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Deutschlands Hauptstadt: unter Wert regiert

  1. Teil

Erinnert sich noch jemand an Klaus Wowereit? Seit seinem unrühmlichen Abgang als Regierender Bürgermeister Ende 2014 ist er in der Versenkung verschwunden. Kein Berliner weint ihm eine Träne nach, auch die notorischen Partygänger, die in Wowereit einen Gleichgesinnten sahen, sind zur Tagesordnung übergegangen. Heute weiß man, was hinter seinen kessen Sprüchen und seinem lockeren Auftreten stand: eine bestenfalls mittelmäßige Regierungsführung. Mehr Schein als Sein.

Nach Glitzer und Glamour – endlich Mittelmaß

Im SPD-internen Ausscheidungswettstreit um die Nachfolge machte der sachlichste der drei Bewerber das Rennen: der frühere Senator für Stadtentwicklung Michael Müller. Den Glamour-Effekt wollten die SPD-Mitglieder augenscheinlich von der Spitze der Hauptstadtpolitik verbannen. Von Müller (Nomen est omen) erhoffte man sich eine Rückkehr zu seriöser Politik, das Anpacken auch schwieriger Politikfelder. Die ersten 100 Tage in Müllers Regentschaft waren freilich alles andere als berauschend. Er schickte sich an, die fatale Symbolpolitik von Klaus Wowereit unreflektiert fortzusetzen. So posierte er bei der Eröffnung des Christopher-Street-Umzuges vor den Kameras und lieferte dem Koalitionspartner CDU eine publikumswirksame Fehde, weil dieser es wagte, in der Frage der Homo-Ehe anderer Meinung zu sein als die SPD. Berlin steht vor dem Flüchtlingsnotstand und der „Regierende“ kämpft für die Homo-Ehe!

Das Schlimme ist, dass Müller durch solche Scharmützel die Kraft und Zeit vergeudet, die er für die Bewältigung der echten Probleme der Hauptstadt gut gebrauchen könnte. Und diese gibt es zuhauf.

Ewige Baustelle BER

Beim Flughafen BER hat Wowereit im wörtlichen Sinne eine Baustelle hinterlassen. Nach dem jüngsten Konkurs der Technikfirma Imtech, die auch für die heikle Entrauchungsanlage zuständig ist, droht erneut eine Verschiebung des Eröffnungstermins. Die Hauptstadtpresse munkelt, es sei ein Konkurs mit Ansage gewesen. Denn Ende 2012 brauchte die Firma schon einen millionenschweren Vorschuss, um überhaupt die Arbeiten im Sanitär- und Lüftungsbereich aufnehmen zu können. Hat damals keiner aus Vorstand und Aufsichtsrat einen Blick in die Bücher dieser Firma geworfen? Mitte August wurde in der Presse über einen neuen Korruptionsskandal berichtet, in den so namhafte Firmen wie Siemens, Bosch und T-Systems verstrickt sein sollen. Den Firmen waren verdächtig hohe Nachforderungen bewilligt worden, so dass der Verdacht entstanden ist, sie könnten den zuständigen Mitarbeitern der Flughafengesellschaft für die Bewilligung der Zahlung „gefällig“ gewesen sein. Wie steht es um die Korruptionskontrolle, die beim BER-Projekt angeblich lückenlos sein soll?

Seit Anfang Juli 2015 ist Michael Müller Vorsitzender des Aufsichtsrats der Flughafengesellschaft des BER. Es ist kaum zu erwarten, dass er bei den technischen Pannen und den unsauberen Abrechnungen genauer hinschaut als sein Vorgänger Klaus Wowereit, unter dessen „Aufsicht“ alle Baumängel, Korruptionsskandale und Bauverzögerungen vonstattengingen. Der Rechnungshof von Brandenburg bezweifelte deshalb in einer öffentlichen Stellungnahme, ob Spitzenpolitiker angesichts ihrer notorischen Überlastung ihre Aufsichtspflicht überhaupt seriös ausüben können. Man darf gespannt sein.

Flüchtlinge – wohin damit?

Das Berlin überdurchschnittlich viele Flüchtlinge anzieht, dürfte auch dem Senat nicht verborgen geblieben sein. Da hier schon viele Syrier, Iraker, Iraner und Afghanen leben, streben ihre Verwandten hierher, weil sie sich durch die familiären Bindungen Vorteile versprechen. Aber auch Flüchtlinge ohne Verwandte strömen in Massen nach Berlin. Für das laufende Jahr wird mit 35000 Menschen gerechnet. Wer als Flüchtling nach Berlin kommt, lernt die träge Berliner Verwaltung aus erster Hand kennen. Erstes Gebot: Warten! Die Schlangen vor der Erstaufnahmestelle, die das „Landesamt für Gesundheit und Soziales“ (LAGESO) in Moabit betreibt, sind gigantisch. 2000 Menschen kampieren bei praller Sonne oder Regen im Freien und warten auf Einlass. Anfangs gab es kein Essen und Trinken, keine Toiletten. Wenn nicht ehrenamtliche Helfer der Initiative „Moabit hilft“ zur Stelle gewesen wären, hätte es angesichts der Hitze bei den in Berlin Gestrandeten schwere gesundheitliche Schäden geben können. Ein Vertreter der Caritas verglich im Fernsehen, die Zustände in Moabit mit einem Flüchtlingslager im Libanon. Wo ist der Senat abgeblieben? Wochenlang war vom Regierenden Bürgermeister nichts in der Sache zu hören. Erst am 10. 08. 2015 verkündete er, dass ein „Koordinierungsstab“ gegründet werden solle, der mögliche Unterkünfte für die Flüchtlinge ausfindig machen und die privaten Hilfsangebote mit der staatlichen Versorgung koordinieren solle. Wenn in einem Bezirk eine Flüchtlingsunterkunft eröffnet wird, dauert es einen Tag, bis ehrenamtliche Helfer zur Stelle sind. Der Senat gründet einen Stab, der zuerst einmal „untersuchen“ muss. Wie lautet das Motto der Hilflosen? – „Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis.“

Als dann die Bilder vom Budapester Bahnhof Keleti über die Bildschirme flimmerten („Germany! Germany!“), kam Müller doch noch in die Gänge. Zusammen mit Innensenator Henkel und Gesundheitssenator Caja (beide CDU) trat er am 2. 9. 2015 vor die Presse und gab Ungewöhnliches bekannt. Berlin beschlagnahmt ein leer stehendes Bürogebäude (die ehemalige Zentrale der Sparkasse), um dort eine weitere Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge zu schaffen. Mit ernster Miene verkündete der Regierende Bürgermeister, ab jetzt gebe es „keine Denkverbote mehr“. Interessant wäre es zu wissen, wer die bisher geltenden Denkverbote verfügt hat.

Spaßbad oder historische Mitte?

Berlin ist eine Stadt im Umbruch. Schade nur, dass dabei hinsichtlich Stadtplanung und Architektur überwiegend Mittelmäßiges entsteht. Als der legendäre Hans Stimmann noch das Amt des Senatsbaudirektors bekleidete (1999-2006), brachte er das „Planwerk Innenstadt“ auf den Weg und setzte sich entschieden für ein Städtebaukonzept der kritischen Rekonstruktion ein, die sich am historischen Stadtgrundriss und an der Bautypologie der untergegangenen Stadt orientierte. Von dieser planerischen Stringenz ist die heutige Stadtplanung weit entfernt. An den gerade im Entstehen begriffenen Stadtquartieren kann man die Konzeptlosigkeit ablesen. Die Neubauten rund um den Hauptbahnhof und im Humboldt-Hafen sind langweilig, uniform und ohne architektonischen Reiz. Das Kulturforum dämmert immer noch als hässliche Einöde vor sich hin. Man muss es sich vorstellen: Zwischen der weltberühmten Philharmonie (Hans Scharoun), der Neuen Nationalgalerie (Mies van der Rohe), der Gemäldegalerie (Hilmer & Sattler, Albrecht) und der Matthäuskirche trifft der Besucher auf Parkplätze, eine Übungsrampe für Skateboarder und eine versteppte Wiese. Berlin kennt keinen Platz mit weniger Aufenthaltsqualität. Der Architekt Stefan Braunfels hat vor kurzem einen Entwurf präsentiert, wie man die wertvollen Solitärgebäude in eine harmonisches Ganzes integrieren könnte. Engagierte öffentliche Debatte? Dezidierte Meinungsäußerung des Senats? Leider Fehlanzeige.

Für das Areal zwischen Fernsehturm, Rotem Rathaus und Marienkirche existiert auch kein Senatskonzept. Stattdessen hat die Senatsbauverwaltung eine Online-Befragung unter dem Titel „Alte Mitte – neue Liebe?“ ins Leben gerufen, um Volkes Stimme einzusammeln. Wer das Ergebnis der Volksbefragung zur Bebauung des Tempelhofer Feldes noch im Gedächtnis hat, muss mit dem Schlimmsten rechnen. In der Berliner Abendschau, dem Heimatsender der Berliner, wurden die ersten Ergebnisse der Befragung schon vorgestellt. Was wünscht sich der Berliner für seine alte Mitte: „ein Spaßbad“, „Bäume und Bänke“ oder „Alles so lassen“ („Is doch O.K., so wie es is, wa?“). Von einer Wohnbebauung auf den Parzellen und dem Stadtgrundriss der Vorkriegszeit ist nirgendwo die Rede.

Frankfurt/M. macht gerade vor, wie es auch anders gehen könnte. Dort wird die historische Altstadt auf dem Römer rund um den Dom in den alten Grundrissen im alt-neuen Gewandte wiederentstehen. Dort hatten Experten das Sagen, in Berlin erledigt das Volkes Stimme. Der Regierende Bürgermeister war bis vor kurzem Senator für Stadtentwicklung. Es ist nicht bekannt, ob er zur historischen Mitte Berlins eine eigene Meinung hat. Mit der „Arbeitsgemeinschaft zur Wiedergewinnung des alten Stadtkerns“ und der „Gesellschaft Historisches Berlin“ gibt es zwei Vereine, in denen Expertenwissen genug vorhanden wäre, wenn man es denn abrufen wollte. Stadthistoriker betonen immer wieder, dass die soziale Lebendigkeit, die wir an den europäischen Innenstädten so lieben und die Touristen aus aller Welt anzieht, sich der Verdichtung der Wohnquartiere verdankt. Wer jede hässliche Brach- und Ödfläche vor Bebauung schützen will, wie das in Berlin leider üblich ist, verhindert gerade diese sozial durchmischte, lebendige Stadtkultur. Aber wer gebietet den egoistischen Kiezwächtern Einhalt? Dieser Senat?

Mir hat ein Argument immer besonders eingeleuchtet, das mir eine Stadtführerin in Warschau nannte, als ich nach dem Grund fragte, warum die Polen ihre Hauptstadt nach der totalen Zerstörung durch die deutsche Wehrmacht originalgetreu (!) wieder aufgebaut haben: „Hätten wir Hitler das letzte Wort lassen sollen?“ – Die Polen haben noch das historische und patriotische Bewusstsein, das in unserer Gesellschaft – gerade auch in Berlin – weitgehend verschwunden ist. Hier rächt sich besonders, dass das klassische (auch intellektuelle) Bürgertum durch Abwanderung gen Westen (nach dem Mauerbau) oder durch Auslöschung im Holocaust (das jüdische Bürgertum) weitgehend von der Bildfläche verschwunden ist. Wäre es aber nicht Aufgabe einer Hauptstadtregierung, hier in die Bresche zu springen und das Bewusstsein von der Bedeutung der alten Mitte Berlins wach zu halten? Man traut sich kaum, den Regierenden Bürgermeister Michael Müller mit dem Bürgermeister von London Boris Johnson zu vergleichen. Dieser schrieb eine Biografie über sein politisches Vorbild Winston Churchill („Der Churchill-Faktor“) und führt einen geistreichen Dialog mit seinen Londonern in einem eigenen Blog. Es hat noch nie geschadet, wenn Spitzenpolitiker über eine gewisse intellektuelle Brillanz verfügen, auch wenn sie bei Johnson manchmal (bewusst?) skurril daher kommt.

Service-Wüste Berlin

Willkommen bei Berlin Partner für Wirtschaft und Technologie

Berlin begeistert – als Kreativmetropole, als Startup-Hub, als innovativer Technologie- und Wissenschaftsstandort. Berlin ist eine der dynamischsten Wirtschaftsregionen Deutschlands und wir bieten an diesem international attraktiven Standort Wirtschaftsförderung und Technologieförderung für Unternehmen, Investoren und Wissenschaftseinrichtungen.

So lautet das Entrée der wichtigsten Agentur für Berlin-Werbung „Berlin Partner“. Wenn man das liest, muss man den Eindruck gewinnen, alle Neuberliner würden mit offenen Armen empfangen, alle Widrigkeiten des Neubeginns ihnen flugs aus dem Weg geräumt. Leider ist das nur ein Werbetext. Die Realität sieht anders aus. Der SPIEGEL-Redakteur Juan Moreno hat sie am eigenen Leib erfahren, als er in die Hauptstadt zog. Sein Fazit: „Berlin ist der Ort, an dem ich dem Wahnsinn ganz nahe komme.“ (SPIEGEL 22/2015). Was hatte der tapfere Redakteur erlebt? Er wollte beim Bezirksamt seines Wohnbezirks seinen neuen Wohnsitz anmelden. Auf der amtlichen Homepage landete er auf der Seite „Top-Dienstleistung“ (sic) und erfuhr, dass der nächste freie Termin erst in acht Wochen zu buchen sei. Den neuen Pass für die Tochter beantragen? Dieselbe lange Wartezeit. Das Auto ummelden? Wartezeit: vier Wochen. Wenn man eine private Zulassungsfirma bucht, geht es schneller, kostet aber 100 Euro. Berlin wächst jedes Jahr um rund 30.000 Menschen, die aus aller Herren Ländern in die „coolste Stadt Deutschlands“ (Eigenwerbung) ziehen wollen. Die zahlreichen Flüchtlinge sind in der Zahl nicht inbegriffen. Anscheinend funktioniert die Verwaltung aber noch in dem Modus, der sich im trägen Berlin vor der coolen Zeit als bewährt eingependelt hat. Keine noch so pfiffige und freche Berlin-Werbung hat es bisher vermocht, diesen piefigen Amtsschimmel aus den Stuben zu verjagen. Wie heißt es bei „Berlin Partner“: „Berlin ist unsere Leidenschaft“. Nur sollte man diese irgendwann auch spüren.

Grünes Soziotop ohne Gesetz

Berlin leistet sich in seiner Mitte einen Ort, den viele Anwohner als „rechtlosen Raum“ erleben, weil dort das Recht des Stärkeren gilt. Es handelt sich um den Görlitzer Park, eine unwirtliche Wiese mit ein paar Büschen und Bäumen, aber vielen jungen Menschen unterschiedlichster ethnischer Herkunft, die im Park Drogenhandel betreiben. Die Gangs haben das Areal säuberlich untereinander aufgeteilt und gehen ihren Geschäften nach. Die Null-Toleranz-Politik, die die Polizei seit März 2015 auf dem Platz fährt, konnte dem illegalen Treiben kein Ende bereiten. Die Gewalt ist allgegenwärtig. Es gibt Diebstähle, Raub, Vergewaltigungen, Messerstechereien – und das Kerngeschäft: Drogenhandel. Anwohner versuchen sich zu wehren, manchmal auch mit illegalen Mitteln. So stach ein entnervter Kneipenbesitzer auf zwei Dealer ein, die sein Lokal belagert hatten. Die Politik zeigt sich gegenüber den Problemen am „Görli“, wie das Areal im grünen Bezirk liebevoll genannt wird, hilflos. Die Grünen, die die Bezirksbürgermeisterin und die Mehrheit im Bezirksparlament stellen, wehren sich vehement gegen „repressive“ Maßnahmen. Am liebsten würden sie am Park einen Coffee-Shop nach holländischem Vorbild eröffnen, in dem weiche Drogen legal verkauft werden könnten. Es entbehrt nicht der Ironie, dass die Partei, die stets der Toleranz im öffentlichen Stadtraum das Wort redet, einen Zustand toleriert, der mit Faustrecht nur sehr milde umschrieben ist. Als der Innensenator Berlins, Frank Henkel (CDU), noch in der Opposition war, gerierte er sich gerne als der „Sheriff von Berlin“. Im Amt schreckte er vor durchgreifenden polizeilichen Maßnahmen zurück, weil er dem Koalitionspartner SPD kein Argument gegen eine konservative „Law-and-Order-Politik“ liefern wollte. Und die SPD-Führung möchte es mit den Grünen nicht verderben, die man als Koalitionspartner braucht, falls der linke SPD-Flügel eine Exit-Strategie aus der ungeliebten Großen Koalition durchsetzt. Angeblich wartet man in der SPD nur auf die „passende“ Gelegenheit. Parteipolitische Taktik lähmt die Verantwortlichen, die das Problem im Interesse der Kreuzberger lösen könnten und müssten. So bleibt es bei einem Zustand, bei dem spielende Kinder schon mal kleine Heroinpäckchen ausbuddeln, die die Dealer als Depot vergraben haben.

„Techno-Strich“ außer Kontrolle

Wo früher kaputte Eisenbahnen repariert wurden – im „Reichsbahn-Ausbesserungs-Werk“ (RAW) – tobt   heute eine schrille Partyszene. Wo jungen Menschen unbeschwert feiern, finden sich bald auch Gestalten ein, die einem den Feierspaß gründlich verderben können. Immer mehr betrunkene Gruppen, auch Punks aus Polen, Drogendealer, Taschenräuber und auf Krawall gebürstete Gewalttäter belagern die normalen Partygäste. Schleichend wurde so das RAW-Gelände zu einem neuen Brennpunkt der Kriminalität. Die Polizei gab bekannt, dass sie auf dem Gelände im ersten Halbjahr 2015 schon 286 Polizeieinsätze leisten musste, um das Schlimmste zu verhindern. Mitte August – an den heißesten Tagen des Jahres – gab es dann einen beispiellosen Ausbruch an Gewalt. Zwei holländische Touristen wurden brutal zusammengeschlagen, ein Amerikaner mit einer Rasierklinge lebensgefährlich verletzt. Das Bezirksamt hat darauf, wie zu hören war, „im Benehmen mit dem Senat“ beschlossen, ein Dutzend Straßenlaternen, die schon 40 Jahre alt sind und kein rechtes Licht mehr spenden, gegen moderne auszutauschen. Wie man mit den kriminellen Banden umzugehen gedenkt, hat der Bezirkssprecher nicht mitgeteilt. Und der Innensenator Frank Henkel (CDU) weilt im Sommerurlaub. Berlin eben.

Armenhaus Berlin

Ein dunkles Kapitel Berlins ist seine Sozialstruktur. Nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes leben 50% aller Berliner von staatlichen Transferleistungen: Rente, Pension, Arbeitslosengeld I, Hartz IV (ALG II) und Bafög. Die Zahl der Empfänger von Hartz IV sind besonders zahlreich. Jeder sechste erwachsene Bewohner und jedes dritte Kind lebt entweder ganz oder teilweise (wenn die Eltern sog. „Aufstocker“ sind) von diesem Sozialgeld. Manche Familien beziehen die staatliche Hilfe schon in der dritten Generation. Wie passt das zu den ständig lancierten Erfolgsmeldungen über die Gründung neuer Betriebe oder Geschäfte, über eine florierende Kreativszene? Viele der Neugründungen entstehen im hochtechnologischen Segment der Wirtschaft, in der IT-Branche, in der Medizin-Technik oder in der Verkehrstechnologie. Diese Firmen benötigen akademische Spezialisten, die sie in den vielen Universitäten und Fachhochschulen rekrutieren. Für die überwiegend schlecht oder gar nicht ausgebildeten Berliner Arbeitslosen werden in diesen Firmen keine Arbeitsplätze geschaffen. Die neuesten Berlin-Zahlen belegen dies: Im ersten Halbjahr 2015 wurden 3033 neue Arbeitsplätze geschaffen, davon sind aber nur 915 industrielle Arbeitsplätze. Wenn man unterstellt, dass dies in erster Linie Facharbeiterstellen sind, bleiben die gering Qualifizierten weitgehend auf der Strecke.

Berlin leidet bis heute unter der De-Industrialisierung, von der es zweimal betroffen war. In der Nachkriegszeit zogen aus dem ummauerten West-Berlin viele Firmen in das sicher geglaubte Bundesgebiet. Nach der Wende 1989/90 stellten viele Betriebe der DDR ihre unrentabel gewordene Produktion ein. Dies waren Aderlässe, die auch durch den Hype um die kreative Gründerszene Berlins nicht kompensiert werden konnten. Dem Senat fehlt es offensichtlich an einem Konzept, neben Hightech-Betrieben auch klassische Industrieunternehmen anzulocken, die den wenig qualifizierten Arbeitslosen eine Perspektive bieten könnten.

Die hohe Sockelarbeitslosigkeit hat in Berlin eine nicht zu übersehende Ursache: Es gibt in der Stadt zu viele Schüler, die die Schule ohne Abschluss verlassen und deshalb kaum Chancen haben, in den Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt integriert zu werden. Annähernd jeder zehnte Berliner Jugendliche hat im Schuljahr 2013/2014 die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen. Das geht aus einer Erhebung der Senatsbildungsverwaltung hervor. Der Wert von 9,2% liegt deutlich über der Quote des Vorjahres (7,9%). Sie stellte bereits eine Steigerung dar, im Schuljahr 2011/2012 waren 7,4% Schulabgänger ohne Abschluss registriert worden. Da im ganzen Bundesgebiet die Zahl der Schulversager gesunken ist (von 8% auf 5%), muss es für die hohe Berliner Zahl spezifische Gründe geben, die man in Berlins Schulsystem suchen muss.

Anfang August wurde durch eine Studie bekannt, dass in Berlin jeder siebte Erwachsene als funktionaler Analphabet gilt, der pragmatische Texte des Alltags nicht lesen und verstehen kann. Dies bedeutet, dass 320.000 Berliner beim Lesen von Texten auf fremde Hilfe angewiesen sind. Der Studie zufolge sind dies zu 90% Menschen mit Deutsch als Muttersprache. Wie entsteht Analphabetismus bei Deutschen? Oft werden diese Menschen als Schüler schon in der dritten Klasse der Grundschule „abgehängt“, weil ihre Klassenkameraden schneller voranschreiten und die Ressourcen für eine individuelle Förderung fehlen. Aus Scham verweigern sich diese Kinder der Schule ganz, flüchten sich in Krankheiten, schwänzen oder werden verhaltensauffällig. An Schulen mit schwieriger Klientel sind die Lehrer sogar froh, wenn solche Problemkinder fehlen, weil dann der Unterricht reibungsloser verläuft. Diese Kettenreaktion hat dann ein Ergebnis: Analphabetismus. Dass diese Schüler später keine Lehre schaffen, dass sie zeitlebens nur einfache, schlecht entlohnte Hilfsdienste verrichten können, liegt auf der Hand.

Die Bildung eines Menschen hat direkte Auswirkungen auf sein späteres Einkommen. Je schlechter die Bildung, desto geringer das Einkommen und desto größer die Gefahr, unter die Armutsgrenze abzurutschen. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden hat gerade erst aktuelle Zahlen aus dem Jahr 2014 veröffentlicht. Berlin gehört zu den Regionen Deutschlands, wo auf Grund der vielen gering Qualifizierten unter der Erwerbsbevölkerung 37,5% dieser Gruppe armutsgefährdet sind. Im Bundesdurchschnitt sind es 30,8%. Auch hier hält Berlin einen Negativrekord.

Man sieht: Bildung ist der Schlüssel für beruflichen Erfolg und für ein Leben in materieller Sicherheit. Was im Berliner Schulsystem im Argen liegt, soll im zweiten Teil des Artikels betrachtet werden.

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16 Gedanken zu “Deutschlands Hauptstadt: unter Wert regiert;”

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    @Rainer Werner:

    ein nichtsachlicher Kommentar 🙂

    Moritz Berger sagt:
    5. September 2015 um 09:03

    Lieber Herr Werner,

    wo waren Sie eigentlich in den letzten 20/25/30 Jahren.

    Sind Sie nicht auch (West-)Berliner Bürger??

    Jetzt die berühmte ” Berliner Schnauze ” aufreißen ist doch zu einfach oder?

    Berlin ist doch seit dem 2. Weltkrieg nur von Subventionen und Bauskandalen gekennzeichnet.

    Wenn Sie als Student auf die Straße gegangen sind, warum eigentlich nicht als Bürger??

    Was die Stuttgarter Bürger beim Bahnhof gekonnt haben, können Sie doch sicher auch.

    Haben Sie jemals Ihren Landtagsabgeordneten auf Mißstände hingewiesen??

    Wie heißt es bei Kennedy:

    „Frage nicht was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst!

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    @ Holmeor Kowa

    Alle, die in diesem Blog schreiben und kommentieren, haben sich darauf geeinigt, dass wir uns eines sachlichen Tones befleißigen, auf Beleidigungen und Beschimpfungen verzichten. Ich habe in meinem Beitrag zahlreiche Argumente zu der Problematik formuliert, die in den Medien ausführlich diskutiert worden ist. Mit meiner Argumentation könnte man sich sachlich auseinandersetzen. Versuchen Sie es!

  3. avatar

    o.t.: … mein Beitrag für heute Abend bei Maischberger: Michel Friedman u.a. ./. Roger Köppel u.a.

    Die Auswanderung von Mohammedanern aus der ihnen angestammten Heimat, sollte kein Ziel der deutschen Außenpolitik sein. Wenn die Mohammedaner sich gegenseitig in die Luft sprengen, ist das kein deutsches Problem. Es ist vielleicht ein humanitäres Problem.

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    Stevanovic: ‚Naja, klingt alles eher nach einer Liaison nach durchzechter Nacht zwischen einem Mecklenburger Warmblut und einem kurzsichtigem Holstein-Rind.

    Ach ja, fast vergessen… DAHER!‘

    … sehen Sie Gen. Stevanovic, Alkohol zerstört unter anderem Gehirnzellen, DAHER! … können Sie sich womöglich nicht erinnern, diese Frage hatte ich schon am 30. Juni 2013 um 14:42 beantwortet … ts, ts, ts.

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    Naja, klingt alles eher nach einer Liaison nach durchzechter Nacht zwischen einem Mecklenburger Warmblut und einem kurzsichtigem Holstein-Rind.

  6. avatar

    … ooops? Korrektur

    @KJN

    ‚Berliner‘ 2015.

    Immer schreibt der Sieger die Geschichte der Besiegten.
    Dem Erschlagenen entstellt der Schläger die Züge.

    Aus der Welt geht der Schwächere und zurück bleibt die Lüge.

    Bertolt Brecht

    DAHER!

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    Geert-Ulf Wilderskotte: ‚@Nick, überfordern Sie das Jüngelchen nicht!‘

    … werter ‚G.-U. W.‘, allein Ihr Ton kommt mir bekannt vor, aber ejal, nein, das Gegenteil trifft zu, ich fühle mich unterfordert. Nur zu, mehr bitte!

  8. avatar

    @KJN

    … werter KJN, Slawen? das ist ein Konstrukt, womöglich aus dem Wort ‚Sklaven‘. Die slawische Sprache ist eine Untergruppe der indogermanischen. Selbst Russland, ist eine Schöpfung der Wikinger.

    Von ‚wir‘ habe ich nix geschrieben. Ich bin ein Mix aus einem blonden Pommern und der schönsten Mecklenburgerin, meine Mama. Die Berliner, so wie ich sie beschrieben habe, sind tatsächlich so gewachsen. Die Schönste, der echten, habe ich noch ‚abgeschleppt‘.

    ‚Tagesarbeit, ernster Wille, nachts nen Schluck in der Destille, und een bisken kille, kille, det hält munter – Heinrich Zille.

    Daher!

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    hans
    „Der echte Berliner war ‘ne Mischung aus katholischem Schlesier, französischen Hugenotten und den Dorfbewohnern an der Spree.“
    Und Sie argumentieren, wie Naturschützer, die das 17. Jh. konservieren wollen, z.B. in der Lüneburger Heide. Warum gerade das 17. und nicht das 13., wo da noch Wald war? Vielleicht ist der echte Berliner ja auch Prusse, Slawe, wie die Sorben und ‚wir‘ müssen wieder dahin? Und warum?

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    @M.B.

    …werter M.B., Berliner? … die jibt ’s doch schon lange nicht mehr. Nur noch Taschenspieler, Roßtäuscher und Pferdediebe.

    Der echte Berliner war ’ne Mischung aus katholischem Schlesier, französischen Hugenotten und den Dorfbewohnern an der Spree.

    Daher!

  11. avatar

    Lieber Herr Werner,

    wo waren Sie eigentlich in den letzten 20/25/30 Jahren.

    Sind Sie nicht auch (West-)Berliner Bürger??

    Jetzt die berühmte “ Berliner Schnauze “ aufreißen ist doch zu einfach oder?

    Berlin ist doch seit dem 2. Weltkrieg nur von Subventionen und Bauskandalen gekennzeichnet.

    Wenn Sie als Student auf die Straße gegangen sind, warum eigentlich nicht als Bürger??

    Was die Stuttgarter Bürger beim Bahnhof gekonnt haben, können Sie doch sicher auch.

    Haben Sie jemals Ihren Landtagsabgeordneten auf Mißstände hingewiesen??

    Wie heißt es bei Kennedy:

    „Frage nicht was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst!

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