Mallorcas Westen: Zwischen Meer und Bergen in der Nachsaison
Wenn der Sommer sich zurückzieht, das Licht sanfter wird, beginnt auf Mallorca die schönste Zeit des Jahres. Im November gehört die Insel an vielen Orten wieder ganz sich selbst. Das Meer hat die Wärme der vergangenen Monate gespeichert, die Strände liegen in nachsaisonaler Ruhe.
In Andratx, im Westen der Insel, ganz in der Nähe von Palma de Mallorca mit seiner regen Kunst- und Kulturszene, entfaltet sich in dieser Jahreszeit eine seltene Art von Schönheit. Das grelle Licht des Sommers weicht einem weichen Glühen, die Schatten werden länger, die Farben tiefer. Jetzt, wenn die Touristenströme versiegt sind und die großen Hotels nach und nach schließen, offenbart die Region ihr eigentliches Wesen.
Wandern rund um Andratx und Peguera
Wandern rund um Andratx: Vom Club de Vela am Hafen aus führen Wege und schmale Pfade in die Höhen der Serra de Tramuntana, die 2011 von der UNSECO zum Welterbe erklärt wurde – etwa hinauf in das beschauliche Dörfchen S’Arracó mit der sympathisch-belebten Dorfgaststätte C’an Guiem Nou, weiter zur Ruine des Trappistenklosters La Trapa in der Nähe von Estellencs – oder wieder hinab zu den Klippen des idyllischen Örtchens Sant Elm.
Oder auch rund um Peguera findet man auf vielen Wanderwegen schnell Ruhe in der Natur. Empfohlen sei etwa der Weg zum Torre de Cap Andritxol. Die Sonne steht tief. Unten glitzert das Meer. Manchmal hört man die Brandung. Steinige Wege führen durch lichte Wälder mit mediterranen, duftenden Aleppo-Kiefern. Man kann noch schwimmen, selbst im späten November: Das Wasser trägt, als wolle es den Übergang vom Sommer zum Winter hinauszögern.
Berg und Meer
Die Serra de Tramuntana erhebt sich hinter Andratx und Peguera. Ihre Gipfel, mal in Wolken, dann in helles Licht gehüllt, sind streng, fast asketisch. Das Meer dagegen, unten bei Port d’Andratx oder an den Stränden Pegueras, bleibt das Reich der Offenheit. Es fließt, spiegelt, verführt. Die Sonne glitzert auf seiner Oberfläche. Hier begegnen sich diese beiden Welten – das Feste und das Fließende, das Erdige und das Maritime. Man gerät immer wieder ins Schwärmen: Die Schönheit der Welt liegt nicht im Entweder-oder, sondern im Dazwischen.
Die Stadt Andratx
Die historische Stadt Andratx selbst, mit seinen 12.000 Einwohnern eher ein Landstädtchen, leicht zurückgesetzt vom Meer, ist im November recht still. Die gotische Kirche Santa Maria mit ihrem spitzbogigen Portal stammt aus dem 13. Jahrhundert und hat einen auffällig wehrhaften Charakter, sollte sie doch auch Schutz vor Piratenangriffen bieten. Von ihrer leicht erhöhten Lage aus bietet sie einen lohnenden Blick über das Tal von Andratx.
Nur wenige Schritte von hier, auf dem Marktplatz, der Plaça d’Espanya, mit seinen schattenspenden Bäumen, gibt es verschiedene Restaurants und Cafés in traditionellen Sandsteinhäusern. Hier treffen sich die Andritxols auf ein Glas Wein, ein Bier oder einen Café con leche. Mittwochs ist Markttag – Tradition und Alltagsleben haben hier ihren Ort. Wir kehren im Restaurant Sa Somera ein, bestellen Weißwein, Ajoli, Oliven, Brot, Ensaladilla Rusa und das typische Inselgericht Frito Mallorquin. Besser kann man es sich nicht wünschen: Die Sonne wärmt, doch der Sommerlärm ist ganz verschwunden. Gerade ums Eck ist noch eine kleine Tapas-Bar, „La Tapa Granaina“. Auch diese sei wärmstens empfohlen.
Das CCA Andratx
Ein paar Minuten außerhalb liegt das Centre Cultural Andratx (CCA). Das Zentrum ist in einem ehemaligen landwirtschaftlichen Gebäude untergebracht, das umfassend umgebaut und modernisiert wurde: eine überaus gelungene Verbindung von traditionellen mallorquinischen Elementen mit modernen architektonischen Ideen.
2001 von dem französisch-dänischen Paar Jacob und Patricia Asbæk gegründet, ist das CCA einer der großen, wichtigen Orte für zeitgenössische Kunst auf den Balearen: eine Residency, ein Ort für Stipendiaten, eine Kunsthalle und zugleich eine Galerie – unterstützt durch die Stadtverwaltung von Andratx.
Im November liegt hier eine besondere Ruhe. In den Ateliers arbeiten immer, das ganze Jahr über, vier monatlich wechselnde Künstler und Künstlerinnen. Bei unserem Besuch sind hier unter anderem Arbeiten von Charlie Stein, Lars Nørgård, Klaus Weber und Stefan Rinck zu sehen – zum Teil ganz großartige Arbeiten, an einem überaus besonderen Ort, jenseits der großen Kunstmetropolen, weltabgeschieden und gerade dadurch von großer Intensität.
Die Idee des CCA ist: Kunst als Resonanzform des Ortes. Sie entsteht nicht trotz, sondern durch die Umgebung – durch das Licht, den Wind, die topographische Weite. Hier kann man große Ausstellungen sehen, von Künstlern und Künstlerinnen aus aller Welt, die im Gedächtnis bleiben, hier am Fuße des Tramuntana-Gebirges.
Es finden Konzerte und andere Veranstaltungen statt – und die Räumlichkeiten sind auch für Events buchbar. In den vergangen 20 Jahren wurden hier mehr als 800 Künstler und Künstlerinnen präsentiert, aus über 20 Ländern. Einmal im Monat gibt es eine „Meet the Artist“ -Tour durch die Ausstellungshallen. Über die Webseite können sich Künstlerinnen und Künstler auf ein Stipendium bewerben.
Das Arbeitsstipendium umfasst die Bereitstellung eines Studios zum Leben und Arbeiten, die Möglichkeit hier auszustellen – alle anderen Kosten sind indes selbst zu tragen. Es bietet den Künstlern und Künstlerinnen die Möglichkeit für kreative Arbeit in einem gut ausgestatteten, professionellen Umfeld – ein offener und einladender Raum für künstlerische Auseinandersetzungen.
Barbara Weil – Architektur des Lichts
Nur wenige Minuten von hier, im eleganten Port d’Andratx, wirkte die amerikanische Künstlerin Barbara Weil (1933–2018). Sie ließ sich in den 1960er-Jahren in Port d’Andratx nieder – zu einer Zeit, als der Ort noch ein Fischerdorf war. Ihr Atelier, das Studio Weil, wurde von Daniel Libeskind entworfen und 2003 eröffnet: ein Bau aus scharfen Linien, schrägen Flächen und offenen Himmelsausschnitten. Weil sagte einmal, sie male nicht gegen die Landschaft, sondern mit ihr. In ihren Werken – vibrierende Farbformen, zarte Linien – wird das mallorquinische Licht selbst zum Material. Heute dient das Studio als Ausstellungsort und als lebendiges Denkmal einer Haltung: dass Kunst nicht im Gegensatz zur Welt steht, so Barbara Weil.
Wir betreten das Foyer und treffen einen Mann, der uns sofort sympathisch ist. Es ist Jimmy Weinstein, Jazzmusiker und Sohn Barbara Weils. Er stürmt auf uns zu, schüttelt unsere Hände. Wir kamen unangekündigt, doch er vermittelt uns das Gefühl, als hätte er gerade unseren Besuch sehnsüchtig erwartet. Er erzählt uns die Geschichte der Kunst seiner Mutter und die Geschichte dieses ungewöhnlichen Baus – eine Libeskind-Architektur, die das malerische und skulpturale Werk der in Chicago geborenen Künstlerin vollendet aufnimmt und präsentiert. Libeskind bezeichnet das Studio im Vergleich zu seinen großen Bauten als „Cello-Sonate“.
Und Musik, spielt hier heute auch eine große Rolle, erzählt uns der ausgebildete Jazz-Schlagzeuger Jimmy Weinstein. Im Juli und August bietet die Terrasse, die einen atemberaubenden Meerblick hat, eine idyllische Umgebung für Jazzkonzerte. Weinstein pendelt zwischen Padua, wo er mit seiner Frau lebt – und Port d’Andratx. Barbara Weil segelte erstmals 1967 von Holland nach Mallorca. Ihr damaliger Ehemann war ein begeisterter Segler. Sie blieb hier und so ist auch Jimmy diesem Ort bis heute verbunden.
Kunst gibt es noch mehr in diesem Städtchen, dessen imposanter, großer Naturhafen schon von den Römern genutzt wurde. Bis in die 1950er Jahre lebten die Menschen fast ausschließlich vom Fischfang und der Landwirtschaft. Um die Küste vor Piratenangriffen zu schützen, wurden im 16. Jahrhundert verschiedene Festungen und Wachtürme errichtet, wie der Torre de Cala en Basset. Heute ist Port d’Andratx ein Ort des exklusiven Tourismus, eleganter Yachten und luxuriöser Villen internationaler Besitzer. Der Ort zieht Prominente und reiche Geschäftsleute an, die hier in vielen Restaurants vorzüglich speisen und auch in zwei weiteren professionellen Kunstgalerien am Hafen fündig werden können. Arte Casa und die HMH Art Gallery finden hier mit ihrem internationalen Programm ein kaufkräftiges Publikum.
Baltasar Porcel – Der Erzähler der Mittelmeer-Seele
Nicht nur die Bildende Kunst gedeiht hier, auch die Literatur: Der Schriftsteller Baltasar Porcel i Pujol (1937–2009), Sohn der Stadt Andratx, sah in seiner katalanischen Heimat gleichsam das Sinnbild des Mittelmeerraums. Seine Romane und Essays sind immer durchdrungen vom Geruch des Meeres, vom Gewicht der Geschichte. Porcel verstand Andratx als Welt im Kleinen: „Zwischen den Felsen der Tramuntana und den Wellen des Hafens“, schrieb er, „spiegelt sich das Drama der Menschheit – das Ringen zwischen Sehnsucht und Grenze.“ In deutscher Sprache ist von ihm unter anderem das Werk „Das Mittelmeer – Eine stürmische Reise durch Zeiten und Kulturen“ zumindest noch antiquarisch erhältlich. Es ist 2009 erschienen und umfasst 22 Essays, die chronologisch die Geschichte des Mittelmeers schildern, aber auch von seiner Kindheit in Andratx erzählen.
Almudena Sánchez – Die neue Stimme
In Deutschland kaum bekannt – und auch noch nicht ins Deutsche übersetzt – ist die 1985 geborene Schriftstellerin Almudena Sánchez. Ebenfalls gebürtig aus Andratx, hat sie immer wieder das Thema der inneren Landschaft bearbeitet. In ihren Büchern „La acústica de los iglús“ oder „Fármaco“ verbindet sie psychologische Tiefe mit poetischer Präzision. Ihre Figuren wandern nicht durch das Tramuntana-Gebirge, sondern eher durch ihre eigenen Gedanken. Doch auch sie kennen die Erfahrung der Insel, das Bewusstsein, von Weite und Grenze zugleich umgeben zu sein. Sánchez’ Prosa, so kann man sagen, ist ein Echo auf eine spezifische mallorquinische Topographie.
Peguera – das Echo der Welt
Nur wenige Kilometer weiter Richtung Palma liegt Peguera, mit seinen Stränden, Cafés, den Urlaubern, die noch im Meer schwimmen. Im November schließen auch hier nach und nach die meisten Restaurants und Geschäfte, aber das stört kaum, im Gegenteil. Das Meer bleibt warm und die Nachmittage am Strand haben eine sanfte Melancholie. Auch in unserer gepflegten Apartmentanlage „Los Tilos“ geht es in diesen Tagen recht ruhig zu.
Nur wenige Gehminuten vom Strand und der sympathischen Flaniermeile, dem beinahe autofreien „Boulevard“ entfernt, liegt die Anlage in einer kleinen Seitenstraße, umgeben von mediterranen Pinien und gepflegten Gärten. Zwischen Palmen und blühenden Sträuchern findet man zwei kleine Pools mit Sonnenterrassen – ruhig, freundlich und angenehm familiär.
In unmittelbarer Nähe finden sich einige Restaurants, von denen manche auch wegen der ausländischen, vor allem deutschen Residenten das ganze Jahr über geöffnet bleiben. Wir empfehlen das „Los Poetas Andaluces“ mit seinem herrlich folkloristischen Charme, die schummrig illuminierte „Minibar“ von Martin Höfer, ein Wohnzimmer und Treffpunkt auch in den Wintermonaten, die winzige, stets auch von vielen Einheimischen gut besuchte Panaderia S‘ Espiga von Agustina und Nico – und schließlich auch Geli’s Eck, eine echt kölsche Fußballkneipe auf Mallorca. Ein ganz eigener, sympathischer Mikrokosmos.
Auch hier, im Touristenort Peguera, einer Hochburg deutscher Touristen, lässt sich die Schönheit der Nachsaison auf Mallorca erspüren. Ein ganz besonderer Service ist das Programm „Calvià, der europäische Winter“, das schon seit 1992 während den Wintermonaten zu vielen verschiedenen kostenlosen Ausflügen und Wanderungen in der Gegend und auf der ganzen Insel einlädt. Es sind einige Hotels dem von der Verwaltungsgemeinde Calvià initiierten Projekt angeschlossen, das von dem fulminanten Organisator und Guide Denis Saro mit sehr viel Herzblut durchgeführt wird, um den Wander- und Kultur-Tourismus in der Nebensaison zu stärken.
Der Name „Peguera“ geht auf das Wort „pega“, „Harz“, zurück – in früheren Zeiten wurde hier aus Kiefernharz Pech produziert. 1343 landete König Pedro IV. von Aragón an der Küste von Peguera, um die Insel Mallorca von den Truppen des Königs Jaume III. zurückzuerobern. Bereits in den 1950er Jahren begann der Tourismus in dem Ort Fuß zu fassen. 1996 erhielt Peguera seine Promenade, welche die drei Hauptstrände – Playa Palmira, Playa Torà und Playa La Romana – verbindet. Ein touristisch geprägten Badeort, der sich doch seine mediterrane Grundstimmung und auch einige historische Bauten bewahrt hat.
Von hier aus lohnt ein Spaziergang zum Ortsteil Cala Fornels, wo man in der kleinen Bucht nicht nur herrlich baden, sondern auch die Architektur der Ferienanlage Aldea Cala Fornells betrachten kann, die der russische Baumeister Pedro Otzoup zwischen 1973 und 1976 nach dem Vorbild mexikanischer Pueblos geplant hat. Der Architekt ist für einige solche Anlagen, aber auch für viele Einzelbauten auf Mallorca verantwortlich gewesen. Man findet mehrere Bauten von ihm auch in Port d’Andratx. Eine sich in die Landschaft einfügende, ganz und gar sympathische, bewegte Siedlungsarchitektur zwischen Pinienbäumen und gepflegten Vorgärten, verbunden durch kleine Gassen und Treppen.
Weiter führen Wanderwege zum Torre de Cap Andritxol oder zur Mönchsbucht, der Calo d‘en Monjo, wo 1982 Agatha Christies Werk „Das Böse unter der Sonne“ mit Sir Peter Ustinov als Detektiv Hercule Poirot und Jane Birkin als Christine Redfern verfilmt wurde. Von hier aus kann man auch nach Camp de Mar hinüber wandern, einer kleinen Feriensiedlung mit Hotels, wo ein weiterer Badestrand und Restaurants einladen – mit dem allerschönsten Meer. Das türkisfarbene, wunderbar klare Wasser lässt an die Karibik denken – doch dieses Paradies ist ganz nah, nur zwei Flugstunden entfernt.
Marc Peschke





