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Formiert sich in Deutschland ein neues Parteiensystem?

Steht Deutschland eine Neuausrichtung des politischen Koordinatensystems dergestalt bevor, dass die bisherigen Unterscheidung zwischen links und rechts durch den Gegensatz „offen und europäisch“ vs.„nationalstaatlich/geschlossen“ ersetzt wird? Ruprecht Polenz geht dieser Frage nach.

Holt Deutschland nach, was Frankreich schon vollzogen hat? Dort ist das überkommene Rechts-Links-Koordinatensystem zur Einordnung der politischen Parteien bei der Präsidentschaftswahl vor einem Jahr ad acta gelegt und durch ein neues Kooordinatensystem ersetzt worden. Statt der Einstellung der Kandidaten zur Sozialen Frage fanden die Wählerinnen und Wähler es wichtiger, wie die Kandidaten mit den Herausforderungen der Globalisierung umgehen wollten.

François Fillon, der Kandidat der konservativen Republikaner und der linkssozialistisch-kommunistische Jean-Luc Mélenchon agierten in dem alten Rechts-Links-Schema – und schieden im 1. Wahlgang aus. Die Frage von Eigentum und Vermögensverhältnissen und daraus resultierenden Ungerechtigkeiten war nicht länger wahlentscheidend.

Historische Veränderung des politischen Koordinatensystems in Frankreich

Im entscheidenden 2. Wahlgang ging es nur um „Offen oder Geschlossen“ – was ist die richtige Antwort auf die Globalisierung und die damit verbundenen Unsicherheiten und befürchteten Ungerechtigkeiten?

Die rechtsradikale Marine Le Pen vom Front National stand für Nationalismus, Abschottung und Ausgrenzung. Emmanuel Macron stand für europäische, multilaterale Antworten, auch im Hinblick auf die Kontrolle von Außengrenzen, für mehr Europa statt für ein Zurück zum Nationalstaat. In Windeseile hatten sich zur Unterstützung dieser Richtung zigtausende in der von Macron neugegründeten Partei En Marche zusammengeschlossen.

Bei den anschließenden Parlamentswahlen erreichte La République en Marche mit 308 Sitzen die absolute Mehrheit, zusammen mit dem verbündeten Mouvement démocrate verfügt Emmanuel Macron über eine Mehrheit von 350 Sitzen. Die bisher stärkste Partei, die Parti socialiste, kam nur noch auf 30 Sitze. Auch die Republikaner mussten Verluste einstecken und stellen nur noch 112 Abgeordnete. Ein Jahr nach der Gründung hatte die neue Partei En Marche 280.000 Mitglieder. Viele von ihnen hatten vorher anderen Parteien angehört.

Frankreich hat am deutlichsten gezeigt, was auch in den USA, Ungarn oder Polen zu beobachten ist: Seit der industriellen Revolution war die soziale Frage für die Menschen am wichtigsten. Deshalb gruppierten sich die politischen Parteien auf einer Rechts-Links-Skala. Heute sind es Fragen von Migration, Flüchtlingen, Digitalisierung und Veränderungen der Arbeitswelt durch die Globalisierung, die die Menschen umtreiben und für die sie Lösungen von den politischen Parteien erwarten.

Folgen für die deutschen Unionsparteien

Vor diesem Hintergrund einer historischen Veränderung des politischen Koordinatensystems lassen sich die Spannungen zwischen den Unionsparteien und die möglichen Konsequenzen für das deutsche Parteiensystem besser erklären und abschätzen.

Im alten Rechts-Links-Schema finden sich CDU und CSU ziemlich dicht beieinander irgendwo in der politischen Mitte. Geht es um „Offen oder geschlossen“, nationalstaatliche oder europäische Antworten auf die Globalisierung, dann gibt es zwischen den Unionsparteien erhebliche Differenzen.

Die Mehrheit der CDU und eine Minderheit der CSU wollen europäische Antworten geben, mit besserer Kontrolle der EU-Außengrenzen, aber auch im Bewusstsein der humanitären Verantwortung für Menschen in Not. Das „C“ spielt dabei eine wichtige Rolle.

Eine Mehrheit der CSU und eine Minderheit der CDU sieht sich eher als konservativ, neigt zu nationalstaatlichen Alleingängen und stellt sich Europa eher als Festung vor.

Auch in der Linkspartei kann man diese Spannungen spüren. Sarah Wagenknecht und Oskar Lafontaine reden immer stärker einer nationalstaatlichen Abschottung das Wort, weil nur so sozial Schwächere von der Lohnkonkurrenz durch Ausländer geschützt werden könnten. Demgegenüber setzt der Parteivorstand auf das, was die Linke traditionell unter internationaler Solidarität versteht.

Im deutschen Parteienspektrum markieren AfD und NPD den Pol „Geschlossen“ am deutlichsten. Für sie zählt nur der Nationalstaat, gedacht als Staat der Deutschen, die durch Abstammung definiert sind. Man sieht: Abschottung nach außen hat Ausgrenzung im inneren zur Folge.

Sollte es zu einer Aufkündigung der Fraktionsgemeinschaft durch die CSU kommen, weil die Bundeskanzlerin den Innenminister nach dessen Alleingang entläßt, könnte das das deutsche Parteiensystem ziemlich schnell und ziemlich stark verändern.

Dabei geht es dann nicht nur um die diskutierten Planspiele einer bundesweiten Ausdehnung der CSU und der Gründung eines CDU-Landesverbandes in Bayern. Es steht vielmehr zu erwarten, dass sich die politischen „Lager“ durchgreifend verändern. Möglicherweise gibt es eine ähnliche Bewegung hin zu einer ganz neuen Partei, so wie in Frankreich.

Bisher waren die Unionsparteien und die FDP gemeinsam im sog. „bürgerlichen Lager“ angesiedelt. Auf der anderen Seite standen SPD und Grüne. Linkspartei und vor allem die AfD waren bei der Regierungsbildung im Bund praktisch außen vor.

„Offen und europäisch“ vs. „nationalstaatlich/geschlossen“

Wollte man im neuen politischen Koordinatensystem politische „Lager“ unterscheiden, so hätte man auf der Seite „offen und europäisch“ die CDU, die größten Teile der Grünen, Teile der FDP und die internationalistisch-kosmopolitisch denkenden Teile der SPD. Das Lager „nationalstaatlich/geschlossen“ würde gebildet von der CSU, dem nationalliberalen Teil der FDP und dem eher kleinbürgerlichen Teil der SPD.

Während das Lager „offen“ wohl auf eine Regierungsmehrheit ohne die Linke käme, würde es für das Lagen „geschlossen“ nur gemeinsam mit der AfD zu einer Regierungsbildung reichen.

Vielleicht kann ja diese Aussicht die CSU von ihrem Spaltungskurs abbringen, zumal ihre absoluten Mehrheiten in Bayern dann auf immer verloren wären.

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Über Ruprecht Polenz

Ruprecht Polenz (68) gehörte von 1994 bis 2013 dem Deutschen Bundestag an und war 2000 Generalsekretär der CDU. Von 2005 bis 2013 war der Politiker aus Münster Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) und Dean des Global Diplomacy Lab. Der Jurist ist verheiratet und hat mit seiner Frau vier erwachsene Kinder.

7 Gedanken zu “Formiert sich in Deutschland ein neues Parteiensystem?;”

  1. avatar

    Ich würde es zumindest sehr begrüßen und auch viele Leute die ich kenne können mit diesem Links/Rechts denken nichts mehr anfangen. Ich bin sozial und gesellschaftspolitisch ein eigentlich sehr „links“ eingestellter Mensch, aber eben auch national, ich sehe nicht warum ich diese Masseneinwanderung von Billigarbeitskräften (wie kann die linke bitte dafür sein, kein Marx gelesen?), Islamisierung (war die Linke nicht mal Religionskritisch?) und Entdeutschung (ein Sozialstaat braucht einen starke nationale Identität) begrüßen müsste. Auch die Linke wird auseinander brechen, Wagenknecht bereitet schon alles vor, noch fehlt der Mut, aber der Parteitag, Katja Kipping und Bernd Riexinger haben und zeigen stetig, dass es nicht anders geht, es wird passieren und das ist auch gut so für die Demokratie.

  2. avatar

    „Die CSU käme….auf 18%“. Das ist rein spekulativ. Ein Söder ist schon in den bayerischen Städten nicht akzeptabel (München ist stabil rot-grün), wieso sollte so jemand nördlich der Main-Linie akzeptiert werden. In den ehemaligen DDR-Gebieten ist es nun einmal die AfD, welche den hässlichen Deutschen repräsentiert.

  3. avatar

    Der Münsteraner: Eine Aufkündigung der Fraktionsgemeinschaft durch die CSU bedeutet nicht, getrennt marschieren – vereint schlagen, sondern getrennt marschieren – aufeinander einschlagen. Eine Koalition käme nach dieser für beide Seiten verletzenden Trennung für lange Zeit nicht in Frage.

  4. avatar

    Die Neuordnung des Parteiensystems sehe ich genau so, nämlich drastisch.
    Sie sollten sich allerdings nicht wundern, wenn die Kräfteverhältnisse am Ende ganz anders sein werden, als Sie heute in Fortschreibung der Vergangenheit vermuten oder hoffen. Es begann mit dem frommen Wunsch „87%“, und schon heute stehen wir hier:
    https://www.pz-news.de/pforzheim_artikel,-Pforzheimer-FDPPolitiker-Ruelke-greift-Merkel-an-Kanzlerin-schuld-an-gewalttaetigem-Nigerianer-_arid,1236043.html
    Unter dem Problemdruck wird sich das Parteiensystem unweigerlich der Stimmungslage der Bevölkerung anpassen.

  5. avatar

    Zumindest in der Flüchtlingspolitik befindet sich Macron eher auf der Linie der CSU als bei der „weltoffenen“ Kanzlerin und ihrer grünen Freunde.
    Das alte Parteiensystem in Frankreich, aber auch in Italien, ist doch nicht zusammengebrochen, weil die Parteien nicht weltoffen genug gewesen wären.
    Sondern weil sie korrupt und verbraucht waren und niemand ihnen mehr zugetraut hat, auch nur ein einziges Problem zu lösen. Mehr verlangen die Menschen gar nicht: Ehrlichkeit und die Fähigkeiten, Probleme zu lösen.

  6. avatar

    Das Statement entbehrt, was die Beurteilung der französischen Verhältnisse angeht, jeder Grundlage. Es gibt nur einen Grund, Warum macron an die Macht gespült worden ist nämlich den Skandal um die illegale Beschäftigung von Frau Fillon. Bis dahin führte Fillon deutlich in allen Umfragen vor Le Pen auf Platz 2. Ohne den Skandal wäre Fillon mit Le Pen in die Stichwahl gekommen und mit hundertprozentiger Sicherheit gewählt worden als rechtskonservative aber deutlich links von Le Pen stehende Lösung. Macron wurde in der Stichwahl mit Le Pen gewählt, weil alles was Beine hatte den Front National verhindern wollte. Genauso hätte ein Besenstiel in der Stichwahl die Mehrheit gegen Le Pen geholt. Wie üblich wurde dann die Partei des gewählten Staatspräsidenten auch bei den Wahlen zur Nationalversammlung mehrheitlich unterstützt. Dieses starke statement mit einem Hineininterpretieren von „aussen“ und „innen“ hat mit den realen französischen Verhältnissen nichts zu tun.

  7. avatar

    Die CSU käme, wenn sie bundesweit anträte, laut Umfragen auf 18 Prozent. Damit wäre sie zweitstärkste Partei nach der CDU mit 22 Prozent. Die Unionsfraktionen könnten damit ihren Stimmenanteil ausweiten.

    Das Parteiensystem ist noch nicht so weit wie von Polenz beschrieben, um die genannten neuen Koalitionen zu schmieden, müssten ja fast alle Parteien auseinanderbrechen…

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