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Reaktionäre Linke und progressive Konservative – wie sich die politische Sitzordnung verschiebt

Credit: Pixabay – Crossdresser

Die politische Topografie in Deutschland (und darüber hinaus) ist in Bewegung geraten. Während Teile der traditionellen Linken auf der Stelle treten und ihren inneren Kompass verlieren, verteidigen zunehmend konservative Stimmen jene Freiheitsrechte, die einst unzweifelhaft linkes Kernanliegen waren.

1. Freiheit – ein dynamischer Maßstab

Linke Politik war historisch stets der Kampf um Freiheit: erst ökonomisch-sozial, dann national im anti-kolonialen Kontext und, mit zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung, immer stärker individuell. Doch individuelle Freiheit ist kein fester Block; sie erweitert sich mit jeder gesellschaftlichen Errungenschaft. Dass queere Lebensmodelle im 21. Jahrhundert im globalen Westen selbstverständlich geschützt sein müssen, folgt genau jenem marxistischen Befund, wonach „das Sein das Bewusstsein bestimmt“.

2. Die „Krise der Männlichkeit“ – eine Debatte mit Schieflage

Der Schriftsteller Matthias Politycki forderte im März in einem NDR-Interview eine Rückbesinnung auf „Standhaftigkeit“ als männliche Tugend und warnte vor einer „Erosion des Männlichen“. Problematisch ist nicht die Aufforderung, Gewalt entschlossen zu begegnen, sondern der Versuch, diese Haltung zu maskulinisieren und damit zum Privileg eines angeblich verteidigungs¬stärkeren Geschlechts zu erklären – ungeachtet aller anderen Geschlechts- und Lebensentwürfe. Der Schriftsteller, der sich im „Stern“ im März 2022 selbst als links verortet hat, 2022), gibt an, von der Wokeness zum Umzug nach Wien verleitet worden zu sein.

3. Wenn Linksreaktionäre gegen „Wokeness“ mobilisieren

Der Vorwurf, Cancel Culture und Wokeness schränkten die Meinungsfreiheit ein, wird längst nicht mehr nur von rechts vorgetragen. Figuren wie Sahra Wagenknecht, Klaus Ernst oder Sevim Dağdelen haben mit dem „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“ (BSW) eine Partei gegründet, die soziale Umverteilung fordert, progressive Kulturkämpfe aber als „Gedöns“ abtut. Die BSW-Gründung am 8. Januar 2024 verfolgte sogar das Ziel, eine Art konservativen Sozialpatriotismus zu etablieren – eine Querfront-Strategie, die in der Weimarer Republik bereits scheiterte. Allerdings benennt der BSW die Strategie als „Vier-Säulen-Politik“. Dazu gehört dann auch, wir ahnten es schon: „Cancel Culture, Konformitätsdruck und die zunehmende Verengung des Meinungsspektrums sind unvereinbar mit den Grundsätzen einer freien Gesellschaft.“

Diese Strömung, die man als „linkes Reaktionariat“ bezeichnen kann, überzieht Debatten um geschlechtergerechte Sprache, Selbstbestimmungsrecht und Antidiskriminierung mit Spott oder mit der Behauptung, es gäbe Sprach- und Sprechverbote.

Auf zwei Kampfbahnen wird gefochten: Die eine ist jene, auf der behauptet wird, die Veränderung der Sprache und die Forderung mitzumachen, wäre der Angriff auf die Freiheit des Wortes. Die andere ist jene, auf der der Protest gegen einige wenige Begriffe (N-Wort, Z-Wort) und gegen die Verwendung von diskriminierenden Bezeichnungen (Deadnames u.a.) als Versuch gesehen wird, die Schere im Kopf zu etablieren. Dabei wird übersehen, dass Gegenprotest – ob demonstrativ auf der Straße oder scharf im Netz – legitimer Bestandteil demokratischer Auseinandersetzung ist.

4. Progressive Konservative verteidigen Freiheitsrechte

Auf der anderen Seite profilieren sich wertkonservative Stimmen als Verteidiger individueller Selbstbestimmung:

Ruprecht Polenz (CDU) plädiert in den Sozialen Medien für einen respektvollen Umgang mit dem Selbstbestimmungsgesetz und kritisiert die AfD scharf für deren Anti-LGBTQ-Kampagnen.

Die Publizistin Liane Bednarz wirbt in ihrer Kolumne bei der Heinrich-Böll-Stiftung für ein „publizistisches Brückenbauen zwischen Schwarz und Grün“ und fordert eine klare Abgrenzung der Union nach rechts.

Damit verteidigen ausgerechnet Bürgerliche jenen emanzipatorischen Liberalismus, den viele Linke derzeit geringschätzen.

5. Ukraine-Krieg als Lackmustest

Die Verschiebung wird auch außenpolitisch sichtbar. Während prominente SPD-Politiker\innen um Rolf Mützenich und Ralf Stegner jüngst in einem „Manifest“ erneut eine Entspannungspolitik gegenüber Russland fordern, kritisieren auch progressive Konservative dies als Realitätsverweigerung angesichts eines offen imperialen, autoritär-faschistischen Russland.

Altlinke mildern die russische Aggression also rhetorisch ab oder erklären die NATO zum Hauptgegner, während ein Großteil der Union und liberale Kräfte die militärische und humanitäre Unterstützung der Ukraine verlässlich tragen.

6. Neue Allianzen statt alter Lager

Wer eine freiheitliche, demokratische Gesellschaft gegen autoritäre Bedrohungen – ob aus Moskau, Peking oder von innen – erhalten will, muss über die alten Lagergrenzen hinwegdenken. Die Schnittmenge zwischen progressiver Linker und liberaler Wertkonservativismus ist inzwischen größer als die Distanz zu jenen Linken, die aus Angst vor kultureller Modernisierung nach rückwärts marschieren.

7. Fazit

Die künftige politische Koalition der Freiheit wird nicht allein aus Parteibindungen erwachsen, sondern aus einem gemeinsamen Werteverständnis: individuelle Selbstbestimmung, Rechtsstaatlichkeit, Solidarität mit Angegriffenen. Wer daran festhält, sollte sich verbünden – jenseits überkommener Lagerlogik.

 

Leander Sukov (geb. als Martin Timm, *1957) studierte Volkswirtschaft (ohne Abschluss), war in leitender Position in der Privatwirtschaft tätig und engagiert sich politisch in der SPD, unter anderem als Co-Vorsitzender der AG Selbständige in Bayern. Er war Vizepräsident des deutschen PEN-Zentrums und ist Präsident des Niederdeutsch-Friesischen PEN-Zentrums. Seit 1974 veröffentlicht er Texte in verschiedenen literarischen und publizistischen Genres. Sukov lebt in der „kleinen schönen Stadt“ Ochsenfurt am Main.

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