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Von „R2G“ zu „R2B“

Wir schreiben das Jahr 2019. Die rot-rot-grüne Bundesregierung unter  Kanzler Sigmar Gabriel ist nun schon zwei Jahre im Amt. Große Teile des vereinbarten Regierungsprogramms hat sie erfolgreich abgearbeitet. Die Vermögenssteuer wurde eingeführt, der Spitzensteuersatz auf 55% erhöht, die Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge  abgeschafft und durch den persönlichen Steuersatz ersetzt. Die private Krankenversicherung wurde abgewickelt und die „Bürgerversicherung“ eingeführt. Für alle KfZ mit Verbrennungsmotor wurde das Auslaufen der Zulassung  auf das Jahr 2035 festgelegt. Weitere einschneidende Reformmaßnahmen sind in Arbeit.

Dann geschah Folgendes. In den drei baltischen Republiken Lettland, Estland und Litauen tauchten eines Tages „grüne Männchen“ auf, Soldaten in Tarnfleck-Uniform ohne Hoheitsabzeichen. Am russischen Idiom konnte man erkennen, dass es sich um russische Spezialkräfte handelte. Im Nu gab es Massendemonstrationen der russischsprachigen Minderheit, die Transparente mit der Aufschrift mit sich trugen: „Schluss mit der Diskriminierung“, „Gegen Russenhass, für Völkerfreundschaft“. Junge Männer in Zivil, die sich unter die Demonstranten mischten,  trugen demonstrativ ihre Kalaschnikows zur Schau. Die Regierungssitze und Parlamente der drei Länder wurden tagelang  belagert, Politiker, die hinein- und hinausgingen, körperlich angegriffen. Bei Schießereien wurden zahlreiche Sicherheitskräfte getötet. In einer Nacht- und Nebenaktion setzten sich daraufhin die drei Regierungen nach Warschau ab. Entlang der Schengen-Grenze waren auf weißrussischem Gebiet  riesige Truppenbewegungen zu beobachten. Die Demonstranten nahmen schließlich die Regierungsgebäude ein und gaben bekannt, dass in jedem der drei Staaten eine  Regierung der „Nationalen Eintracht und der Völkerfreundschaft“ gegründet worden sei. Kurz darauf rollten russische Panzer über die Grenzen und bezogen in den Innenstädten vor den Regierungsgebäuden Stellung. Wenige Tage später gab die russische Regierung bekannt, dass die Russische Föderation die beiden Volksrepubliken Donezk und Luhansk auf deren Bitten hin in das russische Staatsgebiet aufgenommen habe.

Die drei Regierungschefs von Lettland, Estland und Litauen  forderten  von Warschau aus die Einberufung des  NATO-Rates, er sollte  nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags den Bündnisfall auslösen. Zwischen den Hauptstädten der wichtigsten NATO-Staaten begann eine hektische Telefondiplomatie. In einem Telefonat kamen der amerikanische Präsident Donald Trump und der deutsche Kanzler Sigmar Gabriel überein, dass alles getan werden müsse, um einen Krieg mit Russland zu verhindern. Deshalb sei man entschlossen, die Auslösung des Bündnisfalls zu verhindern. Die Einberufung des  NATO-Rats wurde abgelehnt. Die Europäische Kommission schickte Emissäre in die drei Hauptstädte, die mit den „Regierungen der nationalen Eintracht“ Gespräche führen  sollten. Ziel sollte es  sein, dass die russischsprachigen Parteien Vertreter der Mehrheitsbevölkerung in die Regierung aufnehmen. Nach zähen Verhandlungen stimmten die Regierungen diesem Ansinnen schließlich zu. Als Gegenleistung versprachen die Vertreter der EU-Kommission  den drei Regierungen Geld aus den Fördertöpfen der EU.

Einige Tage später trat Kanzler Gabriel eine Reise durch Deutschland an. Auf den Marktplätzen  hielt er vor großen Menschenmengen Kundgebungen ab, auf denen er nur eine Botschaft zu verkünden hatte: Seiner Regierung sei es  gelungen, den Dritten Weltkrieg abzuwenden und den Frieden zu sichern.  Die deutsche Bevölkerung könne jetzt ohne Kriegsangst  in die Zukunft blicken. Der wirtschaftliche Aufschwung halte unvermindert an und  die Deutschen würden  mehr Geld im Portemonnaie haben. Zum Ende der Rede-Tour  Gabriels gingen die Zustimmungswerte für die SPD kräftig nach oben. Das Politbarometer zeigte für die SPD den höchsten Wert  seit der Ära Gerhard Schröders.

Schröder war übrigens von der Bundesregierung bei ihrem Machtantritt  2017 zum Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Russland ernannt worden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gab indes bekannt, dass er keine zweite Amtszeit anstrebe. Er habe das  Angebot erhalten, Aufsichtsratsvorsitzender des deutsch-russischen Konsortiums zu werden, das die Nordsee-Pipeline „North-Stream II“ betreibt. Auf diesem Posten würde er seinem Freund Gerhard Schröder nachfolgen.

Die rot-rot-grüne Regierung war sich darin einig, dass nach den Vorfällen im Baltikum  Deeskalation das Gebot der Stunde sei. Wichtige Schritte der Entspannung und der Friedenssicherung wurden unternommen. Die deutsche Regierung erkannte die drei neuen Regierungen in den baltischen Staaten an und brach zugleich den Kontakt zu den drei Exilregierungen in Warschau ab. Verteidigungsminister Rainer Arnold (SPD) kündigte an, dass sich deutsche Truppen nicht mehr an den NATO-Manövern an der Ostgrenze Polens beteiligen würden. Die deutsche Außenministerin Sahra Wagenknecht (LINKE) flog nach Moskau, um Wladimir Putin die Botschaft der deutschen Regierung zu überbringen, dass Deutschland den Statuswechsel des Donbass und auch die russische Staatlichkeit auf  der Halbinsel Krim endgültig anerkenne. Anschließend trat sie eine Rundreise durch „Neurussland“  an, wo sie wie ein Popstar gefeiert  wurde. Die deutsche Regierung setzte im Europäischen Rat durch, dass alle Sanktionen gegen Russland sofort aufgehoben wurden. Die USA hatten ihre Sanktionen  schon gleich nach Machtantritt Donald Trumps im Januar 2017 aufgehoben. Gleichzeitig versprach die deutsche Bundesregierung dem russischen Präsidenten, sich dafür einzusetzen, dass das Vorhaben der Europäischen Union, Russland wegen Kriegsverbrechen in Aleppo, wo durch russische Bomber 2500 Zivilisten, darunter 300 Kinder, getötet worden waren, vor dem Internationalen Strafgerichtshof anzuklagen, fallen gelassen wird.

Aus Protest gegen diese Wendung in der Außenpolitik, die im Koalitionsvertrag so nicht verabredet war, traten im Jahr 2020 drei grüne Abgeordnete aus der Fraktion aus und bildeten eine eigene parlamentarische Gruppe. Zwei Sozialdemokraten verließen ihre Fraktion aus demselben Grund    und wechselten zur CDU-Fraktion. Durch diesen Aderlass ging die ohnehin knappe Mehrheit der Regierungsfraktionen im Bundestag verloren. Spitzenvertreter der Linken führten deshalb  geheime Verhandlungen mit der Alternative für Deutschland (AfD), um zu sondieren, ob ihre Bundestagsfraktion bereit sei, die Regierung zu tolerieren. Die Verhandlungen verliefen erfolgreich.  In  einem Tolerierungsvertrag wurde festgelegt, dass die AfD die Regierung bei wichtigen Entscheidungen im Parlament unterstützt. Die Regierung kam der AfD  dafür in einigen Politikbereichen entgegen. So wurden die Leistungen für Asylbewerber weiter  eingeschränkt und zudem ganz  auf Sachleistungen umgestellt. Im Gegenzug wurde der Regelsatz von Hartz IV für deutsche Bezieher kräftig angehoben und  der Mindestlohn  für deutsche Arbeitnehmer  auf 10,00 Euro erhöht. Diese sozialpolitischen Maßnahmen waren zwischen  Arbeits- und Sozialministerin Sabine Zimmermann (LINKE) und der Vorsitzenden der AfD, Frauke Petry, ausgehandelt worden. Um deutsche Arbeitskräfte vor „Fremdarbeitern“ zu schützen, startete die Regierung in Brüssel eine Initiative, um zu erreichen, dass Deutschland  die Freizügigkeit innerhalb der EU nach nationalen  Erfordernissen eigenständig  regeln  darf.

Innenminister Dietmar Bartsch stimmte dem Begehren der AfD zu, weder sie noch die Pegida-Bewegung länger vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen. Das gleiche galt  für die Kommunistische Plattform und   kommunistische Splittergruppen im Umfeld der Linken. Die Autonomen in Hamburg und Berlin profitierten von dieser Regelung.

Zum Jahreswechsel 2019/2020 gaben ARD und ZDF bekannt, dass sie einen Kooperationsvertrag mit zwei russischen Fernsehsendern abgeschlossen hätten. Inhalt des Vertrags sei die gegenseitige Unterstützung bei der freien Berichterstattung in beiden Ländern. Den russischen Partnern wurde zugesichert, dass sie in Deutschland auf das reichhaltige Equipment der beiden Sender zurückgreifen könnten. Die AfD begrüßte diesen Schritt und sicherte zu, ihre bisherigen Pläne fallen zu lassen, die beiden öffentlich-rechtlichen Sender aufzulösen. Die rot-grün und rot-rot-grün regierten Bundesländer nutzten die turnusgemäße Neubesetzungen im  Rundfunk-und Fernsehrat, um einige Vertreter der Zivilgesellschaft – auch solche, die von der  AfD vorgeschlagen wurden  – neu in das Gremium aufzunehmen. In einer Richtlinie zur Gewährleistung der  Ausgewogenheit der Programme wurde festgeschrieben, dass in der  Berichterstattung und Kommentierung des Zeitgeschehens alles vermieden werden müsse, was der Friedenspolitik der Bundesregierung zuwider handele. Kurz darauf gaben einige Redakteure des ZDF und der ARD, die sich mit der kritischen Berichterstattung über die Außenpolitik Russlands einen Namen gemacht hatten, ihre Posten auf –  aus Gesundheitsgründen  und,  wie es hieß,  in vollem  Einvernehmen mit dem Sender. Die Stellen wurden umgehend neu besetzt. Der Russlandbeauftragte der Bundesregierung Gernot Erler (SPD) gab bekannt, dass der „Gesellschaft für Deutsch-Russische Freundschaft“, die bisher ein Schattendasein geführt hatte, der Status eine förderungswürdigen Nichtregierungsorganisation  verliehen worden sei.

Chefredakteure konservativer Zeitungen, wie z.B. der F.A.Z. und der WELT,  beklagten sich darüber, dass die  Anrufe des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung zunähmen, in denen ihnen eine objektivere Berichterstattung über Russland nahegelegt wurde. Durch ihre unbedachte Berichterstattung  könnten sie  den  Weltfrieden gefährden. Vorbild müsse die Süddeutsche Zeitung sein, die sich  – wie aus Regierungskreisen verlautete – zum publizistischen Flaggschiff des Friedenskampfes erwiesen habe.  Die LINKE schlug vor, eine „Rundfunk-Fernseh- und Pressekammer“ ins Leben zu rufen, die den Medien Vorschläge für eine objektive Berichterstattung unterbreiten sollte.

In den Planungsstäben der drei Parteien, die die Regierung trugen, wurden Gedankenspiele angestellt, wie es gelingen könnte, die rot-rot-grüne Mehrheit im Bund bei den 2021 anstehenden Bundestagswahlen zu verteidigen. Vor allem die Grünen fürchteten eine Spaltung ihrer Partei, weil sich der Flügel, der sich den Menschenrechten und dem Völkerrecht verpflichtet fühlt, lautstark zu Wort meldete und eine Abkehr von der bislang betriebenen Außenpolitik forderte. Der alleinige Bundesvorsitzende  der Grünen, Anton Hofreiter,  deutete an, dass es  könnte nötig sein, aus der Koalition auszuscheiden, um die Einheit der Partei zu retten. Die Vorsitzende der LINKEN, Sarah Wagenknecht,  wollte die erfolgreich betriebene Politikwende unbedingt  über die  Wahl hinaus retten und war deshalb auch bereit, die bisherige Duldung durch die AfD in eine reguläre Koalition überzuführen. Gemeinsam könnten SPD, LINKE und AfD dann in den Wahlkampf ziehen und die erste rot-rot-blaue Koalition in Deutschland aus der Taufe heben.

Politische Beobachter und Parteienforscher  sahen für dieses Projekt durchaus Chancen. Die Schnittmengen seien gerade zwischen der  LINKEN   und der  AfD besonders groß. Nationales und Soziales könnten sich so erfolgreich ergänzen. Die SPD sei dann für die Verteidigung der Liberalität zuständig, was ihr als Partei mit einer großen Freiheitstradition nicht schwer fallen dürfte.

 

 

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13 Gedanken zu “Von „R2G“ zu „R2B“;”

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    So viel muss im Kaffee gar nicht gewesen sein…

    Jetzt nur mal die letzten Jahre, wie viele Wendungen und glaub-ich-nicht Momente wir erlebt haben, da ist das Szenario gar nicht unglaubwürdig. Krim, Brexit, offene Grenzen und Zäune, Trump, die Umkehrung der Standpunkte…mal ehrlich, das Meiste habe ich nicht kommen sehen (und nicht nur ich).

    Ob das Baltikum destabilisiert wird, hängt nicht von der westlichen oder russischen Politik ab, sondern von den innenpolitischen Machtverhältnissen im Kreml. Vielleicht macht es Sinn, eine Situation in dem Moment zu eskalieren, wer weiß das schon. Hebe die Hand, wer bei 9/11 an den Irak dachte…
    R2G ist nicht unwahrscheinlich, wenn auch schwierig. Es wäre sogar wünschenswert, wollen wir nicht die nächsten 100 Jahre große Koalitionen haben und ich zumindest habe keine Lust auf spanische Verhältnisse. Es muss also nicht so sein, dass das Szenario so von irgendjemanden gewünscht wird, aber es kann sich ergeben und dann wäre es verantwortungslos, die Möglichkeiten nicht auszuloten. Und wenn man dabei ist, ergeben sich Möglichkeiten, wie auch Trump einen kurzen Frühling der Möglichkeiten mit dem Kreml nun hat. Warum sollte er nicht einen Dialog versuchen, einen Deal aushandeln? Und dann wäre eine R2G Regierung vielleicht besser in der Lage, Deutschland bei so einem Deal in eine günstige Position zu bringen. Trute hat das prima gesagt: Rot-Rot-Grün als „Moskaus Fünfte Kolonne“ – genau das. Vielleicht kommt der Moment, in dem wir solche Kolonnen oder besser gesagt Kanäle brauchen. Es macht wenig Sinn, wenn Deutschland den starrsinnigen spielt und sich isoliert. Das kann doch alles Sinn machen. Deutschland als Fels in Brandung wird nicht funktionieren und wer diese Haltung nun als opportunistisch bezeichnet, liegt gar nicht falsch. Politik ist auch das Umgehen mit Situationen und wenn die Demokratie stabil sein will, muss sie Antworten geben und da ist R2G in so einem Fall die naheliegende. Wie sehr man darunter leidet, ist dann eine andere Sache. Ich würde wegen Russland nicht mit Linken koalieren, da muss mich Herr Werner nicht überzeugen. Aber wenn sich mein Standpunkt nicht durchsetzt, muss es nicht das Ende des Westens bedeuten. Ich will es nicht, aber R2G wäre nicht der Untergang der Republik. Ja, und dann würde das Szenario vielleicht so aussehen.

    Nur das mit der AfD, das wird auf keinen Fall so gehen. Denn wenn erst mal die Sache mit dem Fremdarbeiter gefrühstückt wurde, gibt es kaum Gemeinsamkeiten zwischen einer ständisch/rechts-konservativen AfD und der Linken. Das ist manchmal der Zauber des Augenblicks, der Opposition, da erscheinen viele Dinge als möglich. Sollte die AfD aber nicht nur die 30er Jahre nachspielen wollen, wäre eine Koalition mit der CDU oder FDP doch wahrscheinlicher.

    Seien wir fair, da drin sind viele Variablen und es müsste viel zusammenkommen – nur das dachte ich bei Trump und Brexit auch.

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    Wenn ich wählen müßte zwischen Ihrem Szenario oder weiteren vier Jahren mit Murksel, dann hätte eine Außenministerin Wagenknecht schon was….

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      Die Dame behauptet nach wie vor, die korrupte griechische Regierung ist völlig unschuldig an der Euro-Schulden-Krise, die haben das geliehene Geld doch nur verprasst, wie es Hummer-Sozialisten halt so machen. Banken, die Kredite vergeben, seien schuld an der Hellas-Party ohne Limit.

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    Meine Güte, Herr Werner, was haben Sie denn im Kaffee gehabt, um ein solches Szenario zu entwickeln?!
    Das Fundament dafür hätte es allenfalls vor drei Jahren gegeben, hätte die SPD den Mut gehabt, die parlamentarische Mehrheit von R2G zu nutzen. Was sie aber nicht hat. – Ob die Linken oder Grünen mitgemacht hätten, ist ebenfalls zu bezweifeln.
    Im Jahr 2017 sieht die Situation noch etwas komplizierter aus. Vor allem wird eine parlamentarische Mehrheit für R2G – anders als 2013, als zwei Parteien rechts von R2G knapp an der Fünfprozenthürde scheiterten – in weite Ferne rücken.
    – Zur SPD und den Linken: Ein Koalitionswahlkampf ist immer eine gewagte Sache, da alle Koalitionspartner miteinander können müssen. Führt die SPD einen Wahlkampf in Richtung R2G, kann nur ein Kandidat aufgestellt werden, der nicht als Affront in Richtung der Wunsch-Koalitionspartner gilt. Sigmar Gabriel könnte mit Abstrichen sogar den Linken vermittelbar sein. Aber sollte die SPD einen Wahlkampf in Richtung R2G führen, wird das sogenannte „bürgerliche“ Lager Seit‘ an Seit‘ mit der mächtigsten Frau der Republik – Friede Springer samt ihrem Presseimperium – und den Redaktionen der FAZ und des Handelsblatts eine Kampagne starten, daß Deutschland wieder einmal untergehe. Es ist daher absehbar, daß die SPD aus Angst vor der eigenen Courage wieder einmal einen Kandidaten sucht, der nicht als Schreckgespenst für die Wirtschaft taugt, um von der „bürgerlichen“ Presse nicht in den Orkus geschrieben zu werden; nur aus dem Grund wurde Peer Steinbrück 2013 zum Kandidaten erkoren – nicht etwa, weil er die Herzen die Parteibasis erobert hätte. Dummerweise ist ein solcher Kandidat ein Signal an die Linken, daß man mit ihnen nicht koalieren möchte. Als Folge werden in der Linken die Fundamentalisten stärker, weniger diejenigen, die eine Realpolitik vertreten.
    – Zu den Grünen: Bei den Grünen haben nur die ältesten Semester um Trittin oder Künast noch Erinnerungen daran, wie es sich anfühlt, Regierungsverantwortung zu tragen. Sie werden einen Wahlkampf führen, der weit in das bürgerliche Lager hinein zielt, um in jedem Fall eine Machtoption zu haben. Die grundlegenden Inkompatibilitäten der grünen Seele mit der Union der Ära Kohl hat Merkel abgebaut: Die Kernkraftwerke stillgelegt (und zwar schneller als Rot-Grün unter Schröder), die Wehrpflicht ausgesetzt, und 2015 auch noch eine Flüchtlingspolitik, die einen Dregger im Grabe rotieren läßt. Die Grünen stehen inzwischen auch für Jamaica oder Schwarz-Grün offen.
    – Zur CDU: Merkel weiß, daß sie ihren Laden hinter sich hat, solange sie Wahlen gewinnt und die Partei den Kanzler stellt. Daß die CSU ihr die Gefolgschaft verweigert, darf sie bezweifeln; auch in München ist man erpicht darauf, in Berlin mitzumischen. Einen Verzicht auf die Regierung um der reinen Lehre willen, hat noch kein CSU-Chef vermitteln können. Merkels Politik hat die CSU zwar einiges an Nerven gekostet und die Seele der Partei (zumindest in der Generation, die unter Barzel und Kohl großgeworden ist) strapaziert, aber der Partei gleichzeitig weitere Machtoptionen in Richtung der Grünen eröffnet. Wenn es für Schwarz-Gelb rechnerisch nicht reicht, ist Jamaica weder für die Union, noch für die Grünen undenkbar.
    – Die FDP hat sich unter Christian Lindner erfolgreich von einigen Altlasten der Ära Westerwelle getrennt. Auch sie ist prinzipiell deutlich offener gegenüber einer Ampel als zuvor und hat gelernt, daß eine Regierungsbeteiligung von den Inhalten abhängig sein muß. Der größte Teil ihrer eigentlichen Unterstützer, die der EU Positives abgewinnen können und aus Protest gegen die Vertragsverletzungen von Schwarz-Gelb im Zuge der faktischen Pleite Griechenlands in Richtung der AfD gewechselt sind, dürften sich inzwischen von dem derzeitigen Führungspersonal der AfD abgestoßen fühlen und wieder mit der FDP sympathisieren. Das ständige Problem der FDP, die Fünfprozenthürde, dürfte daher nicht ganz so dringend sein.
    – Demgegenüber wird die AfD zumindest in ihrer ersten erwartbaren Legislatur ihr Schmuddelkind-Image pflegen. – Die Grünen der 2010er-Jahre eben… – Der Effekt, den die AfD haben wird, wird allerdings sein, daß die Wahlbeteiligung steigen wird; viele, die zuletzt der Wahl ferngeblieben sind, haben mit der AfD die Möglichkeit, Protest zu wählen.

    Fazit: Die SPD kommt mit einem Kanzlerkandidat Gabriel nicht in die Verlegenheit, den Regierungschef einer R2G-Koalition stellen zu müssen. Gabriel wird für die Wähler der „bürgerlichen“ Mitte immer suspekt bleiben und der SPD eventuell knapp über 20 Prozentpunkte einbringen. Von einer Mehrheit für R2G ist der nächste Bundestag dann weit entfernt. Ergebnis: Jamaica, soweit es dafür eine Mehrheit gibt. Sonst Schwarz-Rot, obwohl das keiner der Beteiligten will.
    Ein Wahlkampf der SPD gegen die Linken hingegen wird eventuell eine parlamentarische Mehrheit zutage fördern (unter der Voraussetzung, daß die FDP nicht in den Bundestag einzieht), aber innerhalb der SPD-Gremien keine Mehrheit für R2G, von den Grünen einmal ganz zu schweigen. Je nach Mehrheit wird es auf Jamaica oder Schwarz-Rot hinauslaufen.

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      Ich glaube, es ist nicht so kompliziert: Rot-Rot-Grün als „Moskaus Fünfte Kolonne“ soll verhindert werden. Dafür werden gerne alte Hüte hervorgezaubert: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ Hier wird dieses Argument auf die Spitze getrieben – durch eine unterstellte Kollaboration von SPD und AfD. Würde mich nicht erstaunen, wenn dieser Beitrag Eingang in die nächsten CDU – Wahlflyer fände. „Rote-Socken-Kampagne“ reloaded. Peter Hinze hätte seine helle Freude!

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        Ganz so einfach stellt sich die Sache inzwischen nicht mehr dar, Herr Trute, da seit den 1990ern sehr viel in Bewegung gekommen ist.
        Erinnern Sie sich an die frühen 1980er? – Die F.D.P. (damals noch mit Punkten) wechselte den Koalitionspartner, wurde abgewatscht und fast aus dem Bundestag gewählt. Dafür standen mit den Grünen plötzlich linke Schmuddelkinder mit einem ungeklärten Verhältnis zur Gewalt auf der Matte, die so ganz anders sein wollten, als die „etablierten Parteien“. Mit den Grünen zu koalieren, wäre keinem Sozialdemokraten ernsthaft in den Sinn gekommen, da ein guter Teil unter ihnen bereit war, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Folgerichtig versuchte Johannes Rau als Spitzenkandidat der SPD, die Wähler für die Bundestagswahl 1987 von einer absoluten Mehrheit für die SPD zu überzeugen… Die zeitgleich formierte rot-grüne Landesregierung in Hessen unter Börner und Fischer war eher als Experiment gedacht und kam nur deshalb zustande, weil erstens der Ober-Grüne Joschka Fischer dem Realo-Flügel zugeordnet werden konnte, und weil zweitens die hessische F.D.P. nicht den Mumm hatte, die babylonische Gefangenschaft in den Armen der CDU zu verlassen und mit der SPD zu koalieren.
        Nicht lange nach der Wiedervereinigung hatten sich die Grünen ihres Fundi-Flügels entledigt und etliche DDR-Oppositionelle aufgenommen; im Bund waren sie grundsätzlich zur Regierungsverantwortung bereit, in den Ländern teils schon in der Regierung. Die Rolle der Schmuddelkinder (mit einem ungeklärten Verhältnis zur eigenen Vergangenheit) hatte nun die PDS inne. Was blieb: Die F.D.P. hatte (außer in Rheinland-Pfalz) Angst, sich dauerhaft von der Union zu lösen und koalitionsfähig mit der SPD zu sein; Ampelkoalitionen in Bremen und in Brandenburg gingen für die Liberalen schlecht aus. Gleichzeitig waren die Positionen von Grünen und Union im Bund in wesentlichen Punkten inkompatibel. Die PDS versuchte sich auf Landesebene in pragmatischer Politik und unterstützte SPD-geführte Landesregierungen (oder war Koalitionspartner), auf Bundesebene kam sie nicht in die Verlegenheit, ernsthaft zu Koalitionsgesprächen eingeladen zu werden, fühlte sich in der Rolle als Opposition aber auch zu wohl (Slogan: „Veränderung beginnt mit Opposition“).
        Die Veränderungen kamen erst seit dem Ende der Ära Schröder:
        – Die früheren Dauerstreitpunkte, derentwegen schwarz-grün unmöglich war – Kernenergie, Bundeswehr, Einwanderungspolitik – sind abgehakt, weil die Union sich massiv modernisiert hat. Daß eine wiederverheiratete kinderlose ostdeutsche Frau den Parteivorsitz innehat und ein homosexueller Mann im Bundesvorstand der CDU mitmischt, wäre zu Zeiten Helmut Kohls undenkbar gewesen.
        – Die Grünen sind umgekehrt seit dem Beginn der Regierung Schröder keine vaterlandslosen Gesellen mehr, sondern haben (wenn auch anfangs mit vernehmlichem Zähneknirschen) die Kampfeinsätze der Bundeswehr im Kosovo und in Afghanistan mitgetragen. Auf Landesebene in Hessen koalieren die Grünen mit der Union.
        – Die FDP ist erstmals aus dem Bundestag ausgeschieden und konnte sich personell wie inhaltlich erneuern.
        – Die PDS hat sich mit einem nennenswerten Teil des linken SPD-Flügels zusammengetan und ist keine reine Partei der Ostalgie mehr. Der Berliner Einfluß eines Oskar Lafontaine, der auf persönlicher Ebene die Zusammenarbeit zwischen SPD und Linken vergiftet hätte, hat indes nachgelassen. Auch ist der Einfluß des Fundi-Flügels der Linkspartei geschrumpft, so daß Regierungsverantwortung nicht mehr abgelehnt wird.
        – Die SPD hat etliche der Protagonisten, die Schröders Agenda 2010 mit initiiert haben, nicht mehr an führender Position. Sigmar Gabriel ist nicht so kantig, daß er bei den Linken überall aneckt; Oskar Lafontaine gilt unter den SPD-Genossen zwar noch als Persona non grata, aber man nimmt zur Kenntnis, daß die Linkspartei nicht mehr direkt von ihm beherrscht wird.
        – Und zu guter Letzt ist eine neue Partei aufgetaucht, die das Schmuddelkind-Image pflegt, ein ungeklärtes Verhältnis zur Gewalt hat und die Verantwortung einer Regierungsbeteiligung ablehnt: die AfD.

        Was unterm Strich bleibt, ist: Nach wie vor eine Schmuddelkind-Partei, aber nur noch eine deutliche Inkompatibilität: Linke vs. FDP bzw. Linke vs. Union. Alle anderen Parteien sind keinem festen Lager mehr zuzuordnen. Man vergleiche dies mit der Situation vor 15 Jahren.

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        @Opa
        Mit “ nicht so kompliziert“ meinte ich die Stoßrichtung des Beitrags von Herrn Werner, nicht Ihre differenzierende Darstellung der Entwicklung des Parteiengefüges in Deutschland in den letzten 35 Jahren. Dieser Text erinnerte mich an die „Rote-Socken-Kampagne“ bzw an das, was ich über die Angriffe von konservativer Seite gegen die Regierung Brandt/Scheel nach den Ostverträgen gelesen hatte.

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        @ST: D’Accord. Aber ich bezweifle, ob eine Rote-Socken-Kampagne heute noch verfängt. Die Linke regiert in etlichen Ländern mit; die Zeit, als sie noch SED hieß, liegt knappe drei Jahrzehnte zurück, und die besten Freunde des Kremls sitzen heute in der AfD. Schon 2009 hat die CDU es vermieden, die Rote-Socken-Kampagne wiederaufleben zu lassen, nachdem sich angedeutet hatte, daß es eher dazu diente, enttäuschte SPD-Anhänger wieder zur Wahl zu bewegen (siehe http://www.spiegel.de/politik/.....46350.html).
        Darüber hinaus müßte sich die CDU etwas einfallen lassen, warum Putin (der Syrien an der Seite Assads bombardieren läßt, sich ein Marionetten-Parlament hält und die Presse knebelt) ein böser Autokrat ist, auf den man draufhauen muß, Erdogan (der Syrien an der Seite der Dschihadisten bombardieren läßt, sich ein Marionetten-Parlament hält und die Presse knebelt) oder Orban (der keine Truppen in Syrien hat, sich ein Marionetten-Parlament hält und die Presse knebelt – nur nicht ganz so fest wie Putin) aber gute, mit denen man sich gerne zeigt.

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      Gabriel hat noch nie ne Wahl gewonnen, in Niedersachsen wurde er abgewählt, und Kandidat Steinbrück war einen Tag nach der Bundes-Wahl verschwunden und der Dicke sprang aus der Kiste und wurde Vizekanzler. Eine Wählertäuschung sondergleichen, klarer Betrug.

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    Könnte es vielleicht sein, dass hier der „Hauptfeind USA“ unserer Jugendjahre schlicht ausgewechselt wurde? Nicht, dass Putin nicht vom großen Imperium träumt – aber ein Blick auf die marode Wirtschaft Russlands zeigt, dass der Verwirklichung einiges im Wege steht. Außerdem scheinen die Russen im Baltikum keinen großen Wert darauf zu legen, heim ins Reich geholt zu werden.
    Und täusche ich mich so in den Grünen? Oder war Marieluise Beck ein Einzelfall, als sie sich öffentlich auf die Seite der Maidan-Demonstranten stellte?

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    Sie vergaßen noch zu berichten, dass der Bundesrat mit den Stimmen der beiden schwarzgrünen Regierungen in BaWü und Bayern (MP Kretschmann und Vize-MP Palmer) die Länder des Baltikums nach der russischen Infiltration selbstverständlich flugs zu sicheren Herkunftsländern erklärten, um etwaige Flüchtlingslawinen von vornherein abzuwehren.

    Ansonsten sehe ich Sie sicher mit der Waffe in der Hand irgendwo im Baltikum die westlichen Werte verteidigen – Sie müssen sich nur noch überlegen, welche Farbe die „Revolution“ diesmal haben soll!

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