avatar

Häschtäg: e X it oder: Wie man einen Raum verlässt

„Lügen kann man widerlegen, Wahrheiten muss man verbieten.“ Als Hannah Arendt das in ihrem Text von 1972 „Die Lüge in der Politik“ schrieb, war die Welt noch eine ganz andere. Lügen und Wahrheiten wurden von Pressestellen und Sprechern der Regierungen über Rundfunkanstalten und Zeitungen verteilt. Der Deutungsanspruch über das, was Lüge, über das, was Wahrheit ist, lag in relativ wenigen Händen, die diesen Anspruch veröffentlichten. Damit waren veröffentlichte und öffentliche Meinung relativ nah beieinander. Das ist seit der Schwemme der sogenannten sozialen Netzwerke Geschichte.

Ein guter Bekannter und von mir sehr geschätzter Kollege dachte in einem Post bei Facebook darüber nach, diese Plattform und alle anderen META-Dienste zu verlassen. Er befindet sich in zahlreicher Gesellschaft. Unter den Exilanten, die X den Rücken gekehrt haben, befinden sich zahlreiche deutsche Hochschule und Universitäten, das „Redaktionsnetzwerk Deutschland,“ Sportvereine, Kirchen, die Diakonie, Kaninchenzüchtervereine, Ortsverbände verschiedener Parteien und viele Privatpersonen. Nach dem Livestream des Gespräches zwischen Elon Musk und Alice Weidel auf X hat der Exodus scheinbar noch einmal Fahrt aufgenommen. Während ich meinen Kollegen noch verstehen kann, denn er will das offenbar für sich selbst tun, nicht mehr jemanden unterstützen, mit dem er nicht einverstanden ist, sieht das bei Institutionen schon anders aus. Diese Institutionen agieren nicht aus sich heraus sondern betreiben massiv jakobinisches Virtue signaling.

Doppelmoral die 1.

Verstörend ist vor allem der Widerspruch zwischen der zu erwartenden, oder bereits existierenden, gefühlten Realität auf diesen Plattformen und die Konsequenzen, die daraus gezogen werden. Wenn, so möchte man fragen, man doch soviel Wert auf freien Diskurs und demokratische Auseinandersetzung legt, warum verlässt man einen Raum, in dem es zumindest bis jetzt theoretisch möglich war, diesen Diskurs zu pflegen? Wir alle wissen, dass das auch bisher nicht ohne staatliche Eingriffe möglich war, wie Twitter Files und Netzwerkdurchsetzungsgesetz nur zu eindrücklich beweisen.

Doch, natürlich muss es Regeln geben, die für alle zu gelten haben. Dass es mit der Gleichheit allerdings bei der Durchsetzung dieser Regeln in der Vergangenheit bei twitter und facebook nicht besonders gut bestellt war, weiß jeder.

Beispielsweise wurde der Populist Trump auf twitter gesperrt, während der Islamist Ayatollah Khamenei weiterhin munter seine Ideologie dort veröffentlichen und seiner Fantasie, einen neuen Holocaust zu initiieren, ungebremst freien Lauf lassen durfte.

Ich selbst wollte ein Bild einer sogenannten „Palästinademo“ in London bei Facebook posten, auf dem die Besetzung des Brunnens durch Personen zu sehen war, die palästinensische Fahnen schwenkten und ein Hakenkreuz auf den Brunnen geschmiert hatten. Dieser Post verstieß gegen die Gemeinschaftsstandards bei Facebook. Gleichzeitig aber wurde auf Instagram unanbestandet ein Post einer „Palästinademonstrantin“ veröffentlicht, und blieb dort tagelang online, die in die Kamera den Hiltlergruß zeigte und dazu sagte: „Jews you know what Holocaust means. Wait for it again. You’ll see.“

Erinnern wir uns an die Covid-Pandemie. Die Aktion #allesdichtmachen war Thema mehrere Nachrichtensendungen, Zeitungsartikel, Blogbeiträge, aber bei Facebook und twitter fand sie kaum statt. Unzählige „Facktechecker“ meldeten und nicht wenige Unterstützer der Aktion wurden mit „Shadowban’s“ belegt. Faktisch wurde nicht nur Kritik, sondern eben auch Wahrheit verboten. Gleichzeitig lief die Propagandamaschine der EU für die Impfung, Masken, Lockdowns auf Hochtouren, auch und gerade in den sozialen Netzwerken. Kritiker der Maßnahmenpolitik durften öffentlich auf den Plattformen als „Schwurbler,“ „Demokratiefeinde“ und sogar als „Nazis“ diskreditiert werden. Kritik verstieß gegen die Gemeinschaftsstandards, die Diskreditierungen und Beleidigungen dagegen nicht.

Trotz vs. Angst

Ich war einigermaßen erstaunt über die Begründung meines Kollegen, warum er denn darüber nachdenke, Facebook zu verlassen. Er begründete das mit der in Aussicht gestellten, neuen Policy des Konzerns, die Zusammenarbeit mit „Faktencheckern“ beenden zu wollen. Damit, so meinte er, sei eine die zivile Streitkultur infrage gestellt und es würden „Fakenews,“ sowie „Hass“ und „Hetze“ Tür und Tot geöffnet. Die Meinungsfreiheit sei in Gefahr und damit die Demokratie. Der Text glich dem vieler anderer User und Institutionen, die vor allem ihren Rückzug von X verkündeten, weil Elon Musks ‚populistische Firmenpolitik‘, „Faktenchecker“ dort vor die Tür gesetzt hatte. Da Zuckerberg das jetzt auch angekündigt hat, scheint sich der Trend auch bei Meta fortzusetzen.

Welche Angst regiert da? Oder ist es einfach nur Trotz? In den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit den Begriff des „mündigen Staatsbürgers.“ Darauf konnten wir im Osten nur neidvoll über die Mauer blicken. Mündigkeit war das, was es in der DDR nun tatsächlich nicht gab. Obwohl das Polibüromitglied Kurt Hager, Leiter der Ideologiekommission, verkündete, man habe nichts gegen freie Meinungsäußerungen, wenn sie vom „richtigen Klassenstandpunkt“ ausginge.

Schaut man sich die Exilbewegung an, so kann man den Eindruck gewinnen, der mündige Bürger wäre bereits ins Exil gegangen. Man verhält sich wie eine Schar Lemminge, indem man dem Beispiel der Politik folgt und dem Diskurs ausweicht. Und, nachgefragt: Was passiert, wenn jetzt der Fußballverein „Blutgrätsche Hintertupfingen“ auf Bluesky oder auf Mastodon ein Nischendasein führt? Richtig, gar nichts. Weder wird die populistische AfD oder das populistische BSW Stimmen verlieren und damit weniger wichtig, noch verpasst man X oder Meta einen Denkzettel. Es ist vor allem dummes Symbolagieren. Man befindet sich dort vielleicht unter seinesgleichen, einen Diskurs braucht man aber an solchen Orten nicht zu führen, eben weil er zu nichts führt.  Die Spaltung der Zivilgesellschaft wird nur weiter vorangetrieben, nachdem die Politik auf diesem Gebiet in den letzten zehn Jahren ganze Arbeit geleistet hat. Denn die deutsche Politik hat mit ihrem eratischen Agieren,  erst den Aufstieg von AfD und BSW ermöglicht. Der Merkellismus – die Entpolitisierung der Politik – steckt der Gesellschaft noch tief in den Knochen.

Doppelmoral die 2.

Auf der Homepage bei Radio Essen heißt es:

„Mehr als 50 Hochschulen und Forschungsinstitute aus dem deutschsprachigen Raum verlassen die Plattform X (ehemals Twitter). Sie wollen damit ein Zeichen setzen gegen die aktuelle Ausrichtung der Plattform von US-Tech-Milliardär Elon Musk. Deren Werte seien nicht mehr mit den Grundwerten der Institutionen vereinbar. Diese sind Offenheit, wissenschaftliche Integrität, Transparenz und demokratische Diskussion.“

Dieses Statement steht für mich exemplarisch für die widersprüchliche Doppelmoral einer Symbolpolitik, die genau das Gegenteil von dem bewirkt, was vielleicht intendiert sein mag. Wenn die Grundwerte der Institutionen doch Offenheit, Transparenz und demokratischer Diskurs sind, warum wird mit dem Exodus eben jenen Grundwerten abgeschworen? Was hindert die Institutionen, oder eben auch jeden einzelnen User daran, sich auf X oder bei Meta der demokratischen Diskussion zu stellen, Widerspruch zu leisten und in den Diskurs zu gehen? Es besteht außerdem die freie Wahl, Beiträge, deren Ausrichtung man der eigenen für diametral entgegengesetzt hält, einfach zu ignorieren. Man kann Accounts blockieren oder die Kommentarfunktion unter den eigenen Beiträgen einschränken. Man hat also jedes nur mögliche Tool zu Verfügung, sich vor der Meinung anderer zu schützen, wenn man das will.

Besonders einfältig ist die Ankündigung des DDR-Museums in Berlin. Dort wird der Rückzug von X auch mit den gleichen Textbausteinen ausgeschmückt, die man schon kennt: Vielfalt, Demokratie Meinungsfreiheit sei bedroht, Solidarität sein ein Wert, den man unbedingt vertrete und so weiter und so fort, siehe Screenshot. Ein Museum, das daran erinnern soll, wie katastrophal es in der DDR um Meinungsfreiheit, Solidarität, Demokratie, um gesellschaftlichen Diskurs bestellt war, entzieht sich eben diesem. Besser kann sich Scheinheiligkeit nicht desavouieren.

.

Musk und Zuckerberg ist es übrigens scheißegal, ob deutsche Hochschulen oder Museen ihre Dienste verlassen. Musk hat auf seinem eigenen Account beispielsweise nur im Juli letzten Jahres ca. 4 ½ Millionen Follower dazugewonnen, SpaceX immerhin noch 540 Tausend. (Quelle: https://tridenstechnology.com/de/twitter-benutzer-statistik/#h-twitter-value)

Wirtschaftlich kann man X also nicht schaden wollen. Seine Daten hat man den Konzernen ohnehin schon freiwillig überlassen und trägt sie jetzt, falls man woanders aktiv wird, auch noch dorthin.

Es kann also nur um den moralischen Anspruch gehen. Dieser Moralanspruch ist aber absolut nichts wert, weil er von Hypokrisie und Trotz dominiert wird. Man gibt auf, weil man nicht derselben Meinung ist, wie der Betreiber? Schwach – ganz und gar unmündig.

Daniel Anderson: Berufsausbildung zum Flugzeugmechaniker. Regiestudium an HFF „Konrad Wolf“ in Babelsberg. Berufsverbot als Filmregisseur in der DDR. Oberspielleiter, Autor und Schauspieler am Theater Senftenberg. Nach dem Mauerfall freier Regisseur, Autor (TV-Serie, Theater, Synchron), Schriftsteller und Musiker. Studium Vergleichende Religionswissenschaften in Bonn. Gründer und Leiter der „Theaterbrigade Berlin.“ Anderson lebt in Berlin und immer mal wieder in Tel Aviv.

Shares
Folge uns und like uns:
error20
fb-share-icon0
Tweet 384

4 Gedanken zu “Häschtäg: e X it oder: Wie man einen Raum verlässt;”

  1. avatar

    „Was hindert die Institutionen, oder eben auch jeden einzelnen User daran, sich auf X oder bei Meta der demokratischen Diskussion zu stellen, Widerspruch zu leisten und in den Diskurs zu gehen?“
    Es ist, lieber Daniel Anderson, wohl die gleiche larmoyant-passive Agression, die früher der ‚man-wird-ja-wohl-noch-sagen‘-Fraktion vorwerfen konnte.
    Überhaupt habe ich seit einiger Zeit den Eindruck, dass das, was früher üblicherweise der intoleranten Rechte vorgeworfen wurde (Antiamerikanismus, Kollektivismus, dörflicher Konformitätsdruck, geistige Enge, Borniertheit, Antisemitismus sowieso..) heute das Hauptmerkmal der autoritären Linken ist. Über Gründe dafür kann ich auch nur spekulieren: Altersstarrsinn? Muss die notwendige Anpassung an die Realität böse sein, damit das eigene, mühsam errichtete Weltbild erhalten bleibt?

  2. avatar

    Im übrigen ist X keine offene Plattform. Ich habe mich da nicht angemeldet und werde es auch nicht tun. Daher habe ich dort auch keinen Zugang.

    Um an diesem „Diskurs“ teilnehmen zu können, soll ich einem der mächtigsten Männern der Welt, der in weiten Teilen diametral andere Werte vertritt als ich, der Typen wie Trump, Tommy Robinson oder Martin Sellner unterstützt, auch noch meine persönlichsten Daten schenken?

    Was glauben Sie, was Typen wie Robinson, Sellner und Co. mit den Daten machen, wenn sie einmal die Macht ergriffen haben. Es gibt jetzt schon genügend gut dokumentierte Fälle, bei denen Rechtsradikale Listen hatten auf denen Leute Standen, die allein wegen ihrer politischen Einstellung nach der Machtergreifung verhaftet werden sollten.

    https://www.facebook.com/monitor.wdr/posts/bei-den-kommunalwahlen-im-juni-zog-haik-j%C3%A4ger-f%C3%BCr-die-afd-in-den-kreistag-nordwe/852906096867602/

    https://youtu.be/bDEe_R9W1Q0?feature=shared

    Wer denkt, Robinson, AfD und Sellner seien das kleinere Übel, da sie angeblich an der Seite Israels stünden, dem ist nicht zu helfen. Sie werden kommen und versuchen uns abzuholen. Vielleicht zuerst mich, irgendwann werden sie auch zu Ihnen kommen. Da hilft es, wenn wir als Freunde der offenen Gesellschaft und des freien Diskurses auf unseren Handys GPS-Tracking freigeben, dann finden sie uns schneller.

  3. avatar

    Institutionen, wie auch Journalisten, deren Job es ist, möglichst viele Menschen zu erreichen, können ja auf X bleiben. Das hindert sie nicht daran, auch andere Plattformen zu nutzen; insofern ist das kein entweder-oder. Um X das Monopol und die Rolle als primäre Informationsquelle für viele Journalisten zu entziehen, empfehle ich, Nachrichten zuerst anderswo (z.B. auf BSKY) und mit Zeitverzug auch auf X zu posten (mit dem Hinweis: „First published on BSKY“).

  4. avatar

    Wenn ich höre, dass Musk Reform UK 100 Mio. Dollar spenden will und Nigel Farage durch den Faschisten Tommy Robinson ersetzen will, sollte das Grund genug fpr Jedermann sein, sich von X zurückzuziehen. Sie würden ja auch nicht fordern, dass man sich mit Diskussiinsbeiträgen bei der Nationalzeitung (wenn es die überhauopt noch gibt) oder in Elsässers Compact-Medien einbringen soll.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Shares
Scroll To Top