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Die garnicht so hilflosen Helfer – oder: Sind wir nicht alle ein bisschen Anya?

Anya rackert 16 Stunden am Tag. Die ehemalige Maklerin lebt in einem Badeort nahe Odesa, der im September 2022 fast vollständig zerstört wurde. Anya hat 2022 eine NGO gegründet, die seitdem direkt an der Front agiert: Menschen retten, Alte und Kranke versorgen – ohne Einkommen, ohne Rücksicht auf Verluste. Und ja, Verluste gibt es. Drei Menschen aus ihrem Netzwerk von Helfern wurden von russischen Soldaten getötet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anya im Einsatz: Ein älteres Ehepaar an der Front wird versorgt.

Miriam, Berlin, hat zwei Kinder, war in der Filmbranche, rackert seit März 2022 non stop. Nicht mehr in ihrem Job sondern um Kindern mit krassen medizinischen Befunden aus der Ukraine zu retten.

Anya und Miriam stehen für ein System, das sich in der Ukraine und in Deutschland seit dem flächendeckenden Angriffs Russlands wie ein Netz aus dem Boden gewunden hat: kleine NGOs, spontane Netzwerke, einzelne Freiwillige. Sie tun das, was Großorganisationen oft nicht schaffen – schnell und direkt helfen. Hier wie dort. Doch dieses System ist fragil. Sehr fragil.

Ein Vergleich der zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Ukraine und im Westen zeigt, dass beide Systeme der bröckelnde Kitt sind, der Gesellschaften vor dem Zerfall bewahren könnte. Sie kämpfen an völlig unterschiedlichen Fronten, aber mit einem gemeinsamen Spirit: „Ich kann was tun, also tue ich.“ Und konterkarieren aufs feinste „Was kann eine Einzelne schon machen.“

Anya in „Arbeitskleidung“ 

Jetzt, hier und sofort

In der Ukraine geht es um das nackte Überleben. Und die NGOs vor Ort kämpfen mit existenziellen Problemen. Flüchtlinge? Kaum zu versorgen. Alte und Kranke in Frontnähe? Kaum zu versorgen. Kinder mit Behinderungen? Kaum zu versorgen. Diese Menschen, die nicht nur Unterstützung brauchen, sondern eigentlich selbstverständlich erhalten sollten, fallen aus dem System heraus – nicht, weil sie ignoriert werden, sondern weil es schlicht an Ressourcen und oft an staatlicher Infrastruktur mangelt.

Im Westen hingegen kämpfen zivilgesellschaftliche Organisationen gegen rechte Ideologien, die Gesellschaften zersetzen. Demokratie als System ist plötzlich verhandelbar. Damit auch Empathie – also das, was uns zu Menschen macht. Das Narrativ rechter Populisten ist klar: Flüchtlinge? Weg damit. Arbeitslose? Zwangsarbeit. Menschen mit Behinderungen? Unsichtbar unterbringen. Andere Religionen oder sexuellen Orientierungen? Kriminelle. (Populistisch verkürzt? Einfach mal Aussagen von AfD Politikern und das Programm lesen.) 

Die gezielte Entmenschlichung, die Ausgrenzung oder das im Stich lassen ganzer Gruppen lässt die Gesellschaft auseinanderbrechen, weil sie Menschen nicht als Teil einer Gemeinschaft, sondern als Bedrohung oder weniger wertvoll entwertet. Das erinnert an 1933.

Ob im Westen oder in der Ukraine beim Überlebenskampf: Das Ergebnis trotz extrem unterschiedlicher Ausgangssituationen ist dasselbe. Gesellschaften verlieren ihr Gemeinschaftsgefühl. In der Ukraine, weil Menschen nicht mehr versorgt werden können – und das von allen wahrgenommen wird. Warum also gegen Russland kämpfen, wenn der eigene Staat nichts für die Schwächsten tut oder tun kann? Dann bin ich morgen der Nächste.

Das ukrainische „Wir“ Gefühl von 2022 zerbröselt. 2023 war die angekündigte und nicht wirklich sichtbare Gegenoffensive ein Kipp-Punkt. War man sich bis dann noch einig: Wir gemeinsam gegen russische Angreifer und damit einhergehend Wir gemeinsame gegen Korruption, driftet das „Wir Gefühl“ immer mehr in die Richtung: Egal wie – Hauptsache ich überlebe. Es folgten Kardinal-Fehler wie die Entlassung des Armee-Chefs, die neu Berufung von einem Block-Head mit UDSSR Prägung, anarchische Rekrutierungen im öffentliche Raum inklusive Gewalt, ein eingedampfter Berater-Stab mit kaum kritisch, abwägenden Stimmen und last not least die erlaubte Übergiffigkeit staatlicher Organe jedes Handy ohne Angabe von Gründen auslesen zu dürfen. Die Ukrainer haben nicht umsonst mit dem Maidan ein Ende der russischen Marionetten Oligarchie hingekriegt, als das sie sich jetzt einfach fügen. Übrigens genau der Grund, warum der Westen sich fest an die Seite der Ukraine stellen muss. Ukrainer und Ukrainerinnen fügen sich nicht, haben oft mehr Demokratie verinnerlicht als immer mehr Deutsche, für die Demokratie „halt da ist“ aber eigentlich auch egal. 

 

 

Ins „egal“ Vakuum springen Oligarchen. Und rechte Ideologien, die gezielt ein „Wir gegen die Anderen“ aufbauen. „Die Anderen“ sind Frauen, Behinderte, Juden, Muslime – und bloß nicht vergessen: Jede und jeder der widerspricht. Von „Lügenpresse“ bis demokratische Parteien. Meinungsfreiheit von rechts gesehen ist Freiheit für die eigene Meinung. Und zwar nur die. Wer profitiert davon? Autokraten wie Trump oder Putin. Unterstützt von Oligarchen wie Elon Musk oder Alexej Miller (Teil der Gazprom-Lobby) nutzen sie Fake News und die Propaganda-Trollarmee, um die Brüche in den Gesellschaften weiter zu vertiefen.

Weitermachen zwischen Bürokratie und Kollaps

Entlang der Frontlinie in der Ukraine gibt es hunderte kleiner NGOs wie die von Anya. Viele Helferinnen und Helfer hatten vor dem Krieg nichts mit humanitärer Arbeit zu tun – Blumenhändler, Lehrer, Taxifahrer. Sie tun seit 2022 das, was getan werden muss, meist ohne jegliche Absicherung. Und sie finanzieren ihre Aktivitäten durch Spenden aus der Ukraine.

Diese Spenden brechen weg. Die ukrainische Wirtschaft ist im freien Fall, die Menschen haben schlicht nichts mehr zu geben. Die Rettung aus dem Westen? Ein schöner Gedanke – aber völlig illusorisch. Damit nach fast drei Jahren Krieg Hilfe nachhaltig funktioniert, müssten die ukrainischen Organisationen Kommunikationsstrukturen im Westen aufbauen, Spendenakquise, Fördermittelanträge. Oft fehlen dafür die Sprachkenntnisse, immer fehlen Zeit und Ressourcen. Stattdessen bleibt nur die Hoffnung, dass eine Organisation aus dem Westen zufällig was von der Orga mitkriegt und hilft. So die Partner aus dem Westen das überhaupt noch können…

Und wie sieht es mit den großen humanitären Playern aus? UNHCR, IOM (International Organisation of Migration), das Rote Kreuz? Diese Organisationen stehen oft für langsame Bürokratie, bräsige Strukturen und überbordende Verwaltungsapparate. Plus: Trump hat dem WHO „gekündigt“ – das WHO (World Health Organisation) unterstützt USAid. USAid ist der Ukraine eine substantielle Säule für Hilfsprogramme im zivilen Bereich. Der Drops ist gelutscht. 

Zurück zur Big-Player Administration, die sich selber ein Bein stellt. 

Beispiel: In Mykolajiw, einer Stadt nahe der Front, zerstörten russische Angriffe 2023 die Trinkwasserversorgung. Was macht das Rote Kreuz? Es hat sechs große Tanklastwagen vor Ort – die dürfen nicht zur Trinkwasserversorgung genutzt werden. Warum? Weil die Finanzierung dieser Fahrzeuge zweckgebunden ist.

Für die Bevölkerung ein unvorstellbarer Albtraum: Während Wasserlieferungen nicht erfolgen können, stehen Öpchen und Ömchen täglich stundenlang an öffentlichen Wasserstellen an. Sie schleppen dann 10-Liter-Eimer in den dritten oder vierten Stock ihrer Wohnungen. 

 

Wasserstelle in Mikolajiw

Gleichzeitig laufen die kleinen NGOs auf Reserve. Helferinnen und Helfer riskieren nicht nur ihr Leben, sondern ihre Existenz. Miete muss bezahlt werden, Essen, Medikamente und Sprit – alles ist durch den Krieg teurer geworden. Supermärkte in Frontnähe? Oft leer. Der Staat? Überfordert. On top Administration, die auch in der Ukraine Blüten treibt. Gerne auch zusätzlich boykottiert durch korrupte Strukturen. Also werden selbst minimale Hilfen für Helfende und Betroffenen zu einem bürokratischen Marathon, den viele gar nicht erst versuchen.

Manche geben auf. Sie kehren in russisch besetzte Gebiete zurück. Warum? Weil sie dort zumindest eine Versorgungsperspektive sehen. Für Putin sind diese Rückkehrer ein Propaganda-Coup: Jede Rückkehr wird als Beweis dafür inszeniert, dass das russische System funktioniert – und dass die Ukraine aka der Westen versagt.

Der wilde Westen

Im immer wildere Westen derweil: Ukraine? War da nicht mal was? Viele haken das Thema ab. Rechts freut sich.

Eins greift ins andere und in Deutschland herrscht Müdigkeit. Der liberale Teil der Gesellschaft scheint vor rechter Propaganda zu kapitulieren. In den sozialen Medien herrscht bei liberalen und konservativen Blättern Wiederspruchs-Stille. Blaue Herzchen und rechte „Schafe“ dominieren. Wer unentschlossen, ob die AfD nicht doch eine Alternative ist, Bubbel-Kommentare mitliest, bekommt den Eindruck, dass an der rechten Erzählung etwas dran ist. Die Menge macht’s, nicht Fakten.  

 

 

Ukraine und AfD? Alice Weidel brüllte grade bei einer Wahlkampfveranstaltung: „Mit uns gibt es keinen Taurus für die Ukraine!“ Die AfD will also eine Ukraine ohne Verteidigung Russland überlassen. Die Folgen? Eine Demokratie weniger. Russlands Wirkungskreis rückt näher an die EU. Next: Moldau. Transnistrien ist schon russisch. Ein Schnäppchen für Putin und dann ist Russland nah dran. Ganz nah. Das Baltikum servierbereit.

 

Gesellschaften in der Zerreißprobe

Im Kern stehen sowohl die Ukraine als auch der Westen vor demselben Problem: dem Zerfall der Gesellschaften, einem schwindenden Gemeinschaftsgefühl. Es gibt „wertvolles“ und „wertloses“ Leben. Zu denen übrigens auch Soldaten im „Fleischwolf“ gehören – und zwar auf beiden Seiten.

Doch die Zivilgesellschaft ist ein Anker. Sie baut die Brücken, die nötig sind, um Miteinander zu erhalten. Die Brücken bröckeln. Wenn sie einstürzen, gewinnen die Autokraten. Anya und Miriam machen weiter. Für die Alten, die Kranken und eine demokratische Ukraine – also letztlich auch für uns. Für Deutschland. Etwas, was die Sektenangehörigen der AfD nicht begreifen werden. 

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