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Für Luther war der Jude keine Individuum, sondern Objekt und Parasit

Ein Gastbeitrag von Stefan Weinert

„Nietzsche hat über die Deutschen gesagt: ‚Ein Volk, das sich der Intelligenz eines Luther unterordnet!‘ – Nein Hitler ist kein Zufall, kein illegitimes Unglück, keine Entgleisung. Von ihm fällt ‚Licht‘ auf Luther zurück, und man muss diesen weitgehend in ihm wiedererkennen. Er ist ein echtes deutsches Phänomen.“ (Thomas Mann, Tagebucheintrag vom 20. Oktober 1937).

Im Nachgang zum großen Religionskrieg 1618 bis 1648 –  ausgelöst durch Luthers Reformation (besser und richtiger muss es heißen „Luthers Kirchenspaltung“) – begann 70 Jahre später die Diskussionen um die bürgerliche Integration der Juden in die europäische Gesellschaft. Sicher war die Zeit des so genannten späten Mittelalters nicht reif für das, was Luther aus heutiger Sicht und Erkenntnis hätte wirklich tun müssen, nachdem die Erneuerungsversuche der Katholischen Kirche dort auf unfruchtbaren Boden fielen. Nicht eine neue, eine weitere Kirche hätte er „gründen“ sollen, sondern „die Verweigerung und Abschaffung einer weiteren von Menschen gemachten, verwaltenden und kontrollierten KIRCHE hätte sein Ziel sein müssen. So aber entstand die bald selbst betonierte Institution „Evangelisch/Reformierte Kirche“, statt eine von Jesus proklamierte und gewollte „Gemeinschaft der Herausgerufenen“ = ekklesia, mit einem direkten und persönlichen Zugang zu Gott..

Im Jahre 1720 veröffentlichte der Engländer John Toland seine Schrift „Reasons for Naturalizing the Jews in Great Britain and Ireland“. 1753 billigten beide Häuser in London die Naturalizing Bill (die Einbürgerung). Diese Entscheidung musste aber auf Druck der öffentlichen Meinung wieder zurückgenommen werden. Am 27. September 1791 verkündete die Französische Nationalversammlung die Gleichberechtigung aller französischen Juden in Frankreich. In den unter französischem Einfluss stehenden deutschen Gebieten wurden die Juden vorbehaltlos emanzipiert, etwa im „Königreich Westphalen“ und in den linksrheinischen Gebieten. In den deutschsprachigen Staaten wurde die rechtliche Gleichstellung der Juden allmählich und in vielen Einzelschritten von 1797 bis 1918 vorgenommen.

Dennoch blieben die Juden in Europa, wie auch schon die Jahrhunderte zuvor, in einer gesellschaftlichen Randposition. Trotz der ausgerufenen und zum Programm gemachten Gleichberechtigung, hatten Juden immer noch kaum die Chance, bürgerliche Berufe zu ergreifen und blieben weiterhin in erster Linie Geldverleiher und Kleinhändler. Dem sollte zwar durch Dekrete  entgegengewirkt werden, doch gingen diese auch immer einher mit Eingriffen ins jüdische Gemeindeleben, Kontrolle und Konzessionierung der Handelstätigkeit und der Einschränkung von Mitteln, jüdische Rechtsansprüche geltend zu machen, und wurden von den Erfolgen der staatlichen „Erziehungspolitik“ abhängig gemacht. Diese Maßnahmen sollten ursprünglich nur vorübergehend gelten und waren für den beschleunigten Emanzipationsprozess und die bessere Integration der Juden in die napoleonische Gesellschaft gedacht. Nach der Besitznahme des Rheinlandes durch Preußen im Jahr 1815 wurden diese Bestimmungen aber immer wieder verlängert und führten somit zu anhaltenden Einschränkungen der staatsbürgerlichen Rechte für Juden und erreichten damit Genau das Gegenteil.

1879/80 war „die Judenfrage“ (!) in Deutschland einerseits Gegenstand eines Gelehrtenstreites, den der Historiker Heinrich von Treitschke mit Überfremdungsängsten (!) ausgelöst hatte, andererseits wurde sie durch den Berliner Hofprediger Adolf Stoecker in dessen christlich-sozial argumentierender Kampagne gegen die Arbeiterbewegung instrumentalisiert. Stoecker wetterte gegen den „verjudeten“ Großkapitalismus und gegen die „verjudete“ Linke. Das politische Fernziel Stoeckers war ein christlich-deutscher Gottesstaat als Ständestaat.  In Österreich vertrat der Wiener Bürgermeister Karl Lueger ähnliche Positionen. Der Jude wurde als „Parasit“ gesehen, der sich nicht das „Kapital produktiv schafft“, sondern dieses „unproduktiv zusammen rafft“.  Da der Jude zur eigenen Staatsbildung unfähig sei, befalle er andere Staaten und sauge sie aus.

Grundstein für die These des  jüdischen „Wirtsvolkes“ in  Deutschland und Europa, hatte aber niemand anders gelegt, als Dr. Dr. Martin Luther  in seinen antijüdischen Schriften. So formuliert er 1543: „Jawohl, sie halten uns in unserem eigenen Land gefangen, sie lassen uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen, sitzen dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, sauffen, leben sanft und wohl von unserm erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, das wir arbeiten und sie faule Juncker lassen sein […] sind also unsere Herren, wir ihre Knechte.“

Zwar war die in Deutschland seit der Revolution von 1848/49 immer stärker geforderte Gleichberechtigung des jüdischen Bevölkerungsteils seit 1871 in der Deutschen Reichsverfassung verankert. Doch begannen fanatische Judenfeinde, sich in Parteien und Verbänden zu organisieren. In Dresden existierte seit 1881 die „Deutsche Reformpartei“; in Kassel wurde 1886 die „Deutsche Antisemitische Vereinigung“ ins Leben gerufen, deren Protagonist der Bibliothekar Otto Böckel (1859 -1923) war. Von 1887 bis 1903 saß dieser im Reichstag; er war Herausgeber völkischer Zeitschriften und betätigte sich maßgeblich im „Deutschen Volks-Bund“, der ab 1900 versuchte, „national gesinnte Männer“ gegen „die erdrückende Übermacht des Judentums“ zusammen zu schließen.

Dabei ist zu bedenken, dass die jüdische Bevölkerung zu dieser Zeit nur 1,25 Prozent der Gesamtbevölkerung des deutschen Reiches betrug (512.000 Personen). Bei der Volkszählung 1933 waren es nur 0,77 Prozent (503.000 Personen, davon allein in Berlin 144.000).  Die empfundene „Übermacht“ der Juden war deshalb auch mehr eine Frage des Sozialneides. Deutsche Juden waren sehr urban und bildungsorientiert. Ein Drittel von ihnen arbeitete in Handel und Gewerbe, nur knapp 2 Prozent in der Landwirtschaft. In Preußen waren von den 11.674 zugelassenen Anwälten immerhin 3.370 Juden. Unter den Ärzten in Deutschland betrug der jüdische Anteil etwa 16 Prozent. Und dieser hohe Satz von Bildung und von lukrativen Geschäften und Berufen bei einem  „Volksanteil“ von nur einem drei Viertel (3/4)  Prozent, konnte das nicht mit rechten Dingen zugegangen sein und  zugehen. Da mussten  Wucher und Betrug im Spiel sein. Und unter Heranziehung all der weiteren, seit Martin Luther gepflegten Stereotype, Mythen  und Gräuelgeschichten über die Juden, war für die heranziehende Wirtschaftskrise sehr schnell und überzeugend ein Sündenbock gefunden.

Zur Erinnerung: Die Bezeichnung und Rolle des „Sündenbockes“ stammt aus der Geschichte des Volkes Israel selbst. Der Israelit – und im Verlaufe der Geschichte  – der Jude, kam zum Priester, um seine Schuld zu bekennen. Dabei brachte er ein makelloses männliches Schaf oder Ziege (Lammbock) mit. Nach erfolgter „Beichte“ legte der Priester seine Hand auf den Bock, und somit symbolisch auch die Schuld des Menschen. Anschließend wurde das Tier geschlachtet und somit war die Schuld vor Gott durch den  stellvertretenden „Tod des Sündenbockes“ getilgt. Wer sich den Kauf eines Schafes oder einer  Ziege aus ökonomischen Gründen nicht leisten konnte, der brachte ein Paar Turteltauben als Opfer mit.

Auf dem Antisemitentag in Bochum einigten sich Anfang Juni 1889 die verschiedenen judenfeindlichen Strömungen (mit Ausnahme der christlich-sozialen Partei Adolf Stoeckers) auf gemeinsame Grundsätze und Forderungen, aber schon über der Bezeichnung des Zusammenschlusses entzweiten sich die Antisemiten wieder. Es gab nun eine „Antisemitische Deutschsoziale Partei“ und eine „Deutschsoziale Partei“ und ab Juli 1890 die von Böckel in Erfurt gegründete „Antisemitische Volkspartei“, die ab 1893 „Deutsche Reformpartei“ hieß. Im Reichstag errangen Vertreter antisemitischer Gruppierungen 1890 fünf und 1893 sechzehn Mandate. Ernst Henrici war zusammen mit dem Reichstagsabgeordneten Wilhelm Pickenbach 1894 Gründer des „Deutschen Antisemitenbunds“.

Am meisten Aufsehen im Parlament erregte der Demagoge Hermann Ahlwardt (1846-1914), der ab 1892 als Parteiloser im Reichstag saß und sich als Radau-Antisemit (!) besonders hervortat. Durch hemmungslosen Populismus war Ahlwardt, den man damals „den stärksten Demagogen vor Hitler in Deutschland“ genannt hatte (aufgeklärt müsste es heißen, „den stärksten Demagogen nach Luther und vor Hitler“), vorübergehend erfolgreich. Wegen Verleumdung und Erpressung gerichtsnotorisch und vielfach bestraft, als Volksschulrektor nach Unterschlagungen entlassen, verbreitet Ahlwardt als Verfasser zahlreicher Pamphlete in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts rastlos und wirkungsvoll antisemitische Propaganda. Politischen Einfluss erlangten die Antisemiten im Kaiserreich nicht. Aber ihre Propaganda entfaltete Wirkung: Juden wurden mit allen nur denkbaren schlechten Eigenschaften belegt, deren Grund, so erklärten die Antisemiten, liege in der „Rasse“.

Im Kontext dieser antijüdischen und antisemitistischen Entwicklungen und im weisen Vorausblick, was noch kommen würde, schrieb der ungarische Jude Theodor Herzl (Herzl Tivadar) 1896 das Buch  „Der Judenstaat“. In ihm vertritt der Autor mit Überzeugung die Meinung, dass die Juden eine Nation seien und dass aufgrund des Antisemitismus, gesetzlicher Diskriminierung und gescheiterter Aufnahme von Juden in die Gesellschaft, ein jüdischer Staat gegründet werden müsse. Herzl wurde zum Vordenker eines Staates Israel und er war der Mitbegründer des politischen Zionismus. Bereits ein Jahr nach Erscheinen seines Buches, wurde Herzl auf dem Ersten Zionistischen Weltkongress in Basel zum Präsidenten  der  Zionistischen Weltorganisation gewählt. Dabei war ihm und allen Anwesenden klar, dass ein Staat Israel nur auf dem Gebiet des damaligen Palästina (Land der Philister) bzw. des ehemaligen Kanaan, und nicht etwa sonst irgendwo auf der Welt, seinen Platz finden musste.

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