten. Willkommen im Land der Klemmfurzer! Eine Polemik
Leistungsfähig, kontrolliert, wach und verlässlich.
Klemmfurzer, jene verkniffenen Zeitgenossen, die jede Lebensfreude durch den Filter der Bedenken pressen, bestimmen längst die Diskussion. Sie rauchen nicht, trinken nicht, vögeln nicht, und wenn sie feiern, dann im alkoholfreien Bereich mit vertraglich geregelten Pausen. Der Hedonismus wurde zur Event-Agentur mit Notfallzelt und Sanitätsdienst. Eskalation? Ja, aber bitte mit vorheriger Anmeldung, Sicherheitsunterweisung und veganer Grillwurst.
Was einst als Rebellion gegen das Spießertum galt – ein Absturz, eine durchzechte Nacht, ein Rausch – ist heute moralisch geächtet. Wer nicht nüchtern bleibt, gilt schnell als unsolidarisch, instabil oder gar gefährlich. Die neue Askese wird nicht mehr religiös begründet, sondern mit Selbstoptimierung, Gesundheit und Effizienz. Der moderne Mensch soll leistungsfähig, kontrolliert, wach und verlässlich sein. Der Rausch ist bestenfalls ein metabolisch sauberer Endorphinschub nach dem Triathlon.
Die Liebe zum Rausch, zum Risiko ist absolut menschlich
Dabei ist der Drang zum Rausch nichts Pathologisches. Es ist uralt. Der Mensch hat immer Wege gesucht, die Ketten des Frontallappens abzuwerfen – sei es durch Alkohol, Ekstase oder Ekstase durch Alkohol. Heute ersetzt man das mit Clean Eating und Dopaminschüben aus dem Fitnesstempel. Die moderne Gesellschaft hat sich vom zügellosen Ich verabschiedet. Stattdessen regiert das lückenlos versicherte, selbstoptimierte Subjekt, das nüchtern bleibt, um die volle Leistungsfähigkeit für den nächsten KPI-Report oder Sprint-Call zu erhalten. Exzesse sind höchstens als wirtschaftliches Potenzial in Festivals oder Fitness-Apps zugelassen. Und wehe, jemand genießt zu laut – da droht der Zeigefinger gleich aus der nächsten Kommentarspalte.
Besonders deutlich wird diese neurotische Reinheitslehre im Straßenverkehr: Da kriechen erwachsene Menschen mit 42 km/h durch eine leere Allee, als könnten sie durch Regelbefolgung den Weltuntergang abwenden. Tempolimits, so sinnfrei sie auch sein mögen, werden mit einer Inbrunst verteidigt, als hinge das Seelenheil der Republik daran. Mancher säße am liebsten mit Helm und Rückenprotektor im Kleinwagen, am besten noch mit einem Beifahrer zum Händchenhalten. Und weil der Mensch ja bekanntlich fehlbar ist, soll nun das autonome Fahren richten, was früher Instinkt, Erfahrung und ein Hauch Risikobereitschaft regelten – Hauptsache, man ist später niemandem mehr verantwortlich, außer dem Algorithmus.
Stell Dir vor, es ist Zombieapokalypse in Deutschland…
Und wenn die Zombies kommen? Jeder zweite würde in der Apokalypse doch lieber an der roten Ampel stehenbleiben, als mit einem Regelverstoß die Flucht anzutreten. Das ist keine Karikatur – das ist Deutschland 2025. Sicherheit ersetzt Spontaneität, Planbarkeit ersetzt Lust. Die Spaßgesellschaft hat sich selbst kastriert – aus Angst vor Kontrollverlust, Krankheit und Klimawandel. Und so lebt man hierzulande zunehmend im Modus der Selbstvermeidung: gesichert, geregelt, geklemmt. Das Spießertum hat den Kampf letztlich also doch gewonnen, die siegreichen Legionen kommen allerdings aus einer überraschenden Richtung.
Vielleicht ist es an der Zeit für den inneren Klemmfurzer, gelegentlich mal eine zu rauchen, sich einen guten Whisky einzugießen, laut Musik zu hören oder nachts barfuß durch nassen Rasen zu laufen. Oder ein wenig zu schnell über eine einsame Straße zu fahren, bei offenem Fenster oder sogar Verdeck. Einfach, weil das Leben mehr ist als eine Abwägung von Risiken. Die Klemmfurzer werden das Ende der Welt auch nicht überleben – aber immerhin sterben sie vorschriftsmäßig.
Mich hat die politische Richtung der Neo-Verklemmten auch zuerst irritiert, mittlerweile erscheint sie mir folgerichtig: Wer jedes Risiko vermeiden will, glaubt halt ‚der Wissenschaft‘ und vertraut auf den starken Staat, der alles überwacht.