avatar

Als ich mir meine Heimat zurückholte, …

Erschienen in (Seite 166 ff.):

Wenn ich ein Prophet gewesen wäre …

Bodo Walther, Jahrgang 1960, lebte im Herbst 1989 in Tübingen

Wenn ich ein solide arbeitender Prophet gewesen wäre, hätte ich die Grenzöffnung in den Abendstunden des 9. November 1989 voraussagen können. Propheten sind keine Außerirdischen oder Wundertäter. Auch Propheten haben Informationen und zählen eins und eins zusammen.

Mir fehlte an diesem Donnerstag, dem 9. November 1989 schon eine Ausgangsinformation. Sie stand auf Seite 1 des Zentralorgans des ZK der SED, dem „Neuen Deutschland“. Ein Aufruf Christa Wolfs, von zahlreichen Künstlern, aber auch von Sprechern neu gegründeter politischer Organisationen in der DDR unterzeichnet. Er richtete sich an die Ostdeutschen, die noch nicht über Ungarn oder Prag gen Westen entschwunden waren und forderte sie auf, in der DDR zu bleiben und zu helfen, „eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt.“

Ein Prophet hätte gefragt: Warum veröffentlichen die Genossen das? In IHREM ND? Was haben DIE vor? Wann? Und überhaupt: Was soll dieser ausgetretene Schuh „Sozialismus“?

Aber ich bin kein Prophet. Ich hatte am Donnerstag, dem 9. November 1989, die Morgenausgabe des Neuen Deutschland nicht auf dem Tisch. 10 Monate zuvor, als Student der Rechtswissenschaften an der Universität Bonn, hätte ich sie gehabt. Jeden Tag war ich vom Juridicum die 100 Meter hinüber ins Gesamtdeutsche Institut gegangen. Das Neue Deutschland lag dort schon am Erscheinungstag aus.

Ich war zum Wintersemester 1989/90 nach Tübingen gewechselt. Dorthin fand das Blatt erst einen Tag später. Ich hatte mein Erstes Juristisches Staatsexamen in dieser Stadt abzulegen.

So sah ich im Herbst 1989 lediglich voraus, dass sich ganz Ostmitteleuropa und auch das mit der DDR in Bälde ändern würde. Aber wie ? und wann ?

Die DDR hatte mich nach drei Jahren Haft am 13. März 1985 ausgebürgert und von Chemnitz in Sachsen nach Gießen in Hessen verschubt. „Freikauf“ nennt die Geschichtsschreibung heute das Verfahren. Seitdem war ich aus der DDR ausgesperrt. Noch im März 1989 hatte man mir in Görlitz die Durchreise durch meine Heimat von Polen aus in die Bundesrepublik verweigert. Dabei wäre das der kürzeste Weg gewesen.

Meine jüngste Schwester hätte das Neue Deutschland in jenen Morgenstunden des 9. November 1989 kaufen können in Ostberlin. Aber ihr war nicht danach. Sie wusste, dass sie am Folgetag, dem 10. November 1989 bei mir in Tübingen sein würde und mehr interessierte sie gar nicht. Das wiederum hat gar nichts Prophetisches an sich.

Mit ihrem Mann, meinem Schwager, hatte sie wie Zehntausende auch über die offene Grenzen Ungarns nach Österreich flüchten wollen. Das war im September 1989 und auf dem Motorrad. Die slowakischen Grenzer nahmen sie fest. Die nahmen damals jeden jungen DDR-Bürger fest, der sich nach Ungarn begeben wollte, Motorradfahrer sowieso. Es war doch klar, wo die alle hinwollten. Dann wurden sie ausgeflogen, oder besser: in die DDR eingeflogen. In Handschellen, gesichert an je einem Begleiter von der Staatssicherheit wurden sie nach Ostberlin gebracht. Im Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Suhl saßen sie ein. Nie zuvor waren die Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit so überfüllt gewesen an „Republikflüchtigen“ wie in jenem Herbst 1989.

Eine „Amnestie“ verfügte die DDR-Regierung Ende Oktober 1989 und ließ sie alle wieder frei. Das heißt, der Schwager wurde zuerst entlassen, 5 Tage später, zum 3. November 1989, auch meine Schwester. Sie habe, so das MfS, zunächst noch das Gefängnis zu wischen. Jeden Tag wurde sie auf eine andere Zelle verlegt.

Was hatten DIE vor?

Dass der zuständige Rat des Kreises ihnen gleich ihren Ausreiseantrag genehmigt hatte ? Ja, das gab es schon auch mal. Innerhalb von 7 Tagen, bis zum 10. November 1989 hätten sie die DDR zu verlassen, so wurde ihnen eröffnet. Auch das war nicht außergewöhnlich. So sprang die DDR seit Jahren mit den „Bewilligungen von Übersiedlungsersuchen“, ÜSE, um. Alles müsse seine Ordnung haben, sagten die Behören. Meine Schwester habe nachzuweisen, dass sie schuldenfrei sei, ihre Stromrechnung bezahlt habe und ihre Miete und dass unsere Brüder in Leipzig und Berlin keine Forderungen an sie stellen. Wenn man raus wollte, damals aus der DDR, dann tat man das. Schnell.

Also waren die beiden am Morgen des 9. November 1989 bei unserem Bruder in Ost-Berlin.

Einige Wochen später war unser Bruder nur noch in Berlin und nicht mehr anzutreffen in Prora in der Kaserne, wo er eingezogen worden war, damals als Bausoldat. Das wiederum hat nur zu einem kleinen Teil damit zu tun, dass unsere Schwester Krankenschwester ist und keine Prophetin. Zum größten Teil hat es damit zu, dass sie nicht die einzige Krankenschwester war, die sich 1989 auf den Weg machte.

In den Krankenhäusern der DDR war im Herbst 1989 der Notstand ausgebrochen. Unser Bruder und alle anderen Bausoldaten wurden in einer eiskalten Nacht Ende November 1989 auf einen offenen LKW gepfercht. Der brachte sie „nach Hause“. Ihre Restdienstzeit als Bausoldat, so wurde ihnen eröffnet, hätten sie in dem und dem und dem Krankenhaus als Pfleger abzuleisten. Wer zu Hause schlafen könne, solle das bitte tun.

Wenn wiederum mein Bruder ein Prophet gewesen wäre, hätte auch er sich einiges zusammenreimen können. Dass es bald darauf in der DDR und noch unter einer SED-Regierung einen richtigen zivilen Ersatzdienst geben würde, zum Beispiel.

Nein, unsere Mutter hat keine Propheten geboren

Deshalb gebe ich es zu: Ich war überwältigt am Abend des 9. November 1989, als ich auf einmal ein Mittelpunkt im Studentenwohnheim war. Meine schwäbischen Kommilitonen, einer nach dem anderen, bestürmten mich: „Haascht äs scho mitkriegt ? Dä Mauer ist offen !“

„Morgen,“ so sagte ich in die Runde, „Morgen kommt meine Schwester.“

„Du hascht a Schwäster ?“ – „Drei“ entgegnete ich. „Wahnsinn, dä kommet jetzt älle ? Familienzäsammenführung ! Mir feiret ä Fäscht !!!“

Ihr Taxi, ein uralter Moskwitsch kam am nächsten nachmittag von Suhl aus kommend in Tübingen im Studentendorf an. 300 DDR-Mark hatte der Fahrer verlangt und ein Stillschweigen über die drei Kanister voller Benzin in seinem Kofferraum. Wie hätte er denn ohne Westgeld tanken sollen? Gab es in Westdeutschland überhaupt noch Gemische für Viertakt-Motoren?

Den Wagen mit dem DDR-Kennzeichen bestaunten meine Mitstudenten wie ein Raumschiff von einem anderen Stern. „Ä Trabbi !“ riefe eine begeistert aus. „Bodo, ä Trabbi, i hän noch nie ä Trabbi gesähn !“

Die Mauer war offen und meine Schwester und ich sahen uns an. „Wieder nach Hause ?“

Nicht gleich. Aber Weihnachten würden wir erst einmal zurück in der DDR sein. Bei Mutter. Das Spätere kommt später.

Ja, ich sah an jenem Donnerstag, am Morgen des 9. November 1989 einiges voraus. Aber eben nicht alles. Ich sah nicht einmal voraus, was ich mir aufgeladen hatte, 5 Tage zuvor. An jenem Samstag, dem 4. November 1989, hatte ich mich zum Kreisvorsitzenden der Jungen Union, der CDU-Nachwuchsorganisation, in Tübingen  wählen lassen.

Als Kreisvorsitzender des Parteinachwuchses war ich nun zu den CDU-Kreisvorstandssitzungen geladen. Ich kam gar nicht mehr darum herum, auch in die Partei selbst einzutreten. Auf „meiner“ ersten CDU-Sitzung, am Mittwoch, dem 15. November 1989 wollten es meine neuen Parteifreunde wissen:

„Bodo, Sä sön ja von da drübe. Was müsset mir jetzt mache?“

Ehrlicherweise: Ich wusste es selbst nicht.  Aber der Plan, den Helmut Kohl ausbreiten wird, er wird kommen.

Im Dezember wird DDR-Regierungschef Hans Modrow mit den bisherigen Blockparteien und den neuen Bürgerbewegungen Wahlen zum 6. Mai 1990 in der DDR vereinbaren. Diese werden dann im Januar noch auf den 18. März vorgezogen. Gut, Modrow wird diese Wahlen vorbereiten und organisieren. Aber er selbst und sein Verein, die nunmehrige Partei des Demokratischen Sozialismus, SED-PDS, kommen doch als Machthaber gar nie mehr infrage, oder?

Und sonst? Und sonst wird sich in der DDR ein Macht-Vakuum eröffnen. Wer dort hineinspringen wird, der wird zu einem Riesen aufgebläht werden. Irgendjemand wird springen müssen. Niemand kann im Chaos leben.

Die CSU schmiedet aus mehreren konservativen Splittergruppen eine „Deutsche Soziale Union“, DSU, unter dem Leipziger Pastor Wilhelm Ebeling. In Berlin hat sich in der Küche des Pastors Erhart Neubert ein „Demokratischer Aufbruch“, DA, gegründet. Die DDR-Block-CDU hatte sich uns, den West-CDUlern, direkt an den Hals geworfen. Diese drei Gruppen bündelt das Konrad-Adenauer-Haus Anfang Februar 1990 für die bevorstehenden Volkskammerwahlen zu dem Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“.

Wir, die CDU Baden-Württembergs, werden den Wahlkampf für diese Allianz in Sachsen führen. Der CDU-Bezirksverband Württemberg-Hohenzollern wird den Bezirk Leipzig bekleben lassen. Unser Kreisverband Tübingen wird in diesem Bezirk die Kreise Wurzen und Oschatz übernehmen. Am Freitag, dem 9. Februar 1990 werden wir dort mit vier Parteifreunden aufschlagen.

„Wie die Landsknechte, die ein fremdes Land erobern,“ so wird sich Ulrich Maurer, damals noch Fraktionsvorsitzender der SPD im Landtag von Baden-Württemberg entrüsten, „wie die Landsknechte fallen die schwäbischen Horden der Jungen Union in Sachsen ein.“

Ich bin kein Prophet. Ich werde an jenem 9. Februar 1990 nicht wissen, was noch werden wird aus dem jungen Mann, den wir in Oschatz antreffen werden. Dem bärtigen zweiten Sekretär der Kreisleitung der Oschatzer Block-CDU namens Frank Kupfer. Dass er einmal Generalsekretär der sächsischen Union werden wird, Umwelt- und Landwirtschaftsminister, das werde ich nicht einmal erahnen.

Wissen werde ich lediglich eines:

Wir werden überall in der DDR über CDU-Geschäftsstellen mit funktionierenden Festnetz-Telefonen und Fax-Geräten verfügen. Wir verfügen zudem über mindestens zwei hauptamtliche Funktionäre in jeder der 218 CDU – Kreisgeschäftsstellen in der DDR. Diese warten auf ihre weitere Verwendung durch uns, die West-CDU und unsere Anweisungen.

Frank Kupfer wird dafür des Nachts zwischen 2 und 3 Uhr am Faxgerät stehen, um Anweisungen aus Tübingen zu empfangen und selbst Berichte von Oschatz nach Tübingen zu senden. Tagsüber sind die Faxleitungen ja meist anderweitig belegt.

Wir, die CDU, werden die Volkskammerwahlen am 18. März 1990 gewinnen. Wir würden in Sachsen einen schwarz angestrichenen Besenstiel als Volkskammerkandidaten aufstellen können und „CDU“ daran schreiben. Er wird gewählt werden.

Und ich werde am 9. Februar 1990 wissen, was den Grenzsoldaten der DDR schon lange klar ist. Das hängt mit dem Mobiltelefon unseres Tübinger CDU-Kreisvorsitzenden, Knut Ludwig, zusammen. Knut Ludwigs „Siemens C1“ wiegt 6,6 Kilogramm und er wird es bei der Einfahrt in die DDR anmelden müssen.

„Was woll’n S’e erwärb’n ?“ so wird der der DDR-Grenzer an der Grenzübergangsstelle Hirschberg in Thüringen hinter dem Brückenrasthaus Frankenwald in Bayern fragen und auf den Funkapparat weisen:

„- Änne Dachesgarte ?

Änne Wochengarte ?

Änne Monadsgarte ? Oder

änne Jahresgarte ?“

„A Jahreskartä hätt i scho gärn.“ So wird unser CDU-Kreisvorsitzender antworten. „Mir kommet nämlich öftersch.“

„Nausgeworf‘nes Geld“ wird dann der andere DDR-Grenzer erwidern, beim Überreichen des Dokuments an jenem 9. Februar 1990.

„Nausgeworf‘nes Geld. Zun Jahresände gibd’s dän Schdaat nich‘ mehr.“

Shares
Folge uns und like uns:
error20
fb-share-icon0
Tweet 384
avatar

Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

2 Gedanken zu “Als ich mir meine Heimat zurückholte, …;”

  1. avatar

    Lieber Bodo Walther,
    vielen dank für das Teilen dieses Textes hier. Er hat mich angeregt, meinen 9.November 1989 endlich mal aufzuschreiben. Für mich war dieser Tag der Schlusspunkt einer langen Reise, die doch auch nur ein Kreis geworden ist. Ich saß in München, nachdem mich die BRD im August 89 aus Bautzen freigekauft hatte. Und als ich die Fernsehbilder sah, fuhr ich noch in dieser Nacht mit dem Auto meiner Mutter zurück in den Osten. Wie auch immer, nochmals vielen Dank für Ihren Text.

    1. avatar

      Vielen Dank für den Zuspruch, lieber Daniel Anderson,

      für viele meiner (und sicher auch Ihrer) Haftkameraden blieb der Osten allerdings ein Stück Nie-Wieder-Land.

      Mein Haftkamerad Jürgen, ein Leipziger Bauingenieur, der dann in den 1980ern in der Westberliner Evangelischen Kirche baumeisterte, sagte mir 1990:

      „Ach Du Sch… jetzt werden wir die Evangelische Landeskirche Berlin-Brandenburg und ich habe die alle wieder an der Backe.“

      Und sie wissen es selbst: Ihr Leben „im Kreis“ war eine Wanderung. Heimkehrer kehren ja immer als jemand anderes wieder heim, als die, der sie waren, als sie gegangen sind. Sagt ja auch das Lied vom jungen Wandersmann:

      „Den soll man als G’sell erkennen ?
      Oder gar ein‘ Meister nennen ?
      Der noch nirgends ist gewest,
      nur gehocket in sein’m Nest!“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Shares
Scroll To Top