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Kinder an die Macht? Bloß nicht!

Bekanntlich bin ich ein Gegner hyperventilierender Unheilsverkünder. Gegen linke und rechte Hysteriker richtet sich ja mein kürzlich erschienenes Pamphlet „Die empörte Republik“.  Das heißt aber nicht, dass nichts faul wäre im Staate Deutschland. Nur liegen die Probleme in der Regel nicht dort, wo sie von den Untergangspropheten verortet werden. (Dänemarks Hauptproblem war auch nicht die Art, wie der Onkel des Hysterikers Hamlet an den Thron und in das Bett der Königin gekommen war. Aber das ist eine andere Geschichte.) Wer eine sachliche und gerade wegen ihrer Sachlichkeit beunruhigenden Analyse der wirtschaftlichen Lage und Aussichten Deutschlands sucht, findet keine bessere als die meines Kollegen und Freunds Olaf Gersemann: „Die Deutschlandblase“.

In einem Punkt stimmt Gersemann mit einem der großen deutschen Untergangspropheten überein, nämlich mit Frank Schirrmacher: Die demographische Herausforderung – eine alternde und schrumpfende Bevölkerung – ist nicht bloß ein Problem für die Rentenversicherung, sondern auch eine Herausforderung für die Demokratie. Und da hat er natürlich Recht. Theoretisch zumindest könnten die Alten die Demokratie missbrauchen, um ihre Pfründe auf Kosten der Jungen zu sichern. Neuere Entscheidungen der Großen Koalition wie die so genannte „Rente mit 63“ (sprich: nach 45 Arbeitsjahren) und die „Mütterrente“ scheinen zu belegen, dass dieser Fall bereits eingetreten ist.

Olaf Gersemann empfiehlt daher als ersten Punkt seines Zehn-Punkte-Programms zur rechtzeitigen Reform des Landes die „Einführung des Kinderwahlrechts“.

Um es klar zu stellen: die Idee stammt nicht von Gersemann. Sie wird unter anderem von der „Stiftung für die Rechte künftiger Generationen“ um Wolfgang Gründinger und vom Kinderhilfswerk vertreten. Schon länger hat es mich gedrängt, dazu etwas zu schreiben; ich benutze Gersemanns Buch nur als Aufhänger. Er schreibt:

„Um der … Gerontokratie entgegenzuwirken, bekommen Eltern … das Recht, treuhänderisch für ihre minderjährigen Kinder mitzustimmen. (…) Ein Kinderwahlrecht … würde die Unwucht beseitigen, die darin besteht, dass ein Senioren-Ehepaar bei Wahlen zwei Stimmen hat, eine Alleinerziehende mit drei Kindern aber nur eine.“ (S.269f)

Klar, dass ich als eine Hälfte eines „Senioren-Ehepaars“ dagegen bin. Aber mir scheint, die hier knapp zusammengefasste Position verdeutlicht aufs Schönste, worum es beim Kinderwahlrecht geht, und warum man auch dann dagegen sein sollte, ja gerade dann, wenn man gegen eine Gerontokratie ist. Denn das Argument geht erstens von einer sachlich falschen Prämisse aus und ist zweitens demokratietheoretischer Quatsch.

Beginnen wir mit dem sachlichen Argument und betrachten das Seniorenehepaar und die alleinerziehende und dreifache Mutter. Unterstellt wird, dass die Senioren immer für ihre unmittelbaren Interessen stimmen werden, die Mutter aber für die ihrer Kinder. Dafür gibt es – trotz der jüngsten Rentenbeschlüsse – nicht den Schatten eines Beweises. Leute in meinem Alter sind erstens nicht so kurzsichtig, wie das Beispiel unterstellt. Gerade weil die Perspektiven des eigenen Lebens spätestens mit dem Renteneintritt zusammenschnurren, kann man sich Sorgen machen um die nachfolgenden Generationen. Und man macht sich Sorgen. Wenn meine Generation abtritt, wird die nächste wie kaum eine vor ihr erben, und beileibe nicht nur „die da oben“. Und auch wer nichts zu vererben hat, kann Argumenten folgen und nach dem Verstand abstimmen, nicht nach dem Rennntenbescheid.

Die alleinerziehende dreifache Mutter hingegen dürfte beherrscht sein von den Nöten und Sorgen des Alltags, woraus man ihr keinen Vorwurf machen kann. Aber wenn es um eine Erhöhung der Kindergeld- und Hartz-IV-Sätze geht, was ja auf Kosten der Arbeitenden geht, die Arbeit noch teurer macht und überdies den Anreiz zu arbeiten reduziert, dürfte man auf ihre Stimme zählen können. Auch im Hinblick auf die eigene Altersversorgung dürfte sie einer „Mütterrente“ kaum abgeneigt sein. Die Vorstellung, dass Leute, die treuhänderisch für ihre Kinder abstimmen dürfen, dies auch im Interesse ihrer Kinder tun würden, ist naiv.

Außerdem ist die Frage, was den Kindern nützt, ja auch umstritten. Vielleicht stimmt die Mutter von drei Kindern für die Linkspartei, weil sie der Ansicht ist, Deutschland müsse sich einer radikal pazifistischen Politik verschreiben, damit ihre Kinder nicht in einem Krieg sterben. Nachvollziehbar, aber ich würde einwenden, dass auch der Pazifismus zum Krieg führen kann. Vielleich stimmt sie für die Grünen, weil sie meint, der Planet müsse für ihre Enkel noch bewohnbar sein. Nachvollziehbar, aber ich würde einwenden, dass die Rezepte der Grünen teilweise das Gegenteil von dem bewirkt haben, was sie intendierten. Vielleicht stimmt sie für die AfD, weil sie ihren Kindern nicht ewige Zahlungen für faule mediterrane Völker aufbürden will und weniger Muslime in deren Schule haben will. Weniger nachvollziehbar für mich, aber man kann es ja so sehen. Und so weiter.

Übrigens muss man feststellen, dass weder die Mütterrente noch die Rente mit 63 von einer angeblich die Bundesrepublik beherrschenden Gerontokratie gefordert wurden. Die Mütterrente ist eine Verbeugung der CSU vor der traditionellen Familie und der Kirche und ein Geschnek an ihre konservative Klientel; die Rente nach 45 Beitragsjahren ist ein Geschenk der SPD an ihre Klientel, die Arbeiterschaft. Die große Masse der Rentner und Rentnerinnen hat weder von der einen noch von der anderen Rente etwas zu erwarten.

Würde in Deutschland eine Gerontokratie herrschen, so wäre kaum zu erklären, wieso das Rentenniveau von 55% des durchschnittlichen Einkommens im Jahre 1990 auf heute 47,1% gesunken ist und weiter sinken soll auf 43% in 15 Jahren.

Würde in Deutschland eine Gerontokratie herrschen, so würde sie vermutlich zu verhindern gewusst haben, dass man für die Pflege eine Extraversicherung abschließen muss, dass Brillen nicht mehr von der Kasse bezahlt werden und Zahnersatz nur in einem begrenzten Umfang, dass bei Rentnern Erspartes – etwa in Gestalt von Lebensversicherungen – bei der Berechnung der zu zahlenden Krankenversicherungsbeiträge mit herangezogen wird und dass – trotz Pflegeversicherung – Immobilienbesitz und anderes Eigentum zu Geld gemacht werden muss, um gegebenenfalls für die Pflege zu zahlen, es sei denn, man hat das zehn Jahre vor Eintritt des Pflegefalls an die Jüngeren geschenkt. Schöne Gerontokratie! Eher scheinen die Krankenkassen zu diktieren, was in diesem Land geht und nicht geht.

Aber selbst wenn die Sachlange eine andere wäre; selbst wenn es den Alten gelingen würde, als Lobby Gesetze gegen die Tendenz zur Altersarmut verabschieden zu lassen; selbst wenn man unterstellen könnte, eine alleinerziehende Mutter dreier Kinder würde verantwortungsvoller abstimmen als ein älterer Publizist, dessen Kind aus dem Haus ist: Würde das für ein Kinderwahlrecht sprechen?

Nein.

Es ist ein grundlegendes Missverständnis des demokratischen Systems anzunehmen, dass es bei Wahlen darum geht, die bestmögliche Regierung ins Amt zu bringen. Selbst wenn man sich darauf einigen könnte, worin „gutes“ und „schlechtes“ Regieren, eine „gute“ oder „schlechte“ Politik besteht, geht es eben nicht darum, sich ein Wahlvolk zuzuschneiden, das dieses Ergebnis garantiert.

Man kann sich viele „Wahlvölker“ vorstellen, die besser qualifiziert wären, eine verantwortungsvolle Regierung zu wählen, als ausgerechnet alle erwachsenen Männer und Frauen. Zum Beispiel alle, die einen Hochschulabschluss haben. Oder alle, die Steuern zahlen: schließlich ist es die vornehmste Aufgabe des Parlaments, über die Verwendung der Steuern zu beschließen. No taxation without representation, gewiss, aber auch no representation without taxation. Man hat früher nur Landbesitzer abstimmen lassen, weil man meinte, nur die seien sozusagen mit Haut und Haaren dem Land auch verbunden. Man hat rechtlich und wirtschaftlich abhängige Personen – Frauen, Sklaven, Versorgungsempfänger – vom Wahlrecht ausgeschlossen, weil man ihnen die mit dem Wahlrecht indirekt verbundene Verfügung über das Eigentum anderer nicht einzuräumen bereit war. Man hat Bildungstests eingeführt, die etwa in den Südstaaten so manipuliert wurden, dass kaum ein Schwarzer sie bestand.

Die simple Regel, dass alle nicht entmündigten Erwachsenen die Regierung wählen, geht nicht davon aus, dass dadurch eine bessere Regierung gewählt wird als im Falle irgendeiner Einschränkung des Wahlrechts. Das ist nachweislich nicht der Fall. Das Frauenwahlrecht zum Beispiel mag nicht, wie behauptet, Hitler an die Macht gebracht haben, aber dass dadurch die Qualität des Regierens verbessert worden wäre, kann man nicht behaupten. Das Wahlrecht für alle Erwachsenen geht auch nicht davon aus, dass die Regierung dadurch eher an ihre Versprechen gebunden wird. Auch das ist selten der Fall, weil es eben oft schwer ist, Versprechen einzulösen: Fragen Sie die jetzige griechische Regierung.

Worum es geht, ist die Möglichkeit, eine Regierung friedlich abzulösen, wenn sie sich als unfähig erwiesen hat, gescheitert oder schlicht und einfach im Amt ermüdet ist und den Leutenlangsam uaf den Wecker geht.

Dazu wäre auch ein anders zusammengesetztes Wahlvolk ja auch imstande; aber das allgemeine Wahlrecht soll sicherstellen, dass der Regierungswechsel friedlich erfolgt, indem er sich auf eine Mehrheit, zumindest auf eine Mehrheit der Abstimmenden, beziehen kann. Das gegenwärtige Wahlrecht ist also in erster Linie dazu da, den Regierungswechsel zu legitimieren; dafür zu sorgen, dass keine relevante Gruppe sich mit nichtverfassungsgemäßen Mitteln – mit Gewalt also – ihr Recht zu verschaffen versucht.

Die freie, gleiche und geheime Abstimmung gleichberechtigter Erwachsener scheint dazu das beste Mittel zu sein. Die Einführung eines Mehrklassenwahlrechts, bei dem – etwa – das zugezogene libanesische Ehepaar mit zehn Kindern nicht nur vom Sozialamt genug Geld bekommt, um ohne Arbeit leben zu können, was jetzt schon der Fall ist, sondern auch an der Wahlurne zehnmal mehr zu sagen hat als die allein wohnende kinderlose Juristin mit Migrationshintergrund oder der biodeutsche Heizungsmonteur, der seine geschiedene Frau mit ihrem Kind unterhalten muss (ja, ich bediene Vorurteile): ein solches Wahlrecht wäre ein Rezept für die Zerstörung des sozialen Friedens.

Es ist die Aufgabe der Politiker und der Parteien, Konzepte und Rezepte für die Zukunft des Landes zu entwickeln und dafür Mehrheiten zu organisieren. Können sie es nicht,

Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?
(Bertolt Brecht)

Ja, es wäre einfacher. Aber die Demokratie ist eben nicht einfach. Und das ist auch gut so.

 

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66 Gedanken zu “Kinder an die Macht? Bloß nicht!;”

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    KJN: ‚Sie halten einen solchen ‘Schutz vor Ansteckung’ hingegen für erforderlich? Berichten/beichten Sie!‘

    … *rofl*

  2. avatar

    @hans
    „Homosexualität ist eine schwere Sünde“
    Das darf die RKK auch so sehen – Religionen dürfen sowas dürfen. Naturbeobachter sehen anderes. Und auch die RKK bemüht ja immer wieder die Natur, bzw. das Naturrecht. Daß sie dabei – nunja – ‚Privationen‘, wie Homosexualität als ’schweres Schicksal‘ darstellt, ist sicher gut gemeint..
    Ich halte diese ‚Ausrichtungen‘ (erfahrunsgemäß, auch bei mir eindeutige RKK-konforme Orientierung) für eine recht stabile Angelegenheit und erwarte deswegen in keinster Weise Schutz derselben von Außen. Sie halten einen solchen ‚Schutz vor Ansteckung‘ hingegen für erforderlich? Berichten/beichten Sie!

  3. avatar

    APo: ‚Ach so, blonder Hans, Renegat und Konvertit. Das erklärt Vieles.‘

    … nix da. Nix Renegat. Den Sozialismus ablehnen, hat was mit gesunden Menschenverstand zu tun. Das konnte ich schon als Kind.

    … Konvertit, geht auch nicht, von was soll ich denn konvertiert sein? … ich bin ja von Eltern und Staat a-theistisch erzogen. Ich betrachte meinen Weg zum Glauben als Amazing Grace. Wie es geschrieben steht in Lukas 12: 51
    … meine Eltern und meine (doofe) Schwester, sind A-Theisten. So ist das.

  4. avatar

    @KJN

    … gegen Chancengleichheit, Gleichberechtigung, wo und wann auch immer, habe ich mich nie ausgesprochen. Im Gegenteil. Deswegen muss aber nicht dem Inuit ein Kühlschrank oder dem Afrikaner ein Solarium verkauft werden.

    Wie schon mal geschrieben, bin ich a-theistisch von meinen Eltern und vom Staat erzogen worden und war dementsprechend auch eine ganze Weile, bis ins Erwachsenenalter hinein, ‚Hardcore-A-Theist‘.

    Trotzdem war schon damals meine ‚Einstellung‘ haargenau so, wie es die rkK sieht:

    ‚Homosexualität ist eine schwere Sünde und etwas in sich Schlechtes. Sie verstößt gegen das natürliche Gesetz, denn die Weitergabe des Lebens bleibt beim Geschlechtsakt ausgeschlossen. Homosexuelle Partnerschaften können daher niemals anerkannt werden.

    Jedoch ist einem homosexuell veranlagten Menschen mit Achtung, Mitleid und Takt zu begegnen.‘
    (KKK 2357 und 2358)

    (Falls sich jemand am Mitleid stört, das kann meinetwegen gestrichen werden.)

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