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Der „Tagesspiegel“ und der „Mittelhof“

Als im Sommer 1975 der „Mittelhof“ an der Rehwiese in Berlin auf den „freien Immobilienmarkt“ gelangte, bedurfte es des entschiedenen staatsbürgerlichen Einsatzes vieler Menschen im damaligen West-Berlin, und letztlich des Kaufs durch eine staatliche Institution, die Historische Kommission zu Berlin, um den Abriss dieses einmaligen Zeugnisses bürgerlicher Wohnkultur zu verhindern. So viel zu Ayn Rand, aber das nur nebenbei.
Der Mittelhof gehört zu jener „Perlenschnur“ von Häusern im „englischen Landhausstil“, die Hermann Muthesius am Anfang des 20. Jahrhunderts an der Rehwiese schuf. Heute ist ihr kulturhistorischer Wert unumstritten – mit Ausnahmen allerdings, wie wir sehen werden; vor vierzig Jahren schien es ökonomisch sinnvoll, sie abzureißen und durch Wohnblöcke mit einer dichteren Geschossflächenzahl zu ersetzen.

Im damaligen West-Berlin gab es schlicht und einfach nicht mehr ein Großbürgertum, das sich solche Häuser leisten konnte, jedenfalls nicht in ausreichender Zahl; ein Umbau wäre erheblich teuerer geworden als Abriss und Neubau; die Rettung des Mittelhofs setzte also ein Denken gegen die damals vorherrschende Geschichtsvergessenheit und Ökonomiebesessenheit voraus.

Große Verdienste erwarb sich dabei der „Tagesspiegel“, damals noch das Pflichtblatt, des Berliner Bildungsbürgertums. Allein sechsmal zwischen dem September und dem Dezember 1975 ging die Zeitung auf den „Kampf um den Mittelhof“ ein. Heute undenkbar, nicht nur für den „Tagesspiegel“.
Nun hat Nicola Kuhn in der gleichen Zeitung (die freilich nicht mehr dieselbe ist) einen Verriss des Gebäudes veröffentlicht.
Kuhn empfindet den Mittelhof als „dunklen Trumm“ der – Achtung, Alliteration! – „bräsig in die Breite statt elegant in die Höhe“ geht. „Wäre das jetzt ein Film, würde während des Gangs zum Haus ein bedrohlicher Soundtrack erklingen, denn die hohen Kiefern und nach unten gezogenen Schindeldächer des Komplexes lassen an deutsche Düsternis denken.“
Nun ist eine Architekturkritik eben kein Film, oder sollte es nicht sein. Die hohen Kiefern standen dort schon, als das Haus erbaut wurde und sollten, wie der Architekt schrieb, „als wesentlicher Bestandteil der Rehwiesenlandschaft erhalten“ bleiben. Man denkt da eher an die lange Tradition des deutschen Landschafts- und Umweltschutzes als an einen düsteren Film-Soundtrack, jedenfalls wenn man seine Hausaufgaben gemacht und gefragt hat, warum ein Haus so und nicht anders gebaut wurde.

Warum Breite „bräsig“ und Höhe „elegant“ sein soll, bleibt Kuhns Geheimnis; wäre dem so, die Architekturkritik könnte man getrost Schulkindern anvertrauen: Fernsehturm: elegant; Neue Nationalgalerie: bräsig. Neues Palais. Elegant; Sanssouci: bräsig. Tatsächlich war die eingeschossige Anlage auch deshalb gewählt worden, wie Muthesius schrieb, damit „man von allen Erdgeschossräumen unter den Zweigen der Randkiefer hindurchsehen kann“. Die nach Süden und Westen blickenden Fenster sind denn auch – wenn man schon Stilkritik betreiben will – geradezu überdimensioniert, um Licht und Landschaft hineinzulassen. Hier bilden sich die Ideen des Bauhauses vor.
Es bleibt Frau Kuhn natürlich unbenommen, Gebäude nicht zu mögen, auch und gerade denkmalgeschützte. Sie ist ja nicht irgendjemand, sondern seit einem Vierteljahrhundert Kunstredakteurin beim Tagesspiegel und eine Berliner Lokalgröße: Mitglied im Sachverständigenkreis „Kunst am Bau“ des „Bundesamts für Bauwesen und Raumordung“ etwa. Mit ihrem Gefühl, die Muthesius-Landhäuser seien nicht elegant genug, ist sie überdies in guter Gesellschaft Schon der Zeitgenosse Friedrich Ostendorf kritisierte die Architektur Muthesius’ als unkünstlerisch und ging sogar so weit, in seinem Lehrwerk „Sechs Bücher vom Bauen“ einige der Muthesius-Häuser neu – nämlich richtig, neobarock etwa – zu entwerfen. Ostendorf war Muthesius zu wohnlich, zu familiär, zu englisch, zu undeutsch.

Ostendorfs Buch erschien zu Beginn des Ersten Weltkriegs, als Ernst Lissauers „Hassgesang gegen England“ die allgemeine Stimmung im Bürgertum wiedergab. Da machte sich eine Polemik gegen Muthesius gut, der 1904/5 ein dreibändiges Werk über „Das englische Haus“ vorgelegt und Architekten wie Webb, Shaw, Lethaby, Lutyens und Voysey als Vorbilder einer eben unkünstlerischen, ja funktionalistischen, ganz dem Wohnen dienenden Architektur hingestellt hatte. Es spricht für Muthesius, dass er 1914 den „Mittelhof“ nicht im Stil deutscher Eleganz oder gar deutscher Düsternis baute, sondern im Stil eines englischen Landhauses.
Das muss man nicht mögen. Über den Geschmack lässt sich bekanntlich nicht – oder trefflich – streiten. Frau Kuhn mag ein elegantes Barockschlösschen einem bräsig-breiten britischen Bungalow (Alliteration kann ich auch) vorziehen Wenn sie aber  behauptet, die Nationalsozialisten hätten Muthesius’ Ideen „vereinnahmt“ und daraus „das architektonische Ideal deutscher Behaglichkeit“ entwickelt, den „Heimatstil“ nämlich, dann ist das nicht Geschmackssache, sondern blühender Unsinn, dem widersprochen werden muss.
Erstens ist der Heimatstil keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern der Spätromantik. Zweitens hat er mit Muthesius nicht das Geringste zu tun. Ganze Straßenzüge in Berlins Villenvororten sind im bäuerlich-konservativen „Heimatstil“ erbaut worden, mit Fachwerk- und Laubsägearbeiten, Erkerchen und Türmchen. Für Muthesius war „das englische Haus“ der Gegenentwurf zu solchem Historismus: Seine Häuser waren im eigentlichen Sinne stillos, oder sollten es sein.
Aber vielleicht meint Frau Kuhn den „Heimatschutzstil“, dem Muthesius zuweilen zugerechnet wird; zu Unrecht jedoch, da Muthesius mit dem – 1938 von den Nazis aufgelösten – „Deutschen Werkbund“ geradezu das Gegenstück zum „Deutschen Bund für Heimatschutz“ schuf. Nicht Kampf gegen die Industrie und die Typisierung, wie sie die „Heimatschützer“ forderten, wollte der Werkbund, sondern die Veredelung industrieller Produkte im Sinne des „industrial design“ und die Schaffung vorbildlicher Typen: Möbel, Besteck, Stoffe, Häuser. (Muthesius beteiligte sich am Bau der Garten- und Musterstadt Hellerau bei Dresden.)  Nicht typisch regionale Architektur wollte Muthesius schaffen, wie der Heimatschutzbund, sondern eine Architektur, die dem Ideal der „Sachlichkeit“ verpflichtet war.
Wer hoch mit elegant und breit mit bräsig gleichsetzt, mag auch der Ansicht sein, Flachdach und Beton seien modern, Spitzdach und Ziegel reaktionär – und reaktionär schon faschistisch. Dabei waren die Nazis weder dem Beton noch dem Flachdach abgeneigt, siehe etwa den Flughafen Tempelhof oder das Seebad Prora. Umgekehrt schufen Mies van der Rohe und Frank Lloyd Wright, Hans Poelzig und andere vertreter der architektonischen „Moderne“ Landhäuser, Villen und Reihenhäuser mit Spitzdach in traditioneller Bauweise.

Was aber gegen „Behaglichkeit“ einzuwenden ist, entzieht sich meiner Vorstellungskraft. Tatsächlich wollte Muthesius seinem Bauherrn im „Mittelhof“ – und nicht nur dort – ein behagliches Wohnen ermöglichen, im Gegensatz zur steifen Repräsentationsarchitektur des Historismus. Wem aber beim Gedanken an Behaglichkeit schon Nazis und deutsche Düsternis in den Sinn kommen – nun, ihr sei die Unbehaglichkeit gegönnt. Schade aber bleibt es, dass der „Tagesspiegel“ sich selbst mit diesem von keinerlei Sachkenntnis getrübten Architektur-Verriss untreu geworden ist.

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6 Gedanken zu “Der „Tagesspiegel“ und der „Mittelhof“;”

  1. avatar

    Dass in Berlin nicht gerade aus Gründen der Eleganz hoch gebaut wurde, sondern aus der Überlegung, auf einer geringen Fläche möglichst viele Menschen unterzubringen.
    Dafür stehen exemplarisch Gropiusstadt und Märkisches Viertel, die nicht gerade als die Eleganz von Berlin gelten.

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    Wie halten die Niederländer es ohne Sichtschutz aus, oder bilde ich mir das nur ein, dass es dort weniger davon gibt?

    Wie wärs mit Spiegelglas und für die Nachbartrennung mattiertes Glas oder Beton?

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    Ich bin zwar skeptisch, ob das funktioniert, aber wenn dann könnte es so etwas vielleicht auch für Löwen und abrissgefährdete Architekturschätze geben.

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