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Wenn sich Staaten wie Kinder benehmen

Anfang März wurde bekannt, dass die griechische Regierung über ihren Botschafter eine diplomatische Beschwerde an das deutsche Auswärtige Amt geschickt hat, weil Finanzminister Schäuble seinen griechischen Amtskollegen Varoufakis beleidigt habe. Der Vorwurf der Beleidigung bezieht sich auf das Wortgeplänkel, das zwischen Schäuble und Varoufakis seit dem Amtsantritt der Regierung Tsipras im Februar 2015 hin- und hergeflogen war und in dem Schäuble den griechischen „Halbstarken“ nichts schuldig geblieben war. Das ominöse beleidigende Wort wurde von den Griechen freilich nicht öffentlich wiederholt.

Schon im Wahlkampf war die linkspopulistische Partei Syriza nicht zimperlich gewesen, wenn es darum ging, „auszuteilen“. Die verhasste Troika, die im Namen der Gläubiger der Euro-Zone im Vorfeld neuer Kredittranchen die Verhandlungen mit Athen geführt hatte, wurde „Blutsauger“ genannt und zur „unerwünschten“ Institution erklärt, weil sie das griechische Volk „kolonisiert“ und „seiner Würde beraubt“ habe. In der Parteizeitung von Syriza wurde eine Karikatur abgedruckt, die Schäuble in Wehrmachtsuniform zeigt. Unter der Überschrift „Die Verhandlung hat begonnen“ wurden Schäuble folgende Worte in den Mund gelegt: „Wir bestehen darauf, Seife aus Eurem Fett zu machen“ und „Wir diskutieren nur über Düngemittel aus Eurer Asche“. Jeder versteht die ungeheuerliche Anspielung, die in diesen Sätzen liegt.   Die Nationalsozialisten hatten die Leichen ihrer jüdischen Opfer in den Konzentrationslager zur Herstellung industrieller Produkte ausgebeutet. Wie soll man begreifen, dass ein Politiker, der eine solche Entgleisung in der eigenen Parteizeitung duldet, sich davon beleidigt fühlt, dass der deutsche Finanzminister ihn als „naiv“ qualifiziert?

Mich erinnert das Gebaren der griechischen Regierung an das Verhalten eines Kindes, das sich von den Spielkameraden zurückgesetzt fühlt. Da es bei Wettkampfspielen immer verliert, besteht es darauf, die Regeln zu ändern. Da die Kameraden dies ablehnen, werden sie als „unfair“ und „grausam“ beschimpft. Kindern gelingt es nur sehr schwer, eigene Schwächen zuzugeben, weil sie es noch nicht gelernt haben, mit persönlichen Fehlern und mit dem eigenen Versagen produktiv umzugehen. Auch Staaten ist diese Haltung des Verleugnens manchmal eigen. Der Historiker Götz Aly glaubt, dass die Griechen seit Jahrzehnten gut im Verleugnen eigener Schuld seien. Sie könnten nicht von ihrer speziellen Staatsräson lassen, die da lautet: „Wir sind immer die Opfer“. „Deshalb gelten auch zahllose Massaker, die Griechen an Albanern, Türken und Bulgaren begangen haben, als böswillige Erfindungen.“ (Götz Aly, in: „Griechische Lebenslügen“, Berliner Zeitung vom 10. 3. 2015). Götz Aly schildert, wie die Griechen die Nazi-Besatzer tatkräftig darin unterstützten, die 46 000 Juden Thessalonikis zu enteignen und zu deportieren. „Das beträchtliche Vermögen der Juden von Thessaloniki veräußerte die griechische Finanzverwaltung an Griechen, um die Staatsfinanzen zu stabilisieren und einen Teil der Besatzungskosten zu bezahlen.“ (ebd.) Aly rechnet die Griechen zu dem „neuen Raubrittertum von Kriegs- und Holocaustgewinnlern“. Sein Fazit: „Auf eventuelle Reparationen hatten Nachfahren der deportierten Juden einen Anspruch – nicht jedoch der griechische Staat.“ (ebd.) – Hinzufügen müsste man noch, dass auch die Nachfahren der Menschen, die in einigen griechischen Dörfern von der Wehrmacht als Vergeltung für Partisanenangriffe ermordet wurden, eine finanzielle Wiedergutmachung durch Deutschland verdienen. Auf keinen Fall aber sollte man das Geltendmachen solcher Ansprüche mit der Rettung Griechenlands vor dem Staatsbankrott verquicken. Eine sachliche Diskussion über die richtige finanzielle Rettungsstrategie wäre sonst angesichts des affektiv aufgeladenen Reparationen-Themas kaum noch möglich.

Als der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy vor einem Jahr aus der politischen Versenkung, in der er nach seiner Abwahl im Jahre 2012 verschwunden war, wieder auftauchte, bemühte er bei seiner Kritik am Wirtschaftsprogramm seines Nachfolgers Francois Hollande ein aufschlussreiches Bild. Frankreich solle sich gefälligst am Klassenprimus (er meinte Deutschland) orientieren und nicht an den Sitzenbleibern (er meinte die Länder Südeuropas). Die Politik eines Staates wird hier mit dem Verhalten von Schülern in einer Schulklasse verglichen – nicht zu Unrecht.

Der Klassenprimus ist in der Klasse selten beliebt. Anscheinend ist es kränkend, weniger intelligent zu sein als andere Schüler. Was man im Sport hinnimmt, ja bewundert: Spitzenleistungen – gilt in den intellektuellen Fächern als Makel. „Streber“ und „Lehrerkind“ sind die Vokabeln, in denen sich der Neid der intellektuell Zukurzgekommenen ausdrückt.   Thomas Mann verleiht in seinem Roman „Buddenbrooks“ dem Primus den sprechenden Namen Adolf Todtenhaupt. Beflissen waltet dieser Primus als Klassensprecher seines Amtes (in der vordemokratischen Zeit wurde der Klassensprecher nicht von den Schülern gewählt, sondern vom Lehrer ernannt), indem er die fehlenden Schüler meldet und das Klassenbuch verwaltet. Im Unterricht verstreut er lässig seine Geistesblitze, während andere über der Aufgabe brüten und – allzu oft daran scheitern. Diese Erfahrung ist dann bei den weniger Intelligenten die Quelle von Neid und Missgunst. Warum ist in Frankreich der europäische Primus Deutschland ähnlich unbeliebt? Natürlich hat es etwas mit der deutsch-französischen Geschichte zu tun. Die Briten prägten das geflügelte Wort, die Deutschen hätten zwar den Krieg verloren, aber den Frieden gewonnen. Frankreich weigert sich beharrlich das zu tun, was ein Schüler tun müsste, wenn er feststellt, dass er in seinen Leistungen der Klasse hinterher hinkt: sich auf den Hosenboden setzen und lernen – sprich: die Strukturreformen verwirklichen, die das schlafende Wirtschaftspotential Frankreichs entfesseln könnten. Stattdessen pflegen nahezu alle Parteien das liebgewonnene Bild vom speziellen Sozialmodell Frankreichs, das sich weder mit der Globalisierung noch mit marktwirtschaftlichen Zumutungen vertrage. Lieber nimmt man den Abstieg des Landes in die zweite Liga in Kauf, als von den eigenen Lebenslügen zu lassen. Ein kindisches Verhalten.

Unmittelbar nach der Aggression Russlands gegen die Ukraine kritisierte Präsident Obama den russischen Präsidenten Putin, er benehme sich wie der „Lümmel in der letzten Bank“. In der Gesamtschule habe ich viele solcher „Lümmel“ kennen gelernt. Intellektuell überfordert und im sozialen Verhalten zurückgeblieben sind diese Schüler bald vom Rest der Klasse abgehängt. Irgendwann fangen sie an, ihre Aufsässigkeit zu kultivieren – nach dem Motto „Auch ein schlechter Ruf verpflichtet.“ Russland hat es nach dem Übergang zur Marktwirtschaft in den 1990ger Jahren nicht geschafft, neben der Weltraum- und Waffenindustrie auch nur einen nennenswerten Sektor der Volkswirtschaft aufzubauen, dessen Produkte auf den Weltmärkten konkurrenzfähig wären. Deshalb ist die russische Wirtschaft extrem anfällig, wenn die Öl- und Gaspreise wie zur Zeit in den Keller gehen. Von der Potenz einer Großmacht kann abseits des Militärischen keine Rede sein: Das Bruttoinlandsprodukt Russlands ist gerade mal so groß wie das von Italien. Russland, das Land mit der größten Fläche in der Welt, ist ein Koloss, der viele Schwächen und Bruchstellen aufweist. In den russischen Kernregionen geht die Bevölkerungszahl stark zurück, während sie in der muslimischen Peripherie ansteigt. Die Lebenserwartung der Männer rangiert mit 62 Jahren auf dem Niveau eines Dritt-Welt-Landes. Über eine Million junger, gut ausgebildeter Russen sind in den letzten fünf Jahren in den Westen ausgewandert. Dieser Braindrain ist mit dafür verantwortlich, dass die russische Volkswirtschaft nur ein geringes innovatives Potential aufweist. Dafür entwickeln junge Russen erfolgreiche Produkte im Silicon Valley.

Das Muster, dem die russischen Politik derzeit folgt, ist altbekannt: Aggressives Verhalten nach außen zur Kompensation innerer Schwäche. Wie die Lümmel in der Schule missachtet Russland dabei Regeln und Konventionen. Dieses Muster staatlichen Verhaltens hat man in der Geschichte schon oft erleben können. Hitlers Tiraden gegen den Versailler Vertrag waren in der deutschen Wählerschaft mit Sicherheit genauso erfolgreich wie seine Versprechungen, die Arbeitslosen von der Straße zu holen. Die Volksrepublik China, eines der größten Länder der Welt, kämpft aggressiv um einige unwirtliche Steinfelsen im chinesischen Meer, auf die auch Japan Anspruch erhebt. Mit dem damit entfachten nationalistischen Furor im Volk und in den sozialen Netzwerken des Internet kann die Kommunistische Partei sehr gut von den Problemen im Innern ablenken: vom Rückgang des Wirtschaftswachstums, vom tödlichen Smog in den Großstädten und von der grassierenden Korruption. Die argentinische Militärjunta besetzte 1982, als ihr innenpolitisch das Wasser bis zum Halse stand, die zu Großbritannien gehörenden Falklandinseln und holte sich dabei eine blutige Nase, als Großbritannien eine ganze Armada von Kriegsschiffen entsandte und die Insel zurückeroberte. Realitätssinn gehört oft nicht zur politischen Ausstattung von Staaten, wenn sie sich wie Kinder benehmen.

Die entscheidende Frage ist, wie man mit Staaten umgehen soll, die das Gebaren eines Kindes an den Tag legen. Die klassische vernunftorientierte Politik, die den rationalen Interessenausgleich mit dem Kontrahenten nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip sucht, scheint hier zu versagen. In der Pädagogik hat sich gegenüber renitenten Schülern ein Vorgehen bewährt, das man in Anlehnung an ein Wort von Thomas Mann als „machtgeschützte Freundlichkeit“ bezeichnen könnte: „Gerade bei den verstümmelten und gebrochenen Kindern, an deren Asozialität und Brutalität wir verzweifeln könnten, kann die vorgelebte Toleranz vielleicht die Unersättlichkeit der Triebbedürfnisse […] mildern helfen.“ (Rainer Asch: „Das Dilemma heutiger Erziehung“). In die Politik übersetzt könnte das bedeuten, dass man die eigenen politischen Ziele und Werte nicht preisgibt, aber im Umgang mit dem politischen Gegner auf die Methode der konzilianten Diplomatie nicht verzichtet. Angela Merkel scheint das im Umgang mit der neuen griechischen Regierung begriffen zu haben. Als sie den griechischen Ministerpräsidenten Tsipras bei einem fünfstündigen Abendessen ins Gebet nahm, hat sie weniger klassische Politik angewendet als eine „Pädagogik für Schwererziehbare“ (SPIEGEL 14/2015).

 

 

 

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5 Gedanken zu “Wenn sich Staaten wie Kinder benehmen;”

  1. avatar

    P.S. „Verkauft doch eure Inseln, Ihr Pleitegriechen! “ So stand es in der „Bild“. Seite 1. In großen Lettern. Ein Affront sondergleichen. Einen Aufschrei deswegen habe ich nirgendwo registriert. Zum Thema Journalistischer Anstand haben wir niemandem Ratschläge zu erteilen!

  2. avatar

    Lieber Herr Werner,

    Putin, Tsirpas, Hitler – alles Klassenclowns? Nun ja, eine recht eigenwillige Sichtweise. Kann man so sehen, wenn man nach den Gründen nicht fragt. Und nicht nach dem Wesen der Krise. Die Rettungspakete 1 bis X helfen den Griechen gar nicht. Die sind pleite, ein Schuldenschnitt wäre die logische und vernünftige Konsequenz. Der kommt nicht, weil Banken und deren Anteilseigner vor Verlusten geschützt werden müssen. Auf unsere Kosten natürlich. Die europäische Politik macht sich der Konkursverschleppung schuldig. Wenn sich dieser Kurs nicht ändert, ist Griechenland nur das Vorspiel. Zumindest wissen wir dann, was irgendwann auf uns zukommt. Dann sind wir der Klassenclown. Selbstredend exclusive der oberen Etagen von Commerzbank und Co. Die lesen Ihre „Analysen“ und klopfen sich auf die Schenkel…

    Mit freundlichem Gruß

    Stefan Trute

  3. avatar

    Hätte man von Seiten der EU aus die griechischen Regierungen der letzten dreißig Jahre so behandelt wie die Regierung, die erst seit drei Monaten Verantwortung trägt wäre es mit Griechenland nie so weit gekommen.
    Deshalb haben natürlich auch die EU und damit auch Deutschland eine Verantwortung dafür, daß Griechenland so ist, wie es ist.

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    Lieber Rainer, das Schlimmste an der gegenwärtigen Krise ist nicht das Benehmen des griechischen Klassenclowns, sondern der Glaube des versetzungsgefährdeten deutschen Michels, er sei der Klassenprimus. Ich empfehle zur Lektüre Marcel Fratzscher, „Die Deutschlandillusion“ und Olaf Gersemann, „Die Deutschlandblase“.

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    „Beflissen waltet dieser Primus als Klassensprecher seines Amtes (in der vordemokratischen Zeit wurde der Klassensprecher nicht von den Schülern gewählt, sondern vom Lehrer ernannt), indem er die fehlenden Schüler meldet und das Klassenbuch verwaltet.“

    ..schon klar, Herr Werner, das ist die deutsche Erwachsenheit, nicht wahr?
    Wer mal mit dem Auto durch Griechenland fährt, wird sofort feststellen, daß eine Organisation wie in D oder NL schon aufgrund der Topographie nicht möglich ist.

    GR ‚benimmt‘ sich überhaupt nicht, wie ein Kind, sondern seine Regierung tut das, was eigentlich jede Regierung tun sollte, nämlich die Interessen seiner Bevölkerung zu verteidigen und dabei die geostrategische Karte spielt. Juncker hat das verstanden. Warum man von deutscher Seite der erste griechische Regierung, die sich wirklich gegen die eigene staatlich oligarchische Unzulänglichkeit stellt, von Anfang an versucht, das Genick zu brechen, verstehe ich nicht ..doch, verstehe ich – es geht um hiesige Industrieinteressen.
    Schade, daß Sie – als Pädagoge – sich verbal daran beteiligen.
    Das ist ein Europa, dem ich keine Zukunft gebe.

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