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Russland, nicht die Nato, ist das Problem

Es gibt zwei Interpretationen der gegenwärtigen Krise zwischen Russland und der Nato. Sie schließen einander aus, und die Wahrheit befindet sich auch nicht in der Mitte.

1. Russland unter Wladimir Putin will die geopolitische Rolle der Sowjetunion und des Zarenreichs wieder einnehmen. Da Russland nicht – wie die USA, China oder die EU – über eine nennenswerte wirtschaftliche Potenz verfügt, muss es hauptsächlich machtpolitisch – letztlich militärisch – agieren, um seine imperialen Ambitionen zu realisieren.
2. Die Nato als militärischer Arm des US-Imperialismus und die EU als wirtschaftspolitische Speerspitze des westlichen Kapitalismus verfolgen eine Politik der Einkreisung und Unterminierung Russlands durch die Erweiterungspolitik der Nato und der EU und durch das Anstiften von Revolten in Ländern wie dem Kosovo, Georgien und der Ukraine, mit dem Ziel, diese Länder ebenfalls in den Einflussbereich der EU und der Nato zu bringen. Projekte wie die deutsche „Energiewende“, „Fracking“ in den USA oder die Invasion des Irak sollen den Westen unabhängig von russischem Öl und Gas machen und Russlands Isolation vorantreiben. Dagegen muss sich Russland wehren.

Nun soll sofort konzediert werden, dass sich die Nato und die EU erweitert haben und sich weiter erweitern werden. Die EU verhandelt ja gegenwärtig mit Serbien und der Türkei über eine Mitgliedschaft, und auch wenn es nicht so aussieht, als würde die Türkei die Mitgliedschaftsbedingungen erfüllen, ist es ja bereits Nato-Mitglied. Mittelfristig soll der ganze Balkan zur EU gehören; die Tür für europäische Länder wie Moldawien und die Ukraine wird ausdrücklich offen gehalten. In einer Art sich selbst erfüllender Prophezeiung haben die jüngsten Aktionen Russlands dazu geführt, dass die EU-Mitglieder Schweden und Finnland jetzt auch Interesse an einer Nato-Mitgliedschaft zweigen.
Georgien, dessen nördliche Provinzen von Russland besetzt sind, würde lieber heute als morgen beiden Organisationen beitreten, die gewählte Führung der Ukraine – drücken wir es so aus – auch. Wenn das bisher nicht geschehen ist, so deshalb, weil es auf westlicher Seite Bedenken hinsichtlich der demokratischen Reife und der Stabilität beider Länder gibt. 2008 hat Angela Merkel die von George W. Bush befürwortete Aufnahme beider Länder in die Nato verhindert. Man kann das angesichts der jetzigen Ereignisse nachträglich für klug – wir wären nach der russischen Annexion der Krim und der russischen Operationen in der Ostukraine längst im Krieg mit Russland – oder kurzsichtig halten – Russland hätte diese Annexion und Einmischung  nicht gewagt, wenn die Ukraine den Schutz der Nato genießen würde.  Das Beispiel zeigt jedoch, dass es keineswegs eine einheitliche westliche Strategie der gegen Russland gerichteten Erweiterung gab. Im Gegenteil. Merkels Ablehnung einer Nato-Mitgliedschaft für diese beiden Länder geschah mit Rücksicht auf russische Empfindlichkeiten.
Wladimir Putin macht geltend, dass die Osterweiterung der Nato einen Bruch von Zusicherungen darstellt, die von westlichen Politikern im Zuge der Verhandlungen über die deutsche Einheit gemacht worden seien. Dies ist derselbe Putin, der nach 9/11 im Zuge der Verhandlungen über eine Kooperation gegen den internationalen Terror selbst eine Mitgliedschaft Russlands in der Nato ins Gespräch brachte!
Tatsache ist, dass die vom deutschen Außenminister Dietrich Genscher und vom US-Außenminister James A. Baker mündlich geäußerten Versicherungen in keinem Vertragswerk festgehalten wurden. Als Genscher und Baker diese Äußerungen taten, existierten noch die Sowjetunion und der Warschauer Pakt. Der Zerfall der UdSSR und ihres Kolonialsystems konnten Genscher und Baker ebenso wenig vorhersehen wie sie den Drang der aus den Ketten dieses Systems befreiten Nationalstaaten Ost- und Mitteleuropas in die Nato vorhersehen konnten. Nach dem – auch von der UdSSR unterschriebenen – Abkommen von Helsinki (1975) hatten diese Länder das Recht, die Zugehörigkeit zu einem Bündnis frei zu wählen. Als aus diesem rein theoretischen Recht eine praktische Möglichkeit wurde, wählten die meisten Staaten die Nato. Was hätte der Westen tun sollen?
Nun, zunächst hat er zehn Jahre gezögert. Polen, Tschechien und Ungarn wurden erst 1999 in die Nato aufgenommen. Die nächste Erweiterungsrunde fand erst 2002 statt. Eine aggressive Erweiterung sieht anders aus.
Zweitens hat die Nato vorab – 1996 –  erklärt, dass sie im Falle einer Erweiterung weder Atomwaffen noch größere Kampfeinheiten oder entsprechende Infrastruktur auf dem Boden der neuen Mitglieder stationieren würde. Daran hat sie sich auch gehalten, auch wenn die Polen und die baltischen Staaten darüber unglücklich waren und sind. Eine aggressive Erweiterung sieht anders aus.
Drittens hat sich die Nato bemüht, eine Sicherheitspartnerschaft mit Russland herzustellen mittels des Nato-Russland-Gründungsakts und des Nato-Russland-Rats. Russland hat den Gründungsakt unterschrieben, der das Prinzip der Nato-Osterweiterung unter den genannten Bedingungen explizit erwähnt, und ist dem Rat beigetreten, ohne gegen die Erweiterung zu protestieren. Wie gesagt, Putin hat selbst die Idee einer russischen Mitgliedschaft ins Spiel gebracht. Eine aggressive antirussische Erweiterung sieht anders aus.

Die von einigen westlichen Politikwissenschaftlern wie etwa John J. Mearsheimer befürwortete Alternative lautete, auf die Auflösung des Warschauer Pakts mit der Auflösung oder teilweisen Auflösung der Nato zu antworten und den Frieden in Europa durch eine amerikanisch moderierte Politik des Gleichgewichts zwischen den europäischen Nationalstaaten zu erhalten. Dieses Gleichgewicht sollte auch atomar abgesichert werden, so Mearsheimer 1993, etwa indem die Ukraine Atommacht bliebe und Deutschland Atommacht würde. Ich überlasse es der Fantasie der LeserInnen, sich auszumalen, wie es unter solchen Bedingungen heute um die Einheit, Freiheit und vor allem Sicherheit Europas bestellt wäre.
Nun, man ging einen anderen Weg. Die Nato blieb erhalten und wurde erweitert, was für Deutschlands östliche Nachbarn bedeutete, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: „Keeping the Germans down and the Russians out“, wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Das Problem der bündnisfreien Atommacht Ukraine wurde mit dem Abkommen von 1994 gelöst, in dem die Ukraine auf Atomwaffen verzichtet und die USA, Großbritannien und Russland im Gegenzug die territoriale Integrität des Landes garantieren.

Tja. So viel zu internationalen Zusagen.

Im Anschluss an diese historischen Fragen ein paar Gegenwartsfragen:

1. Wenn die Nato-Osterweiterung das Problem ist: Warum greift Putin ausgerechnet die Ukraine an: ein Land, das kein Nato-Mitglied ist? Welches Signal sendet dieser Angriff den Noch-nicht-Nato-Mitgliedern? Draußen bleiben und wie die Ukraine gegebenenfalls im Regen stehen – oder schnellstmöglich Mitglied der Nato werden?
2. Wenn die Aggressivität des Westens das Problem ist – und geben wir zu, unter George W. Bush konnte man das so sehen: Warum greift Putin jetzt an, da die USA von einem Präsidenten geführt wird, der einen „Reset“ der Beziehungen mit Russland wollte, der mit Russland in Syrien kooperiert, der mit Russlands Freunden in Teheran verhandelt, der die US-Präsenz im Irak und in Afghanistan beenden wollte und der insgesamt als der außenpolitisch passivste Präsident seit Jimmy Carter gilt? Ist die Aggressivität des Westens das Problem, oder nicht vielmehr dessen Schwäche?
3. Welche Botschaft sendet Putins Annexion der Krim an Diktatoren wie jene in Teheran und Pjöngjang, und an Möchtegern-Diktatoren und Terroristen anderswo in der Welt? Wenn du eine Atommacht bist, kannst du dir alles erlauben. Als Saddam Hussein Kuwait annektierte, und zwar mit einer Begründung, die nicht fadenscheiniger war als jene Putins für die Annexion der Krim, wurde er militärisch davongejagt. Mit Atomwaffenbesitzer Putin will man keinen Krieg, wird man also verhandeln. Als Saddam zwölf Jahre später von den USA gestürzt wurden, weil er – angeblich oder wirklich – an Massenvernichtungswaffen arbeitete, beschloss auch Muammar al-Gaddafi, sein heimliches Atomwaffenprogramm vorsichtshalber bei den Amerikanern abzuliefern. Einige Jahre später wurde sein Regime vom Westen gestürzt. Hätte man das gemacht, wenn man geglaubt hätte, Gaddafi könne Neapel mit Giftgas einnebeln oder eine Atombombe auf Malta detonieren lassen?

Die Beispiele zeigen, dass auch die USA und ihre Verbündeten (oder einige von ihnen) – im Falle Saddams und Gaddafis beseelt von der eigenen Freiheitsrhetorik, angetrieben von Hilferufen der Unterdrückten und Exilanten, gelockt auch von der Aussicht auf Öl – das internationale System beschädigt und den Leuten in Teheran, die gern am atomaren Drücker sitzen würden (von den Leuten in Pjöngjang und Peking, Islamabad und Delhi ganz zu schweigen, die bereits am Drücker sitzen) einigen Grund gegeben haben, bei der nuklearen Option zu bleiben.
Immerhin bemühte man sich, erstens, gegen Saddam (einmal mit, einmal ohne Erfolg) und gegen Gaddafi (mit Erfolg) ein Mandat der Vereinten Nationen für Strafaktionen zu bekommen. Es war ja auch nicht so, zweitens, dass die USA – wie Putin im Falle der Ukraine – irgendwelche Garantien gegenüber dem Irak oder Libyen übernommen hätten. Drittens kann man kaum die gegenwärtige, demokratisch legitimierte, Führung in Kiew mit den damaligen Diktatoren in Bagdad oder Tripolis vergleichen. Man musste nicht die Wirklichkeit verdrehen, um  Saddam und Gaddafi als ‚Schlächter der eigenen Bevölkerung darzustellen. Die Rechtfertigung der russischen Aggression erfordert aber eine solche propagandistische Verkehrung der Wirklichkeit, dass sie schon deshalb den Frieden in ganz Europa gefährdet. Wäre die ukrainische Regierung nämlich die faschistische Bestie, wäre der Westen die aggressive, unersättliche imperiale Macht, als die sie von der Putin’schen Propaganda dargestellt wird, dann müsste sich Russland für einen Heiligen Krieg gegen uns wappnen, der eigentlich erst beginnen würde, wenn Putin seine Ziele in der Ukraine erreicht hat.

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66 Gedanken zu “Russland, nicht die Nato, ist das Problem;”

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    Putin, wenn das Timing von ihm ausging hat eine Situation genutzt in der die EU, USA eigentlich mit sich selbst genug beschäftigt waren, so dass er bis es zu Reaktionen kam, vollendete Tatsachen schaffen konnte. Jetzt bei anhaltender Isolation zum Westen wird die Situation vermutlich vorerst noch lange andauern, da keine Seite für Zugeständnisse bereit ist.

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    @ Stevanovic

    Ist das in der Ukraine ein Kampf zwischen demokratischen westlichen Werten und moskowitischer Reaktion? Hier eine Betrachtung zum segensreichen Eingreifen des Westens in der Ukraine:

    http://www.heise.de/tp/artikel/41/41926/1.html

    Schlechte Oligarchen – gute Oligarchen:

    „Am Ende hat das ukrainische Volk diesen Mann demokratisch legitimiert, was auch mit der Medienmacht Poroschenkos und anderer Milliardäre zu tun hat. Gebraucht hätten die Menschen aber wirkliche Reformer, die den Konflikt im Osten sofort befriedet und den Wohlstand des Landes gerechter verteilt hätten. Stattdessen haben sie unter dem Beifall des Westens mit einem neoliberalen Kriegsgewinnler den Bock zum Gärtner gemacht.“

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    Exzellente Zusammenfassung von Herzinger mit Brücke zwischen Russland und Arabien: Schlüssel der Erste Weltkrieg und sein Ende:
    Zum Übergang zur Demokratie fehlt es den arabischen Gesellschaften an kraftvollen Akteuren und zivilgesellschaftlichen Strukturen, ein Zurück zum alten, morsch gewordenen Despotismus scheidet aber ebenso aus. In diesem Vakuum können sich ethnisch-religiöser Extremismus und mörderischer Dschihadismus enthemmt austoben.
    http://www.welt.de/debatte/kom.....richt.html

    Da die alte Ordnung in rasendem Tempo und unter unfassbaren Gewaltexzessen einstürzt, aber weder eine neue Ordnungsidee noch eine Macht in Sicht ist, die für den Übergang in eine neue Ordnung die Verantwortung übernehmen kann oder will, erscheinen die Zukunftsaussichten der Region extrem düster. Ähnelt doch vieles an den dortigen Konstellationen auf erschreckende Weise denen des Dreißigjährigen Krieges im Europa des 17. Jahrhunderts.

  4. avatar

    ot
    Vielleicht wird dort die Erklärung geliefert, warum es mehr antiamerikanische Verschwörungstheorien gibt: http://nichtidentisches.de/2014/09/schwarze-ernte/
    Am Ende gibt es den, wie ich finde, interessanten Vorschlag für „eine internationale, hochmobile, militärisch, diplomatisch und intellektuell gut ausgerüstete Counterinsurgency gegen jegliche islamistischen Gruppierungen, die sich nicht auf das Niveau der CIA und faschisierter Folterknechte herablässt.“

  5. avatar

    SS-Opis im Einsatz.

    Vielleicht ist das ja auch wie die Todesrune gemeint.

    Was die Separatisten nicht besser macht.

    Und Amnesty wirft allen Konfliktparteien Kriegsverbrechen vor

    http://www.faz.net/aktuell/pol.....ageIndex_2

    Ich weiß leider nicht was Gegenkritik geschrieben hat, der Account ist gesperrt. Aber fällt das auch unter faschistisch-antideutsche Hetze gegen ukrainische Demokraten?

    https://twitter.com/APosener/status/478195949224067072
    https://twitter.com/APosener/status/478198842735988738

    Sa sdorowje

  6. avatar

    @Stevanovic

    „Yep. Zuerst sollten wir uns selbst ernst nehmen.“

    Stimme Ihnen 100pro zu. Was meinen Sie zu diesem Vorschlag des Legatum Institute, Institute of Modern Russia „Looting Ukraine: How East and West Teamed up to Steal a Country“ (http://www.li.com/docs/default.....a4_web.pdf)

    „Anyone who wishes to see Ukraine join Europe, rather than slide back into Moscow’s
    embrace, must then be prepared to help Ukraine break its post-Soviet habits.
    The most effective form of help would be to block the institutional pipelines
    that sucked money out of Ukraine and pumped it westwards. This would deprive
    corrupt Ukrainian officials of the ability to hide their ill-gotten gains, strengthen
    the state, and empower its citizens.
    Western money-laundering and offshore operations supported Yanukovich and
    continue to support Putin, and thus maintain regimes inimical to the values that
    Western governments profess to hold. Allowing former Soviet kleptocrats to steal
    from their own peoples not only strengthens them individually but, by allowing them
    to fund allies in the West, weakens us in turn. Tackling the offshore structures that
    have facilitated the theft of the people’s property in the former Soviet Union is,
    therefore, in everyone’s interests—except, that is, those of the thieves and their fences.“

    Und was halten Sie davon?

    Ukraine Can’t Afford the IMF’s ‚Shock Therapy‘
    (http://www.foreignpolicy.com/a.....ck_therapy)

    Liegt das Burn-out des Westens nicht darin, dass er finanzpolitisch/ökonomisch/ideell ein Untoter ist, der seinen schwächsten Objekten der Begierde das bischen Blut aufsaugt?

    „Ukraine’s government is in the middle of implementing a set of stringent economic reforms agreed to in April with the International Monetary Fund (IMF) in exchange for a $17 billion bailout. Although Kiev has been commended by the IMF for a „bold economic program,“ the loan’s terms, combined with Ukraine’s political and economic crisis, are a recipe for disaster. “

    „Die „Rote Linie“ ist die Grenze, hinter der der Kreml seine Vasallen nach Belieben sortieren und seine Nachbarn gestalten kann.“

    Was meinen Sie zur Monroe-Doktrin?

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    @Stevanovic
    Kann mich Ihrer Einschätzung voll anschließen. Das Rad kann dennoch nicht mehr zurückgedreht werden. Die Krim ist weg, die Ostukraine vermutlich auch. Jetzt eine Aufrechnung wegen Völkerrechtsverletzungen von Staaten vorzunehmen bringt auch nichts ( siehe treffender Beitrag von Max Well). Die Nato ist stillschweigend gegen Osten gerückt. Jetzt ist Schluss damit, so denke ich. Die Verhandlungslösung wird kommen! Nur wann? Hoffentlich bald!

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