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Affentheater in Potsdam – „Ein Bericht für eine Akademie“ von Franz Kafka am Hans-Otto-Theater

Es liegt näher als man denkt, dass man in einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint, Kafkas Monolog auf die Bühne hievt. Das Adjektiv „kafkaesk,“ das Zustände und Vorgänge in deren derben Absurditäten das Leben affektieren, beschreibt das, was in Potsdam in der Reithalle Box zu erleben ist: Einsamkeit und Selbstausbeutung für Klicks und Likes in einer nahezu vollständig vernetzten Welt.

Worum geht es?

Ein Affe wird bei einer Expedition des Tierparks Hagenbeck an der Goldküste in Afrika angeschossen und gefangengenommen, um ihn einem „zivilisierten Publikum“ vorführen zu können. Der Affe, „Rotpeter“ genannt, wird in einem Verschlag per Schiff nach Europa transportiert. Unterwegs und in der Folgezeit lernt Rotpeter, scheinbar menschliches Verhalten anzunehmen, sein „Affentum“ nach und nach abzulegen, um seine neue Lebenswirklichkeit zu adaptieren, sich in die sogenannte Zivilisation zu integrieren. Das beginnt mit der Nachahmung von Spucken, Rauchen und Alkohol trinken und endet in einer Attitüde, deren Bestreben es ist, sich selbst zur Marke zu machen. Rotpeter entscheidet sich bewusst für ein Leben als Freak, der durch Varietés tingelt und sich ausstellen lässt. Die Menschen reagieren, wie Menschen reagieren, die sich selbst für die Krone der Schöpfung halten: Gelächter, Verehrung und Ausbeutung des Affen. Schließlich wird das Menschentier zur Ware.

Worum geht es wirklich?

Der konzeptionelle Ansatz der Inszenierung von Anna Michelle Hercher, Dramaturgie: Emma Charlott Ulrich, ist eine überraschende, gelungene und gnadenlose Über-übersetzung in das Hier und Jetzt, eine Neuadressierung des Textes an ein Publikum, das ohne verstetigtes Onlinesein quasi nicht mehr existent ist. Für jemanden, der sich im ständigen, bewussten Detox befindet, mutet dieser Teil unserer Realität tatsächlich wie ein Affentheater an.

Rotpeter wird dem Publikum als Influencer präsentiert, immer auf der Jagd nach neuem Content – nichts ist so alt wie der Stream von gestern. Dass er dabei seine eigene Biographie plündert, ist Teil des Plans. In einem Spielraum, Bühne und Kostüm: Michelle Huning, in dem sich drei große Spiegelwände, ein Schminktisch, eine Kleiderstange und eine kreisende Selfiekamera, deren Bild ständig auf eine Leinwand projiziert wird, befinden, rast Rotpeter von Sensation zu Sensation. Ein von seiner jämmerlichen und bemitleidenswerten Existenz getriebenes Tier, das sich einen Käfig gebaut hat, der nicht größer ist als ein Handydisplay.

Im Zusammenspiel mit den Spiegeln und den daraus entstehenden Infinity-Mirror-Effekten wird Rotpeter zur Marke vervielfältigt und doch immer wieder nur auf sich selbst und seine Einsamkeit als Attraktion des Internets zurückgeworfen. Mit diesem und einer Vielzahl anderer Bildhaftigkeiten schafft die Regie einen Abend, der der „Generation Instagram“ im wahrsten Sinne des Wortes ihr Spiegelbild vorhält und auch die, die es nicht betrifft, zwingt, hinzusehen. Besonders sinnfällig wird dies, wenn Rotpeter am Ende des Stückes die drei Spiegelwände zu einer großen Fläche vereint und sie so platziert, dass sich das Publikum darin selbst betrachten muss. Postmoderne Dramatik ohne postmodern zu sein, denn alles entwickelt sich organisch aus der Figur, aus den Vorgängen und ist stets mit sinnlicher Konkretheit verknüpft, und doch sind die Vorgänge dirigiert .

Schon während des Einlasses zu diesem Abend läuft auf der Leinwand über der Bühne ein Video, das den Schauspieler UND die Figur als Beobachter UND als Beobachteten in einem kafkaesken Zeitraffer zeigt, währenddessen der Schauspieler das, noch halbprivat und halb schon in der Rolle, observiert. Die Regie setzt hier schon, bevor das erste Wort gesprochen wird, die Akzente, die ihr wichtig sind, um das Geschehen nahbar zu machen.

Die Entscheidung, zusätzliches Material von Kafka zu seinem Text in die Inszenierung zu integrieren, erweitert auf einer zusätzlichen Ebene den konzeptionellen Ansatz, um Rotpeters emotionale Situation konkret erlebbar zu machen. Das Interview, das eine KI-Stimme am Ende des Abends mit Rotpeter führt, verdeutlicht sehr eindringlich, die Fremdbestimmtheit und Einsamkeit der Figur.

Jeux de force

Paul Wilms zeigt und gibt als Rotpeter alles: Raserei, Freude, Überdruß, Spaß am Sein und die Resignation darüber. Wilms fordert alles von sich und seiner Figur. Er treibt seinen Rotpeter – und damit sich selbst – über sich selbst hinaus. Es gelingt ihm, das Publikum Mitleid mit Rotpeter haben und im nächsten Augenblick seine Perspektive der Verachtung des Menschen einnehmen zu lassen, manchmal sogar beides zeitgleich. Sehr feine und sehr brutale Brüche wechseln sich ab. Eindringlich schafft Wilms eine digitale Realität aus Show und Verzweiflung, aus der Rotpeter sich vielleicht in eine analoge Realität zu flüchten versucht, die ja allerdings schon mit dem Theaterraum vorhanden ist. Vielleicht tut er aber auch nur so. Ob er es schafft, wenn er sich am Ende, nahezu das einzige Mal von seiner Handykamera unbeobachtet, erschöpft vor die Spiegelwand zum Schlafen legt, überlässt er dem Publikum. Man nimmt sich ja doch immer selbst mit, egal, wie weit und wohin man geht, scheint die Figur zu träumen.

Wilms verknüpft den „Influencer Rotpeter“ mit dem „Affen Rotpeter“ zu einer mehrdimensionalen Einheit. Wie er diese Verknüpfung ausstellt, ist kraftvoll und bis in die kleinsten Vorgänge und leisteten Töne sehr intensiv. Wenn Wilms Rotpeters Affenvergangenheit über den ganzen Text hinweg in kleinen Bewegungen wieder und wieder durch „äffisches“ Gebaren aufblitzen lässt, Kratzen, Schütteln, Haareraufen, erzeugt das Komik und Tragik zugleich. Auch seine extemporierten Selbstadressierungen, mit denen er sich vorwärts treibt, sich zur Ordnung ruft, machen die Welt, in der er sich bewegt, begreifbar. Dass man dabei auch immer mal wieder das Gefühl hat, man schaut wirklich einer Verwandlung zu – ein großes Thema in Kafkas Gesamtwerk – ist durchaus beabsichtigt.

Wenn Paul Wilms sich mit einem Bananenohrring und einem überdimensionierten Pelzmantel als Fassade sein Affentum für einen Varietéauftritt, bei dem er Peter Fox‘ „Stadtaffe“ rapt, zurückholt, gelingt ihm ein besonderer Moment eines Vorgangs. Zu gleichen Teilen kann man das mit Einverständnis und Angewidertsein betiteln. Die Illustrierung des Textes durch absolut stimmige Attitüden weist auf Nachahmung UND Opposition dazu hin. Das ist wirklich großes Theater.

„Ich, freier Affe, fügte mich diesem Joch,“ ruft Rotpeter aus, wenn er den Weg in seine jetzige Existenz als selbstverschuldet erklärt. Die Geschichten über Influencer, die sich selbst gern als „Content Creator“ bezeichnen, die mit Burnout und anderen mentalen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, bekommen ein Gesicht. Die eigene Existenz ist nur etwas wert, wenn man gesehen wird und Likes und Follower generieren kann. Schafft man das nicht mehr, kann man sich vielleicht wirklich nur noch mit verlaufener Schminke als Sinnbild des von sich selbst zerstörten Mummenschanzes, Maske: Hannah Rappsilber, vor eine große Spiegelwand zur letzten (?) Ruhe legen.

Nächste Vorstellungen: 09.06. und 18.06.2025, jeweils 19.30 Uhr in der Reithalle Box.

https://www.hansottotheater.de/spielplan/

Daniel Anderson: Berufsausbildung zum Flugzeugmechaniker. Regiestudium an HFF „Konrad Wolf“ in Babelsberg. Berufsverbot als Filmregisseur in der DDR. Oberspielleiter, Autor und Schauspieler am Theater Senftenberg. Nach dem Mauerfall freier Regisseur, Autor (TV-Serie, Theater, Synchron), Schriftsteller und Musiker. Studium Vergleichende Religionswissenschaften in Bonn. Gründer und Leiter der „Theaterbrigade Berlin.“ Andersons Bücher sind im Spiegelbergverlag erschienen. https://spiegelberg-verlag.com/component/eshop/daniel-anderson Anderson lebt in Berlin und immer mal wieder in Tel Aviv.

Foto: Thomas Jauk

 

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