In dem berühmten Bild, das die drei Schwestern Brontë im Wohnzimmer des Pfarrhauses zu Haworth zeigt, leuchtet zwischen Charlotte auf der rechten Seite und Emily und Anne links ein länglicher Fleck, den ihre erste Biographin Elizabeth Gaskell, die Schöpferin der Brontë-Legende, als „helle Säule“ beschrieb. Tatsächlich aber handelt es sich um ein Selbstbildnis des Malers, das dieser später selbst entfernte – auslöschte, wie er sein eigenes, verpfuschtes Leben mit Whisky und Opium ausgelöscht hat. Der Maler ist Branwell Brontë.
1848, ein Jahr, nachdem die Schwestern mit ihren Romanen Jane Eyre, Sturmhöhe und Agnes Grey zu literarischem Ruhm gelangt sind, stirbt Branwell 31jährig im Delirium. Von ihrem Erfolg hatten Charlotte, Emily und Anne ihm nichts zu erzählen gewagt, aus Angst, den vergötterten Bruder zu beschämen. Aufgewachsen waren sie gemeinsam im Pfarrhaus, hatten sich vor der Einsamkeit, der Kälte und dem Tod, dem ihre Mutter und die beiden älteren Schwestern zum Opfer fielen, in eine Phantasiewelt zurückgezogen – oder vielmehr: in zwei Phantasiewelten: Angria und Gondal. Zeitungen und Biographien, Gedichte und Romane – Tausende von Seiten füllten die Geschwister mit den Abenteuern, Legenden und Chroniken ihrer imaginären Welten: hier bildete sich das schriftstellerische Potential heraus, das 1847 die literarische Welt Großbritanniens in Erstaunen versetzen sollte. Für Branwell allerdings wurde diese Phantasiewelt zu einer Falle – aus ihr fand er nicht mehr in die Welt der Wirklichkeit zurück.
Vom Vater und den Schwestern bewundert, wie sie mit Phantasie, schriftstellerischem und zeichnerischem Talent begabt, sollte Branwell die Hoffnungen und Träume der Familie erfüllen. Der Vater hatte es vom ungebildeten Bauernsohn zum Pfarrer in einer abgelegenen Gemeinde auf dem Hochmoor von Yorkshire gebracht. Nun sollte der Sohn einen Schritt weiter gehen. Die Familie legt ihre Ersparnisse zusammen, um einen Maler als Lehrer für Branwell zu engagieren und ihn nach London auf die Royal Academy zu schicken. Einige Wochen später kehrt er mittellos ins Pfarrhaus zurück. Er etabliert sich als Porträtmaler in der Industriestadt Bradford, aber sein unstetes Leben und die aufkommende Photographie machen diese Karriere zunichte. Wieder kehrt er nach hause zurück. Er erhält Posten als Privatlehrer, wird aber entlassen, weil er seinen Zöglingen Geschichten über Angria erzählt hat, statt ihnen Grammatik beizubringen, oder weil er, wie er andeutet, ein Verhältnis mit der Dame des Hauses gehabt hat. Schließlich erhält er einen Job als Bahnhofsvorsteher – stellt aber einen Jungen an, der seine Aufgaben erledigt, während er in der Wirtschaft zum Lord Nelson bei Bier und Whisky weiter Geschichten erzählt. Die Sache fliegt auf, Branwell kehrt wieder ins Pfarrhaus zurück. Es ist, als ob er dem „Gefängnis der Erwartungen“ seiner Familie mit aller Gewalt entfliehen will, und koste es sein Leben. Er löscht sein Bildnis aus dem Porträt der drei Schwestern – von denen zwei ihm binnen Jahresfrist ins Grab folgen werden. Aber etwas von ihm – dem einzigen Mann, den die Schwestern näher kannten, mit dem sie im einzig wirklichen sinne, nämlich geistig, intim waren – lebt in den männlichen Gestalten ihrer Romane fort – in ihrer Byronesken Dämonie, ihrer furchtbaren, haltlosen Schwäche.
Danke! Und so ein wichtiges Brontë – Familienmitglied, das so wenig bekannt wurde. Ein bisschen Branwell-Geist erkenne ich in einigen Männern heute, irgendwie dazu auserkoren wichtig zu sein, zu werden, zu bleiben, obwohl sie leider nur wenig beitragen können in unserer heutigen Zeit der aufsteigenden Diktatoren, in denen selbst die Idee mehr über Frieden als über Krieg zu sprechen als naiv klassifiziert wird. Ein sehr wichtiger Dok-Film zu diesem Thema ist, zum Glück frisch mit der Lola prämiert, eine genaue Studie über Petra Kelly. Mit einer der beiden Macherinnen, Doris Metz, sprach ich bei der 2024 Filmpremiere über die Rolle dieser Frau, als es darum ging Deutschland für mehr Ideen zu Frieden zu öffnen. So ein ‚Branwell‘ ist für mich immer ein von vorne herein zum Untergang verurteilter Aussenseiter. Ich frage mich gerade, ob Deborah Feldman auch ein wenig ‚Branwell‘ in sich trägt, und in wiefern die ‚Branwells‘ dieser Welt unseren Respekt verdienen. Es sollte vielleicht einen ‚Branwell‘ – Preis geben? Volle Kanne daneben wirkt auf mich manchmal nachhaltiger aufs Bewusstsein als Artikel mit dem ewig gestrigen mansplaining. Danke für diesen anregenden Tauchgang!