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Odenwaldschule am Ende – ein Nachruf

Zum Ende des laufenden Schuljahres stellt die ehrwürdige Odenwaldschule in Ober-Hambach den pädagogischen Betrieb ein. Seit der Aufdeckung des Missbrauchsskandals im Jahre 1998 waren die Schülerzahlen stetig gesunken, so dass die Schule immer mehr in die roten Zahlen rutschte. Alle Versuche, die Schule durch eine seriöse Aufarbeitung der Affäre und durch effektive Präventionsmaßnahmen zu stabilisieren, waren letztlich vergeblich. Zuletzt besuchten noch 114 Schüler das Internat – viel zu wenige für einen kostendeckenden Betrieb.

Die Odenwaldschule wurde 1910 von Paul und Edith Geheeb als Schule in freier Trägerschaft gegründet. Lange Zeit galt sie als Vorzeigeinternat der Reformpädagogik. Der Leitspruch von Geheeb lautete: „Werde, der du bist!“. Die Schüler sollten nicht nur Wissen erwerben, sondern ihre Persönlichkeit entwickeln, vor allem dadurch, dass sie beim Zusammenleben in der Gemeinschaft selbstbestimmtes Handeln lernen. Die Odenwaldschule war immer eine integrierte Gesamtschule. Neben dem klassischen Abitur war es möglich, ein Fachabitur abzulegen und eine Tischler- oder Schlosserausbildung mit staatlichem Zertifikat abzuschließen.

Ich kann mich noch gut an meinen Besuch in der Odenwaldschule erinnern. Als 1995 die Schulfarm Scharfenberg in Berlin, an der ich unterrichtete, von der Schließung bedroht war, wohnte ich eine Woche lang im Gästehaus der „OSO“ (so lautet der Kosename der Schule). Ich wollte in Schule und Internat hospitieren, um zu erfahren, was den damals noch unbestrittenen Erfolg dieser Schule ausmachte und was die von sich hin kümmernde (staatliche) Schulfarm Scharfenberg daraus lernen konnte. Im Archiv der Schulfarm hatte ich einen Briefwechsel entdeckt, der auf einen regen pädagogischen Austausch beider Schulen zur Zeit der der Weimarer Republik schließen ließ. Daraus erfuhr ich, dass die Schulfarm sich als proletarische Schule verstand, die vor allem Arbeiterkinder aus den Berliner Mietskasernen aufnehmen wollte. Die Odenwaldschule hingegen rekrutierte Kinder aus dem Großbürgertum, vor allem aus Kunst, Literatur und Musik. Die Liste ehemaliger Schüler liest sich wie ein Who is who der deutschen Intelligenz: Wolfgang Hildesheimer, Klaus Mann, Joachim Unseld, Wolfgang Porsche, Klaus Gysi, Amelie Fried, Felix Hartlaub, Daniel Cohn-Bendit usw. Auch die Liste der Lehrer, die an der OSO unterrichtet haben, nennt illustre Persönlichkeiten: Bernhard Bueb, Minna Specht, Eva Seligmann, Peter Suhrkamp, Martin Wagenschein, Eduard Zuckmayer.

Die Kooperation der beiden Internatsschulen war trotz der großen Entfernung sehr eng. „Souterrain“ und „Beletage“ glaubten, viel voneinander lernen zu können. Als ich mich in der Odenwaldschule als Emissär aus Berlin vorstellte, schlug mir viel Wohlwollen entgegen. Jahrzehnte lang hatte es nämlich keinen Austausch mehr zwischen den beiden ehemals befreundeten Schulen gegeben.

Mich begeisterten nicht nur die gut funktionierenden Werkstätten, sondern auch die hervorragenden Unterrichtsbedingungen in den künstlerischen Fächern Theater, Bildende Kunst, Musik. Die Internatshäuser waren nach dem Familienmodell belegt. Ein Lehrer wohnte mit seiner eigenen Familie in dem Haus, in dem „seine Familie“ – eine altersgemischte Schülergruppe – untergebracht war. Die Altersmischung vom 5-Klässler bis zum Abiturienten war deshalb besonders effektiv, weil die Kleinen von den Großen unter ihre Fittiche genommen wurden und das Leben im Internat ohne schmerzliche Konflikte lernten. In der Schulfarm Scharfenberg hingegen führte die Internatsbelegung zu ständigen disziplinarischen Turbulenzen. In jedem Internatshaus wohnte eine ganze Klasse, was dazu führte, dass sich die Schüler so benahmen, als befänden sie sich auf einer ewigen Klassenfahrt. Außerdem wechselten die Betreuer von Nacht zu Nacht, so dass eine pädagogische Kontinuität nie entstehen konnte.

Im Archiv der Odenwaldschule zeigte mir der damalige Direktor Wolfgang Harder den wertvollsten Bestand: den Briefwechsel von Thomas Mann mit dem Schulgründer Paul Geheeb. Anlass war eine Kurzgeschichte gewesen, mit der der Schüler Klaus Mann sich in die Fußspuren des berühmten Vaters begeben wollte. Die Geschichte hatte es in sich. Ein vollbärtiger Mann von der Statur eines Waldschrats (unverkennbar die Physiognomie Paul Geheebs) lockt jede Nacht ein Mädchen aus dem Internat in sein Privatgemach, um es unsittlich zu betasten. Als schaurige Begleitmusik lärmt ein Eichhörnchen in einem Bauer. Klaus Mann ließ die Geschichte nebst anderen literarischen Versuchen auf eigene Kosten drucken. Bald zirkulierte das Bändchen in der Odenwaldschule und darüber hinaus. Der Direktor war empört und stellte den Vater des literarischen Novizen in einem geharnischten Brief zur Rede. Thomas Mann antwortete in seiner unnachahmlich ironischen Art: „Sie werden doch die unreifen Ergüsse eines Pubertierenden nicht für Literatur nehmen wollen…“. (Oder sollte man es damals schon für die Realität nehmen?) – Der Vater einigte sich mit dem Schulleiter darauf, dass Klaus nach einer gesichtswahrenden Karenzzeit das Internat verlässt.

Klaus Mann hat die Zeit in der Odenwaldschule in seiner ersten Autobiografie „Kind dieser Zeit“ (1932) ausführlich beschrieben: „Es begann mit einem Dauerlauf im Walde und kaltem Duschen; zwischen den Unterrichtsstunden des Vormittags gab es ´Luftbad` auf einer eingezäunten Hügelwiese, zu der man im Trabe lief und wo, die Jungen von den Mädchen getrennt, splitternackt Freiübungen gemacht wurden. Die ´praktische Arbeit` nach Tisch bestand […] aus Holzhacken, Kartoffelschälen, Schreinern oder im Garten graben. Sonntagvormittag gab es eine ´Andacht`, wo Paulus [Kosename von Paul Geheeb], ein Mitarbeiter oder ein älterer Kamerad etwas Besinnliches vorlas; vor jeder Mittagsmahlzeit sprach Paulus einen tiefsinnigen Spruch – meist von Goethe oder aus dem Neuen Testament , soweit ich mich erinnere -; abends fiel einem Kameraden diese Aufgabe zu.“

Klaus Manns Schulzeit fiel in die Ära der Jugend- und Lebenskultbewegung und des Wandervogels. Naturnähe und Gemeinschaftsgeist prägten deren Aktivitäten. Klaus Mann fasst das Lebensgefühl der Zeit so zusammen: „Dass wir gemeinsam jung waren, bleibt das Entscheidende – was immer wir auch aus dieser Jugend gemacht haben mögen. Als ungeheures Geschenk der ´Jugendbewegung` fiel uns zu, dass wir diese Jahre mit Bewusstheit und mit Stolz auf all ihre Zerrissenheit, Unklarheit und Qual durchlebten, nicht nur als Vorbereitung auf irgendein ´erwachsenes Dasein`, das wir gering genug achteten.“ („Kind dieser Zeit“)

Die Odenwaldschule atmete die pädagogische Souveränität, die heute viele staatliche Lernfabriken schmerzlich vermissen lassen. Klaus Mann galt als Hochbegabter, der im Unterricht – es war eine Gesamtschule mit heterogenen Lerngruppen – häufig unterfordert war. Paul Geheeb gestattete deshalb seinem Lieblingsschüler, sich während der Unterrichtsstunden „zur Selbstbildung“ mit einem Roman auf die Wiese zu legen. Die Entwicklung der Persönlichkeit („Werde, der du bist!“) wurde ernst genommen. Kann man sich eine solche pädagogische Haltung im Zeitalter der Kompetenzraster überhaupt noch vorstellen?

Voll der Eindrücke reiste ich nach Berlin zurück. Eine von mir initiierte Reformgruppe entwarf ein Konzept für eine reformpädagogische Erneuerung der Schulfarm, in die viele der in der OSO gemachten Erfahrungen einflossen. Die Reformanstrengung blieb ohne Erfolg. Das Lehrerkollegium lehnte die Konzeption mit großer Mehrheit ab. Dienst nach Vorschrift siegte über den pädagogischen Reiz des Neubeginns. Zum ersten Mal in meinem Lehrerdasein musste ich die Grenzen des Beamtenstatus´  schmerzlich erfahren. Meines Bleibens war danach auf der Schulfarm nicht länger. Heute gehen in der Schulfarm Scharfenberg staatliche Schule und privat geführtes Internat getrennte Wege – für die Reformpädagogik der Sündenfall schlechthin.

Die dunklen Jahre in der Odenwaldschule können die Strahlkraft, die diese Bildungsstätte in ihrer 105-jährigen Geschichte entfaltet hat, nicht gänzlich zu Nichte machen. Deshalb wünschte ich mir, dass die Odenwaldschule, wenn sie denn wirklich im Sommer 2015 geschlossen wird, nach einer Phase der Neubesinnung mit einem neuen Konzept und einem frischen Lehrer- und Schulleitungsteam den Neustart wagt. Ein Investor, dem dieses „Kulturgut“ Odenwaldschule am Herzen liegt, müsste sich finden lassen.

 

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7 Gedanken zu “Odenwaldschule am Ende – ein Nachruf;”

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    Die OSO ist daran zugrunde gegangen, dass sie sich nicht proaktiv mit dem Geschehen auseinander gesetzt hat. Sie hat sich seit 2010 immer weggeduckt, hat auf die armen aktuellen Schüler verwiesen.
    Hätte sie eine führende Rolle in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Päderastie in der Neuzeit übernommen, wäre sie (in den Ferienzeiten) ein „International Center for Pedrastic Research“ geworden, dann würde sie sicher weiterhin existieren. Viele Altschüler, darunter auch ich, schämen sich für diese wie hier gelobte ehemalige UNESCO-Modellschule, weil sie nichts Richtungsweisendes zustande gebracht hat.
    http://www.meinungsfrei.de/aus.....e-oso.html

  2. avatar

    Als Betroffener kann ich Ihre Schwärmerei für die Odenwald“schule“ nicht nachvollziehen.Es scheint als lebten Sie noch in einer anderen Zeit-nämlich der vor 1998 bevor die tatsächliche Wahrheit über die „ehrbare“ Odenwaldschule endlich offiziell(bekannt war das alles schon viel länger-siehe z. B.Klaus Mann))ruchbar wurde.Ich bin mit vielen anderen sehr froh wenn diese sog. „Schule“ endlich geschlossen wird…wenigstens ein kleines Stück Gerechtigkeit…

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    @Don Geraldo
    „Daher ist für mich die Nachricht, daß ein solches Eliteinternat dichtmacht eine gute Nachricht.“
    Könnte ja sein, daß sich dort etwas entwickelt, daß nicht dem demokratisch verordneten Konsens entspricht. Das muss unter allen Umständen unterbunden werden, nicht wahr?

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    Die Briten haben es kapiert:
    TANSTAAFL

    There ain’t no such thing as a free lunch.
    Nächste Station: Frankreich 2017.
    Brüssel wird es nie kapieren wollen, denn dann werden einige arbeitslos.

  5. avatar

    Wenn auch die Eliten, die einen großen Einfluß auf unser Bildungssystem haben gezwungen wären, ihre Kinder auf staatliche Schulen zu schicken wären diese vielleicht in einem besseren Zustand.

    Daher ist für mich die Nachricht, daß ein solches Eliteinternat dichtmacht eine gute Nachricht.
    Man sollte solchen Institutionen zumindest jegliche staatliche Förderung, z. B. in Form von Gastschulbeiträgen, entziehen.

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    Lieber Rainer, ich danke dir für diesen liebevollen Nachruf. Obwohl selbst aus einer sich als großbürgerlich verstehenden (aber verarmten) Familie stammend, ging ich auf Scharfenberg zur Schule. (Mein jüngerer Bruder später zur OSO.) Damals bestand ein relativ enger Austausch: ich erinnere mich zum Beispiel an den Besuch der hoch profesionell wirkenden Kabarett-Truppe der OSO; ich glaube, die hießen „die Pampelmusen“. Wir Scharfenberger waren trotzig-stolz darauf, einer – wie du schreibst – „proletarischen“ Schule anzugehören, obwohl wir es damals nicht so formuliert hätten. Zuweilen aber war das eine Ausrede dafür, keine vergleichbaren Höchstleistungen zu erbringen: „Na ja die mit ihren reichen Förderern …“
    Die OSO ging daran zugrunde, dass weder Lehrer noch Eltern noch Förderer noch ehemalige Schüler bereit waren, den jahrelangen sexuellen Missbrauch unter Gerold Becker rechtzeitig aufzudecken. Ein gutbürgerliches Kartell des Schweigens, das die Institution schützen sollte, sie aber zuerst moralisch, dann aber auch materiell ruinierte.

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