Sie haben sich wieder zu Wort gemeldet. Vor zwei Wochen. Mit ihrem Aufruf, einen Freiheitskampf der Ukraine zu unterstützen. Die, welche bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit betonen, schon hinter der Mauer für die Freiheit gekämpft zu haben. Anscheinend befürchten sie, es würde ihnen sonst keiner glauben.
Und ich erinnere mich:
„Hier, die habe ich eingebüßt in Ihrem faschistischen Kriege!“
Zornig ist der Hauptmann der Volkspolizei vor mir in jenem Herbst 1983. Er hält mir seine rechte Hand vor mein Gesicht. Der Mittel- und der Zeigefinger fehlen ihm.
Ich bin 23 in jenem Jahr und er mag etwa 50 Jahre alt sein. Dann war der Hauptmann vielleicht 16 oder 17 im Jahr 1945. Flakhelfer oder doch noch Soldat der letzten Stunde.
Ich habe ihn erzürnt. Nicht nur, weil ich zu ihm aufs Meldeamt gekommen bin, weil ich meinen „PM 12“ verloren hätte, eine Abkürzung für Paß- und Meldewesen, Dokumentyp 12 (Bild unten).
Er weiß ja auch gar nicht, dass ich ihn anlüge, das Dokument versteckt habe, um es später mal präsentieren zu können. (Bild unten).
Vor allem ist der Hauptmann zornig über mich, der ich mir den PM 12 eingehandelt habe:
Ich habe etwas verbrochen, ich komme aus dem Gefängnis.
Ich habe nicht irgendetwas verbrochen, ich habe den Friedenswall verletzt, der zwischen den Militärblöcken, dem Warschauer Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand und der North Atlantic Treaty Organization aufgebaut ist. Und ich belästige ihn noch immer mit meinen Ausreiseanträgen.
„Friedenswall“, nein das ist nicht nur Parteisprech.
„Die geschlossene und schwerbewachte Grenze ist in der Tat einer der wundesten Punkte unseres Staates. … Wir können sie nur als ein Faktum hinnehmen. Dafür, dass wir das tun sollten, gibt es allerdings politische Gründe, die vor allem mit der Erhaltung des Friedens in Mitteleuropa zu tun haben.“
So hat der evangelische Propst Heino Falcke auf dem Erfurter Domplatz gepredigt, der DDR-Übervater dieses „Konziliaren Prozesses“ um „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ . Manche nennen ihn auch den „Vater der Friedlichen Revolution“.
Sie können es nachlesen in diesem 1986 im evangelischen Wichern-Verlag (DDR) erschienenen Buch:
Der Domplatz soll sich nach Falckes Worten um etwa 1/3 der Zuhörer geleert haben, behaupten die, die dabei waren. Nicht nur wegen dieser oben zitierten Worte, sondern auch wegen der Worte, die er an die Ausreisewilligen unter seinen Zuhörern richtet:
„Ist die Übersiedlung in den Westen wirklich der Ausweg aus den wirklichen Problemen, die ihr habt? Mehrfach habe ich beobachtet, und andere haben diese Beobachtung bestätigt, dass die Motivation für den Ausreiseantrag nicht in der gesellschaftlich-politischen Situation lag, die man verlassen will, sondern in persönlich-familiären Problemen, die man mitnimmt.“
Nein, es gibt weder 1983, noch 1984, noch 1985, noch 1986, noch 1987, noch 1988, noch 1989 einen „Die Mauer muß weg“ – Ruf im Osten.
Für das Parteisprech sowieso nicht, aber auch in den Äußerungen der Kirchenmänner und Kirchengremien wird es ihn nicht geben. In den sich später bildenden Initiativen „Frieden und Menschenrechte, IfM“ und „Demokratie Jetzt“ und „Neues Forum“, also denen, welche noch später als „Bündnis90“ zu den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 antreten, gibt es diesen Ruf auch nicht.
Der „Friedenswall“ ist angstbesetzt.
Dort liegt die Büchse der Pandora. An die rühre man lieber nicht. Glauben die, die das glauben.
Würde sich wirklich die Büchse der Pandora öffnen, wenn die in der Umweltbibliothek zu Ostberlin nicht die Umwelt, sondern die Mauer zum Thema machten?
Na und ob!
Das Ministerium, das zuständig ist für die Sicherheit des Staates, reagiert ausgesucht ekelig auf so etwas.
1.734 Personen wird das Ministerium für Staatssicherheit noch im Jahr 1988 unter dem Vorwurf verhaften, einen ungesetzlichen Grenzübertritt geplant zu haben.
Nimmt man noch die Strafvorwürfe gegen Ausreisewillige unter dem Vorwurf staatsfeindlicher Zusammenrottungen oder Verbotener Kontaktaufnahmen hinzu, so werden sich etwa 2.750 Verhaftungen des MfS im Jahr 1988 unter den Vorwurf vollziehen, über die Mauer zu wollen.
Das kann man heute nachschlagen im letzten (geheimen) Jahresbericht der Hauptabteilung Untersuchung des MfS zu seinen 3.668 Verhaftungen des Jahres 1988. Etwa 90 % daraus, also etwa 3.300 müßten als politische Verfolgung erkannt werden, erläutert der Historiker Frank Joestel, der den Bericht 2004 veröffentlicht.
Ein DDR-Bürger, der die „Mauer muß weg“ ruft, der sitzt dann ein beim Ministerium für Staatssicherheit und nach spätestens 12 Monaten Haft unterschreibt auch er seinen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR.
Und wird freigekauft wie 95 % der vom MfS Verhafteten. In dieser Prozentzahl von 95 jedenfalls schätzt das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen vom 21. September 2000 (dort unter Randziffer 28) den Freikauf in den 1970er und 1980er Jahren ein.
- „Ausreisen“ über die Mauer und das auf Nimmerwiederkehr
- oder „Hierbleiben“ hinter der Mauer,
das sind die Rahmenbedingungen, die das Ministerium für Staatssicherheit 1983 setzt und bis 1989 setzen wird.
Und daran entzünden sich schon 1983 alle Spannungen zwischen „Wir wollen raus“ und „Wir bleiben hier“. Und werden sich bis 1989 weiter entzünden.
Die Öffnung der Grenzübergänge der DDR gen Westen in der Nacht des 9. November 1989 durch die SED selbst, …
… Das wird die Friedens- und Menschenrechts- und Demokratiegruppen in der DDR einmal völlig unerwartet und wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen. Das werden sie nicht auf der Agenda haben.
Bärbel Bohley wird sich offen entsetzt zeigen. Der Traum von einer wirklich demokratischen DDR wird ja ausgeträumt sein. Jetzt kommt der Anschluss an die Bonner Republik.
Kann es aber überhaupt Menschenrechte, kann es Bürgerrechte, kann es Demokratie hinter einem Stacheldraht geben?
Die Ansicht, dass es in einer Gefangenenselbstverwaltung in einem Gefängnis eine „innere Demokratisierung“ gebe, die wird 1989 durchaus vertreten.
„Die Reihenfolge der Änderungen war falsch. Es hätte die innere Demokratisierung weiter vorangetrieben, die Öffnung der Grenzen angekündigt werden müssen.
Das wiederum hätte zu einer Umstrukturierung der DDR auf der höheren Ebene führen können und auch den Oppositionsgruppen mehr Spielraum gegeben. Sie hätten die politische Praxis gewinnen können, die vielen fehlt.“
Das wird auch ein Günter Grass zwei Wochen nach Öffnung der Grenzübergänge zu Protokoll des Spiegel geben.
Ja, „DDR-Bürgerrechtler“ haben in den 1980er Jahren sehr unausgegorene Vorstellungen davon, was der Bürger überhaupt an Rechten haben könnte.
Und unvollkommen ist in dieser Zeit mein Wissen darum auch. Deshalb nehme ich mir in diesem Jahr 1983 vor:
„Bodo, wenn Du nach dem Westen kommst, dann studierst Du diese Sache mit dem Recht.“