Manche Dinge, über die man liest, bekommen erst im Lauf der Zeit einen Sinn. Dazu gehört auch das im Dezember 2021 im österreichischen STANDARD veröffentlichte Interview mit der Psychiaterin Heidi Kastner. Es trug den Titel „Man muss nicht jede Meinung wertschätzen“. Sein Inhalt ist aktueller denn je.
Die Aktualität
Die Ereignisse überschlagen sich und die Medien kommen mit ihrer Berichterstattung ebenso an ihre Grenzen, wie unser eigenes Denken. Diese Dynamik hat noch gefühlt zugenommen, seit ein neuer Kandidat für die Medienshow „Die Welt sucht den größten Diktator“ damit begonnen hat, eine der ältesten Demokratien aus den Angeln zu heben.
Einer seiner Hauptprediger hat sich entschlossen, auch in Deutschland und rechtzeitig vor den Wahlen am 23. Februar die Botschaften seines Herrn und Meisters zu verbreiten. Dies soll dafür sorgen, dass die deutsche Wählerschaft sich ebenfalls von ihrer Demokratie abwendet und mit ihrer Stimme einen Neuanfang wagt. Ihre Stimme soll sie einer Partei geben, die rechtsextremistisch, menschenverachtend, antidemokratisch und geschichtsvergessen ist.
Europa- in Teilen ein schlechtes Vorbild
Schwesterparteien dieser Partei haben in Teilen Europa bereits mit dem Umbau begonnen. Hinzu gesellt sich in Kürze der Nachfolger eines ebenso kleinen und ebenso österreichischen Volkskanzlers, der dank einer eingerissenen Brandmauer, also mit Hilfe einer demokratischen Partei die Regentschaft in Österreich übernehmen wird.
In Deutschland lässt ein wie erwartet unsachlich und dogmatisch geführter Wahlkampf das Vorhersagependel täglich neu ausschlagen. Ob es um ein Ende der Maßnahmen gegen den Klimawandel, eine Renaissance von Verbrennungsmotoren oder Kernkraftwerken, um mehr oder weniger Steuern, um mehr oder weniger Bürgergeld, Mindestlohn und Wirtschaftssubventionen oder um eine Position für oder gegen Russland oder Amerika geht: wir schleudern plan- und ziellos zwischen faktenlosen Parolen hin und her: Täglich gibt es neue Fragezeichen, ohne eindeutige Lösungswege. Täglich nimmt die gesellschaftliche Verunsicherung zu. Täglich werden neue Säue mit heftigen Hieben durchs Dorf getrieben.
Einer der Kanzlerkandidaten hat die grauenhafte Bluttat von Aschaffenburg genutzt, um in markige Rhetorik zu verfallen. Er folgt damit dem neuen, alten aber auf alle Fälle starken Mann in den USA. Sein Vorgehen lässt trotz aller Beteuerungen des Gegenteiligen die Brandmauer zwischen seiner Partei und der Partei, die Deutschland wieder dahin bringen will, wo sie besagter österreichischer Volkskanzler 1933 gebracht hat, bröckeln. Neuer Tag – neue Sau im Dorf….
Von Dummheit und Intelligenz
All dies bringt uns zurück zu der Erkenntnis aus dem STANDARD-Beitrag von 2021, dass es keine wissenschaftlich anerkannte Definition von Intelligenz gibt. Noch schwieriger sei es, eine genaue Definition für Dummheit festzumachen. Beide Aussagen hatten mich schon damals beruhigt – und sie beruhigen mich auch heute noch.
„Dumme Entscheidungen hätten in der Geschichte der Menschheit „schon mehr Schaden angerichtet als alle Waffen, Bakterien und Viren gemeinsam“, schreibt Heidi Kastner in ihrem Buch über Dummheit. Geboren wurde die Idee zu der Abhandlung über dummes Verhalten „…durch die jahrzehntelange Begegnung mit dem Phänomen, das einen immer wieder fassungslos macht“, wie die Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie dem STANDARD seinerzeit erzählte.
Die erste Kernfrage des Interviews lautete »Ergibt sich die Definition von Dummheit nicht automatisch aus jener von Intelligenz?«
Die Antwort von Frau Kastner sah so aus: »Ganz und gar nicht. Dummheit ist nicht das Gegenteil von Intelligenz. Intelligenz beziffert einige messbare Parameter in der psychischen Funktionsfähigkeit: logische Schlussfolgerungen abzuleiten, vernetzend wahrzunehmen und Fähigkeiten, die man im Intelligenztest abfragt: Bildung, Sprachkenntnisse, Wortschatz. Aber das hat mit Dummheit nichts zu tun. Es gibt furchtbar dumme Menschen, die im Intelligenztest grandios abschneiden, und Leute, die sind durchschnittlich begabt, haben aber eine gewisse Form von Klugheit, die sie vor Dummheit bewahrt.«
Kann man Dummheit vermessen?
Der STANDARD fragte weiter: »Woran erkennt man Dummheit, wenn sie sich der Vermessung entzieht?«
Frau Kastners Antwort ist mein gelebtes Antidot für die momentane Lage: »Dummheit ist vor allem … zum einen diese unhinterfragbare Überzeugung, im Besitz der Wahrheit zu sein, und zwar ohne Zweifel. Damit geht auch die anmaßende Position einher, zu allem eine bedenkenswerte Meinung beziehen zu können, ohne sich über das Thema gründlich zu informieren. Der Glaube, … genug zu wissen, nur wenn man einmal irgendwo etwas gehört hat, und daraus eine Position beziehen zu können, das ist Faulheit oder Indolenz.
Man bemüht sich nicht um ordentliche Entscheidungsgrundlagen und folgt seinem Bedürfnis, mit einem Schild herumzurennen, ohne seine Position zu überdenken oder sich für seine eigene Position verantwortlich zu fühlen, weil diese Verantwortung in der Gruppe diffundiert. Wenn alle dasselbe schreien, kann ich das getrost mitschreien und brauche mir nicht zu überlegen, was ich da eigentlich schreie.
Dummheit ist aber auch eine völlig fehlverstandene Toleranz, die meint, man müsse alles gelten lassen. Das muss man nicht. Man muss auch nicht jede Meinung wertschätzen. Alles verstehen bedeutet bekanntlich, alles zu verzeihen – was W. S. Maugham als Mentalität des Teufels bezeichnet hat. Man muss sich positionieren und überlegen, warum man sich positioniert. Es reicht nicht zu sagen, dass das viele andere auch machen.«
Wie indivuell ist Dummheit?
In der nächsten Frage näherte sich der STANDARD einem Wesentlichen: »Tendieren manche Menschen eher dazu, Dummes zu tun?«
Auch darauf hatte Frau Kastner eine sehr treffende Antwort parat: «Es gibt intelligente Menschen, die fürchterlich dumme Entscheidungen treffen und sich sehr dumm verhalten. Dumm meint, ignorant zu sein, unglaublich selbstsicher oder nur „bei sich“ zu sein, wie es so schön heißt heutzutage, es bedeutet das Ausblenden von Verantwortungen, dass man keine Informationen vor Entscheidungsfindungen einholt, selbstzentriert und selbstherrlich zu sein, kein Gefühl dafür zu haben, dass man als Teil eines Ganzen auf der Welt ist und das Ganze mitbedenken muss, wenn man Entscheidungen trifft. Dummheit hat auch viel zu tun mit einer gewissen Form von Arroganz.«
»Was fördert Dummheit, Emotionen wie Angst und Sorge?« lautete die nächste STANDARD-Frage.
Die Antwort von Frau Kastner: »Heftige Emotionen sind oft kein guter Ratgeber. Wenn man nicht gelernt hat, Emotionen zu definieren, zu hinterfragen und auch zu kontrollieren – was man lernen sollte in der Persönlichkeitsentwicklung –, dann können diese natürlich zu im Nachhinein bedauernswerten, weil dummen Handlungen führen. Meistens sind dumme Entscheidungen aber eine Folge von einem Bündel an Dingen.«
Religiöse Parallelen
Heidi Kastner betonte in dem Interview, dass es nachvollziehbar sei, dass Länder, die eine lange Tradition von Denk-, Positions- und Moraldiktatur haben, das Denken und Bestimmen anderen zu überlassen. Das jahrhundertelang tradierte autoritäre Denkmodell von Kirchen löse sich zunehmend auf. Dies führe dazu, dass sich Menschen an allen möglichen anderen Denkvorgaben und neuen Idolen orientieren.
Ich führe aus dieser Aussage die Tatsache zurück, dass Esoterik und Schwurbelei derzeit eine Hochkonjunktur erleben. Die Wirkung von „Celebrities“, von „Machern, die es geschafft haben“ sorgt dafür, dass ihren Anhängern damit vermittelt wird, zu den Auserwählten, die den Durchblick haben, zu gehören. Hierin liegt eine gewisse Parallele zu Religionen, die sich ja jede für sich als die einzig Wahre bezeichnen. Die jeweiligen Anhänger fühlen sich bis zu einer Missionierungsbereitschaft über Andere erhaben.
Ich hoffe, es geht Euch wie mir, wenn Ihr die Kernsätze dieses Interviews im Kontext der unzähligen Talkshows, Medienberichte, Interviews oder einfach nur der worthülsenreichen Ansprachen von Politikern betrachtet, mit denen wir uns täglich auseinandersetzen müsse.
Vom Aushalten und Dagegenstehen!
Vielleicht fällt es uns allen nach dem Betrachten dieses Textes wieder leichter, das alles auszuhalten, was medial im Sekunden-Minuten-Stunden-Tagestakt auf uns einprasselt.
Es geht neben dem Aushalten des Ganzen vor allen Dingen um die Hoffnung, dass die Menschheit auch diese Zeiten überstehen wird. Nun ist Hoffnung allein ein zartes und zerbrechliches Gut. Sie braucht positive „Nahrung“ – und nicht permanente Nackenschläge. Daher ist aus meiner Sicht das Prinzip „Hoffnung“ durch das Prinzip „Aushalten“ zu ergänzen.
Auch Diktaturen haben eine begrenzte „Haltbarkeit“, ohne jedoch ein Mindesthaltbarkeitsdatum zu kennen.
Wichtig ist neben Hoffen und Aushalten das Prinzip „Dagegenhalten“. Wir dürfen nicht wie eine Schildkröte nur in unserem Aushalten- und Hoffnungspanzer sitzen und abwarten, bis die Gefahr an uns vorbeigezogen ist. Wir müssen uns trauen, uns den Stürmen entgegenzustellen. Wir müssen laut sein, müssen uns zeigen, müssen für unsere Demokratie einstehen. Noch sind wir mehr, auch wenn sich das täglich zu verändern scheint.
Viel Erfolg beim Versuch beim Aushalten, Hoffen und Dagegenhalten!