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Hans Mommsen liest „Das Amt und die Vergangenheit“

Wenn Historiker die Werke ihrer Kollegen rezensieren, ist selten mit ungeteiltem Lob zu rechnen. Insofern überrascht es nicht, wenn der Historiker Hans Mommsen dem Bericht der unabhängigen Historikerkommission über das Auswärtige Amt im Dritten Reich und in der Bundesrepublik bescheinigt, es biete „keine neuen Einsichten“.

http://www.fr-online.de/kultur/literatur/das-ganze-ausmass-der-verstrickung/-/1472266/4842784/-/view/asFirstTeaser/-/index.html

Im Großen und Ganzen läuft das Positive, das Mommsen über „Das Amt und die Vergangenheit“ zu sagen hat, auf das vergiftete Lob hinaus, den Historikern „und ihren zahlreichen Mitarbeitern“ sei eine beeindruckende Fleißesleistung gelungen.

Was Mommsen aber entschieden abwehrt, ist die „mit vereinzelten Enthüllungsdokumenten“ belegte Erkenntnis, dass viele Diplomaten mit Eifer an der „Endlösung“ der Judenfrage arbeiteten. Mommsen hingegen bestreitet, dass „das ‚Endziel’ und dessen Erreichung von vornherein in den Köpfen vorhanden war“. Auf Deutsch und unverquast: dass die Diplomaten von Anfang an auf Mord aus waren.

Nun, was „in den Köpfen“ war, können wir nicht wissen. Was in den Dokumenten steht, belegt das Buch. Etwa auf S.173f., wo das AA in einem Schreiben an alle diplomatischen und konsularischen Vertretungen im Ausland vom 25. Januar 1939, also acht Monate vor Kriegsausbruch, davon spricht, dass es nicht nur darum gehe, die Juden „als Krankheit am Volkskörper“ aus Deutschland zu vertreiben, sondern „eine globale antisemitische Welle zu fördern“, um eine „in der Zukunft liegende internationale Lösung der Judenfrage“ vorzubereiten. Ob damit die Einsperrung in Reservate – wo sie durch Armut und Krankheit dezimiert worden wären – oder der direkte Mord gemeint – und verstanden – war, können wir nicht sagen, da hat Mommsen Recht, und auch die Autoren von „Das Amt…“ lassen die Frage offen. Aber wenn schon vor dem Krieg die Sprache bewusst vage gehalten wurde, so darf man mit den Autoren annehmen, dass die radikalste Methode der „Heilung“ dieser „Krankheit“ zumindest mitgedacht werden konnte und wohl auch sollte. Angesichts des Ausgangs der Geschichte liegt die Beweislast eindeutig bei jenen, die einer solchen Interpretation nicht zustimmen.

Was Mommsen als Mitbegründer der „funktionalistischen“ Schule der Forschung über den NS-Staat besonders missbehagt, ist die Tatsache, dass die von Joschka Fischer eingesetzte Historikerkommission aus „Intentionalisten“ zusammengesetzt wurde; aus Historikern also, die in der Geschichte des Dritten Reichs vor allem das Ausagieren eines Programms sehen, in dessen Zentrum die angekündigte  „Vernichtung des Weltjudentums“ stand. Mommsens Missbehagen liest sich so:

„Die Preisgabe einer genetischen Perspektive, die die praktische Implementierung des Holocaust als Ergebnis eines sich schrittweise vollziehenden Prozesses begreift, verschließt die Sicht auf ein Sich-Herausmendeln der „Endlösung“ im Halbdunkel öffentlicher Geheimhaltung.“

Ein nicht nur in seiner sprachlichen Gequältheit verräterischer Satz. Und ich meine nicht in erster Linie das Oxymoron „öffentlicher Geheimhaltung“. Nein, die „praktische Implementierung des Holocaust“ – sprich das Erschlagen, Erschießen, Erhängen, Vergasen von Millionen Männern, Frauen und Kindern – begreift Mommsen als „sich schrittweise vollziehenden Prozess“. Seit wann aber „vollziehen sich Prozesse“ selbst, ohne vollziehendes Subjekt, außerhalb der Chemie und Biologie? Tatsächlich bringt Mommsen denn auch sogleich einen biologischen Begriff ins Spiel, wenn er von einem „Sich-Herausmendeln der ‚Endlösung’“ spricht. Die Pläne zur Ermordung aller Juden werden also nicht von Menschen mit Namen und Gesichtern, von Hitler über Göring, Himmler, Heydrich bis zu Eichmann und Co. ausgearbeitet; sie „mendeln sich heraus“, wie die Farben von Erbsenblüten bei der Kreuzung. (Das ist allerdings ein Bild, das genau das Gegenteil vom Intendierten sagt; denn es „mendelt sich nur heraus“, was genetisch von vornherein angelegt war.) Und nachdem „sich“ der Beschluss zum Völkermord derart ohne Zutun eines Subjekts „herausgemendelt“ hat, „vollzieht sich“ dann „der Prozess“.

Selten wurde die exkulpatorische Funktion der – insofern richtig genannten – „funktionalistischen“ Geschichtsschreibung so deutlich wie in dieser kleinen Passage. „Das Amt und die Vergangenheit“ hingegen zeigt, dass „Prozesse“ wie die Vorbereitung, Durchführung und Rechtfertigung eines Völkermords nur dann „sich vollziehen“ können, wenn die Vollstrecker willig sind. Eine Wahrheit, die immer wieder verdrängt wird, so dass ihre periodische Wiederaufdeckung immer wieder als Schock wirkt. Wer, wie Mommsen, diese Wirkung durch den Verweis abmildern will, die Tatsachen seien doch bekannt, die Erkenntnisse nicht neu, die „sich vollziehenden Prozesse“ aber zu wenig bedacht, der hindert, ob er das beabsichtigt  oder selbst nur willenloser Teil einer „sich herausmendelnden“ Strategie der Entschuldung ist, dass der Schock heilsam wirken kann.

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30 Gedanken zu “Hans Mommsen liest „Das Amt und die Vergangenheit“;”

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    Abseits allen wort- und geistreichen Geplänkels bleibt der grundlegende Gegensatz: Wird hier Geschichte mit wissenschaftlich redlicher Methodik „sine ira et studio“ betrieben (so Mommsens Maßstab und Forderung), oder ideologisiert zur Feststellung eines apriori gefällten Verdiktes? Die Bezeichnung des gesamten Amtes als „Verbrecherische Organisation“ im Sinne eines autochtonen, nun zeitlos etablierten Bewußtseins-Nürnbergs belegt zweifelsfrei letztere Zielrichtung. Dies ist legitim, jedoch wissenschaftlich (!) fragwürdig und zwar unabhängig von der Tatsache,woher womöglicher Applaus aufbrandet.

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    @Posener

    Aber, aber, die ins Deutsche Reich kommenden Russen waren ja vielfach ethnische Deutsch, also vor allem die baltendeutschen Eliten des zaristischen Reiches sind da zu nennen, sodass das antideutsche Weltbild deswegen nicht wesentlich angetastet werden muss…

    Es ging mir ja darum, was sich im Deutschen Reich nach dem 1. Weltkrieg verändert hat, und ich habe daher eine Trikausalität für das Erstarken des Nationalsozialismus in Deutschland genannt, die in der Geschichtswissenschaft vertreten wird.

    Die Protokolle der Weisen von Zion sind erst nach dem 1. Weltkrieg aus Russland nach Deutschland gekommen.

    Explizite Vergasungsphantasien gegen Juden sind allgemein von Kaiser Wilhelm 1919, also nach seinem Sturz, bekannt. Auch in den kaiserlichen Militäreliten gab es wie in den zaristischen Eliten eine Vorstellung, dass die Juden irgendwie am Ast der überlieferten Staatsordnung sägen würden bzw. gesägt hätten. Kellog überbetont wohl etwas den Beitrag aus Russland, aber es gab ihn, und er hat das rechts-revanchistische Lager in Deutschland gestärkt, auch finanziell.

    Den Holocaust daraufhin zurückzuführen, dass die Deutschen ein so barbarisches Volk seien, ist wohl als rassistisches Erklärungsmuster zu bezeichnen. Zumal „Rassismus“ heute so vieles gekennzeichnet wird. Europaweit gab es nocheinmal so viele Holocausbeteiligte wie deutsche.

    Dass sozialwissenschaftlich orientierte Historiker das Prozesshafte in der Geschichte betonen, kann doch nichts an der rechtlichen oder moralischen Beurteilung von Genozidbeteiligten ändern.

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    Jean Ziegler schrieb: @Alt 68er: Zu Ihrer Frage: “Wer um Himmels willen soll von Mommsen und seinesgleichen “entlastet” werden?” Antwort: alle.

    Alan Posener schrieb: @ Milchmädchen: Wie sagt Goebbels (es ist doch Goebbels?) zum Juden in Dany Levis Hitler-Film: “Sie dürfen den Holocaust nicht persönlich nehmen.” Wer es dennoch tut, wird seine Gründe dafür haben, aber es sind seine, nicht meine.

    Ach so, jetzt hab ich es kapiert. So wollen Sie alle entlasten :D.

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    @Milchmädchen: Sie scherzen. Aber wenn Sie Ihre Handlungen (ausschließlich) als Ergebnis eines sich ausmendelnden Prozesses verstünden, wäre das eine Entlastung für Sie. Es gäbe ja keine Alternativen mehr. Abgesehen davon, dass Sie das Menschenbild einer Marionette hätten, was dann evt. wieder belastend werden könnte.

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    @EJ
    Entschuldigen Sie, es ist Verzweiflung. Ich möchte einfach verstehen und dafür gute Argumente lesen, was denn und warum man es absolut, ohne „Relativierung“ stehen lassen muss. Die These Böhmes? Hitler und alle Opis (und Omis) von Amt bis Zyklon B haben im Gleichklang der Herzen, beginnend 1922 oder noch früher, sich mehr oder weniger heimlich verabredet und intendiert, den Juden, sobald die Gelegenheit günstig ist, den Garaus zu machen? Entschuldigen Sie nochmals, wenn dies wie eine Karikatur wirkt. Damit Sie mich richtig verstehen, ich hätte es schon barbarisch genug gefunden, wenn der Madagaskar-Plan umgesetzt worden wäre. Dass das Intentionale qua Ideengeber, Planer und Ausführer (Vorstellung und Wille) ein Rolle spielt, habe ich nie bestritten, und ich nehme an, dass das auch von Mommsen nicht bestritten wird.

    Ich will niemanden platt machen, will mir jedoch auch kein Glaubensbekenntnis und keine Schuldformel oktroyieren lassen. Ich möchte schon auf die Nuancen, die fördernden und hemmenden Einflüsse, schauen, um wenigstens einen annähernden Begriff von der Sache zu bekommen. Was ist daran verwerflich?

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    Jean Ziegler: Entscheidungsfreihet

    Wer hatte nach ihrer Meinung im auswärtigen Amt von 1933 bis 1945 welche Entscheidungsfreiheit?

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    @ Roland Ziegler: Eben.
    @ Milchmädchen: Wie sagt Goebbels (es ist doch Goebbels?) zum Juden in Dany Levis Hitler-Film: „Sie dürfen den Holocaust nicht persönlich nehmen.“ Wer es dennoch tut, wird seine Gründe dafür haben, aber es sind seine, nicht meine.

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    Jean Ziegler schrieb: @Alt 68er: Zu Ihrer Frage: “Wer um Himmels willen soll von Mommsen und seinesgleichen “entlastet” werden?” Antwort: alle.

    Wie kann denn die Behauptung von Mommsen mich entlasten?

    @Alle: Was legt man denn mir jetzt überhaupt zur Last?

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    @ Alt 68er Ich denke, man sollte auf Einwände, die einen ärgern, nicht auf pawlowsche Weise reagieren.

    Na, da müssten Sie sich aber ’ne Menge von Ihrem deutschen Relativierungs-Reflex abgewöhnen.

    Wollen Sie doch gar nicht. Wo Sie doch beinahe schon alles platt haben.

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    @Alt 68er: Zu Ihrer Frage: „Wer um Himmels willen soll von Mommsen und seinesgleichen “entlastet” werden?“ Antwort: alle. Das ergibt sich aus dem von Alan Posener analysierten Zitat.

    Es geht hierbei (soweit ich das verstehe) um zwei (einander ergänzende) Möglichkeiten, historische Ereignisse zu betrachten.

    Möglichkeit 1: als „Prozess“, der „sich ereignet“ und bei dem sich am Ende etwas „herausmendelt“. In dieser Beschreibung gibt es keine Verursachung durch Täter, Vorsatz, Motiv (bzw. wenn es sie doch gibt, wird sie irgendwie hintendran geflickt). Die Betrachtung des „Prozesses“ führt zu einem Verschwinden von Begriffen wie Verantwortung, Schuld, Verdienst, Entscheidungsfreiheit etc. und zu einer deterministischen Kette einander verursachenden Ereignisse. Anders gesagt: Die Dinge werden zum Selbstläufer.

    Möglichkeit 2: Man betrachtet das Ereignis als das Produkt handelnder Menschen, die aus ihrer Intention heraus handeln. In dieser Betrachtung lässt die Frage der Verantwortung stellen, ja gerät erst überhaupt in den Blick. Gleichzeitig ist Intentionalität ein gewöhnliches, naturwissenschaftlich begründetes Faktum in der Biologie des Menschen. So wie z. B. die Verdauung. Man darf sie also nicht ausblenden. Für die Beurteilung dvon Schuldfragen kommt ihr sogar eine fundamentale Bedeutung zu.

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    Alan Posener schrieb: Sie führen die Reisekostenabrechnung gerade nicht als Indiz gegen eine Person an, sondern als Indiz dafür, dass selbst in untergeordneten Stellen des Amts (in diesem Fall der für Reisekostenerstattung zuständigen Stelle) die Verwicklung des AA in die Judenvernichtung bekannt sein musste.

    1951 war man also so dumm, daß man aus der Existenz der Reisekostenabrechnung mit Reisezweck „Liquidation von Juden“ nicht auf die Kenntnis dieser Tatsache durch die Reiskostenstelle geschlossen hätte. Oder ist man 2010 so töricht, obiges als sensationelles Ergebnis darzustellen?

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    Mein Gott, Alan, was ist mit Dir los? Wenn man Deine Erwiderung auf Scrutograph auf seine Spitze treibt, darf es keine Interdependenzen geben, darf es für den Nazismus nur ein einziges Erklärungsschema geben und ausschließlich abgeleitet werden aus einem „Deutschtum“ oder „deutschen Wesen“. Soweit ich sehe, hat Scrutograph nirgends behauptet, dass die Russen schuld sind und die Deutschen „so etwas“ nicht tun. Nach Freud ist jedes Symptom, gar jedes Verhalten überdeterminiert, ist aus unterschiedlichen Quellen beeinflusst. So sicherlich auch der Nazismus und seine Judaeophobie, wobei die Gestalt des „jüdischen Bolschewisten“ in den Schilderungen, wie sie russische Emigranten lieferten, keine geringe Rolle spielte. Worauf Scrutograph hinweist, hat bereits Ernst Nolte (oder nur wenig anders, Alexander Solschenizyn) ausgeführt, dann hat man ihm sein Prius als latentes und eigentlich „intentiertes“ Causa um die Ohren geschlagen.
    Ich finde, das hier ist eine Gespensterdiskussion. Wer um Himmels willen soll von Mommsen und seinesgleichen „entlastet“ werden? Doch nicht Hitler, die SS, die Partei, die Täter und Mittäter? Wie weit geht Deine Hypothese? Soweit wie Christian Böhmes „Die Deutschen – ein barbarisches Volk. Entlastung nirgends“? Solange Du nicht klar Ross und Reiter nennst, sondern raunst, tappen wir im Dunkeln und können uns nur an Harald Schmidts Nazimeter orientieren: Autobahn, bim, Mutterschaft, bam, Gasherd, bim, bam, Bayreuth, tatataratata, Deutschland …. Jetzt erzählt uns Dein Freund-Feind Broder auf Deutschland-Safari, dass der Satz „Arbeit macht frei“ ja eigentlich ein wunderbarer Satz sei, wenn ihn nur die Nazis nicht benutzt hätten. Was haben die Nazis nicht angefasst? Andersrum, in welcher Institution waren keine Nazis bzw. Kollaborateure und Quislinge anzutreffen? In Deutschland, im besetzten Europa? Also, so schwach war die Nazi-Diktatur nicht (oder darf man nur eine Diktatur „stark“ nennen, die ausschließlich mit Gewalt und Repression herrscht?).
    Ich glaube, je monokausaler man die Sache mit den Nazis sieht, desto schwächer ist die Hypothese.
    Ich denke, man sollte auf Einwände, die einen ärgern, nicht auf pawlowsche Weise reagieren.

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    Alan Posener schrieb: Die Autoren des Buchs haben (anders als Herr Schirrmacher, gegen den sich Ihr Groll richten sollte) nicht behauptet, neues Material gegen Rademacher in der Hand zu haben.

    Die Medien und nicht nur Schirrmacher haben da aber ganz anders berichtet, siehe z.B. hier:

    http://www.maerkischeallgemein.....u-die.html

    Was war eigentlich nicht schon vor dieser Studie über die Beteiligung des AA an NS-Verbrechen bekannt? Was rechtfertigt eigentlich diese mit grossem Aplomb vorgetragenen Krokodilstränen von Fischer, Steinmeier und Westerwelle und bewahrt unser Land davor, am zynisch-scheinheiligen Theater der 3 Herren bei diesem sensiblen Thema Schaden genommen zu haben? Und vor allem: Was kann zur Entlastung dieser 3 Herren vorgebracht werden, daß sie sich jahrzehntelang so geschichtsvergessen gegeben haben, obwohl schon in den 50’er Jahren Studien vorlagen, die die totale Einbindung der AA in den NS-Machtapparat belegten (siehe z.B. Rademacher)? Insbesondere Herr Fischer hat nach eigener Aussage geschichtsvergessener agiert, als die von ihm so geschmähten Deutschen der 50’er Jahre.

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    @ Milchmädchen: Das ist nicht das einzige Hitler-Zitat,nur ein besonders krasses, das Hitlers „Intentionalität“ belegen soll. (Also das „was in seinem Kopf war“.) Warum er diese Intention nicht sofort nach der Machtübergabe umgesetzt hat, dafür gibt es einleuchtende taktische Gründe, nachzulesen etwa bei Saul Friedländer, „Das Dritte Reich und die Juden“ – oder oben bei EJ. Die Autoren des Buchs haben (anders als Herr Schirrmacher, gegen den sich Ihr Groll richten sollte) nicht behauptet, neues Material gegen Rademacher in der Hand zu haben. Sie führen die Reisekostenabrechnung gerade nicht als Indiz gegen eine Person an, sondern als Indiz dafür, dass selbst in untergeordneten Stellen des Amts (in diesem Fall der für Reisekostenerstattung zuständigen Stelle) die Verwicklung des AA in die Judenvernichtung bekannt sein musste.
    @ Alt 68er: Goldhagen bedarf m.e. keiner „Rehabilitierung“. Aber es stimmt, dass neuere Arbeiten, etwa Raphael Gross‘ wunderbare Essays zur Moral des Nationalsozialismus, auf Goldhagens Arbeiten rekurieren, ohne dessen Thesen in toto zu übernehmen. Raul Hilbergs Auffassung könnte ich wohl unterschreiben, weil er hier zwei Dinge zusammenbringt: die Erkenntnis, dass es sich bim NS-Staat um eine „schwache Diktatur“ handelte, und die Tatsache, dass sie auch deshalb so gut funktionierte, weil so viele untere Chargen „dem Führer zuarbeiteten“ – nicht aus Angst, sondern aus Überzeugung. Das festzustellen, ist etwas anderes als von „sich vollziehenden Prozessen“ zu raunen.

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    @EJ
    Entlastet die Analyse, die Raul Hilberg gegeben hat? Ich glaube nicht. M.E. ist dieser Ablauf, diese Maschinerie für uns noch bestürzender und trostloser als das intentionale Szenario; hier waren Täter, Mittäter, Helferhelfer verwickelt und zwar unabhängig davon, ob sie nun „exterminatorische Antisemiten“ oder nicht waren. Und keiner, der dabei beteiligt war, wird durch diese Analyse entlastet. Allerdings auch keiner, der nicht beteiligt war, belastet. An anderer Stelle auf diesem Blog hat Alan Posener auf der Differenz zwischen Gesinnung und Tat insistiert, eine Differenz, die nur in totalitären Köpfen nicht gälte. Alan Posener könnte schon genauer angeben, wer seiner Meinung nach denn jetzt entlastet werden soll. Eigenartig finde ich auch, dass er die Beweislast umkehren will; wenn man schon nicht weiss, was „in den Köpfen“ vorgeht, sind alle verdächtig und haben ihre Unschuld zu beweisen.

    Es kommt ja auch immer auf den Maßstab an; wenn die Gerechten unter den Völkern der Maßstab sind, sind bis auf diese alle anderen belastet. Wenn angenommen wird, dass in einer Diktatur (und nicht nur dort, sondern auch, wie wir wissen, in Bedrohungssituationen in unserer Demokratie) die wenigsten Helden, Widerständler etc. sind, sich irgendwie arrangieren, auch wegschauen etc., könnte man eventuell etwas milder urteilen – oder sich darüber empören, dass so wenige Zivilcourage etc. zeigen.

    Sie haben recht, wenn Sie die Dehumanisierung der Mitmenschen als eine Bedingung der Schinderei und Schlächterei ausmachen. Hat sich jedoch nicht Goebbels (?) darüber beschwert, dass jeder Deutsche einen Juden vorbringen würde, der edel, hilfreich und gut sei und nicht dem Bild der Nazipropaganda entsprechen würde (aus dem Gedächtnis zitiert). Ich glaube, um die intentionale These für eine „Lehre“ fruchtbar zu machen, muss man schon mehr differenzieren, als dies Goldhagen getan hat und, wie ich vermute, Posener tut.

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    Um mal einen „neuen Gesichtspunkt“ in die Debatte zu bringen:

    Die Radikalisierung des deutschen Antisemitismus hat neben der Weltkriegsniederlage und der Weltwirtschaftskrise mit dem Eintreffen von Emigranten aus Russland zu tun, die vor den Bolschewiki flüchteten und ein wesentliches Rückgrat der frühen NS-Splitterbewegung bildeten.

    http://www.amazon.com/Russian-.....0521845122

    Im zaristischen Kaiserreich hatten sich ebenfalls eliminatorische Vorstellungen gebildet, die auf ein Aushungern der russischen Juden hinausgelaufen wären.
    Die russischen Juden sind auch am radikalsten während der Endlösung vernicht worden. Zufall?
    Kann diese Migrationswelle erklären, warum manchem Deutschen manche Erscheinungsformen des NS fremd-unberechenbar-unverständlich erschien, etwa Rosenberg mit seinem Mythus des 20.Jahrhunderts?

    Und zur Frage der Intention: Bei der Bevölkerung und den Funktionsträgern kann „Willigkeit“ ja auch durch Propaganda und Umerziehung erzeugt worden sein. Es ist nicht immer bloßer Zwang des Staates dort, Freiwilligkeit des Individuums hier die Alternative.

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    @Milchmädchen: Ihre Frage gehört zu den Tabus, über die man in unserem Land angeblich nicht reden darf!!
    Eine wirklich gute Frage!

  18. avatar

    Warum hat der Journalist Hell das Hitlerzitat aus einem Vieraugengen-Interview von 1922 nie in einer Zeitung veröffentlicht? Und warum haben die Diplomaten das nicht, wie 1922 angekündigt, sofort nach der Machtergreifung umgesetzt?

    Durch Schein-Enthüllungen wie z.B. der „zufällig“ gefundenen Reiskostenabrechnung von Rademacher, haben sich die Autoern des Buches „Das Amt“ doch unglaublich blamiert. Wegen der Rechnung musste Rademacher sich schon 1951 vor Gericht verantworten. Wer diesen Skandal von 1951 nur zufällig findet, hat bei der Arbeit so geschludert, daß er keine Neubewertung vornehmen kann. Und wer solchen Machwerken wie „Das Amt“ unkritisch auf den Leim kriecht, blamiert sich mit.

    Wer muß denn überhaupt entlastet werden? Die, die den Rademacher nach 1945 nicht aufgehängt haben?

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    Mommsen „zitiert“ (parodiert fast) eine Denk- und Redeweise, die gerade auf hohem intellektuellen Niveau, heißt: besonders auf der Linken, durchaus geläufig ist. Es ist aber keineswegs nur die Linke, die beispielweise von einem „revolutionären Prozess“ spricht. („Beispielsweise“ deswegen, weil für alle Entwicklungen, insbesondere für moderne mit hoher Eigendynamik, mutatis mutandis, ähnliches gilt. Und die heißen dann ja auch nicht zufällig z.B. „industrielle Revolution“.)

    Der revolutionäre Prozess hat sein materielles Substrat – wie sollte es anders sein? – in individuell zurechenbaren Taten. Er erschöpft sich aber keineswegs darin. Gerade auch dann, wenn er gelingt, entwickelt er ein hohes Maß an mitreißender um- und grundstürzender Eigendynamik. Die Revolution – daraus bezieht sie ihre Legitimität, ihre (nachträgliche, das Neue stiftende) Unschuld, vielleicht besser gesagt – ist „anderes“ und „mehr“ als die Summe der in ihrem Zuge begangenen Einzeltaten, sie ist ein Prozess der wesentlich sich vollzieht bzw. sich vollzogen hat.

    Auch ich sehe eine apologetische Tendenz bei Mommsen. Trotzdem ist er nicht so einfach abzubügeln. Er hat eine lange Tradition modernen kollektivistischen (Entwicklungs-)Denkens auf seiner Seite. Mit der müsste man sich erstmal gründlich auseinandersetzen, um dem nationalsozialistischen Konsens Deutschlands einerseits und dessen nachträglicher kollektiver Aufkündigung andererseits, aber auch den massenhaften Entlastungsversuchen, von denen der Mommsens nur ein besonders (ironisch) geschickter ist, auf die Schliche zu kommen.

    Politpsychophilosophisch: ES tat sich etwas in Deutschland. ES tut sich etwas in Deutschland. ES TUT SICH WAS. – Antigermanisch: Is‘ sich alles Mist! Tut sich Aufklärung not!

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    @ Alt 68er: Raul Hilberg

    Ähnliches sagt Götz Aly. Nur, was heißt das moralisch?

    Nur wenn wir unseren Nachbarn, unseren Arbeitgeber, unseren Eheparner ect. pp. vorher entsprechend „runtergedacht“ haben, lösen wir, wenn’s eng wird für uns, unsere Probleme mit Abschlachtung.

    „Herausmendeln“ will doch offensichtlich entlasten. Entlastet es?

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    Ist das eine späte Rehabilitierung Goldhagens gegen Hilberg, Mommsen etc? Wenn nein, wodurch unterscheidet sich Dein Gebrauch von „Intention“ von dem durch Goldhagen, der darin ein nationales Projekt sah, an dessen Ende wegen des bei den Deutschen vorhandenen „exterminatorischen Antisemitismus“ logisch nur die Judenvernichtung stehen konnte? „was in den Köpfen war“ und „herausmendeln“ sind ja sehr schwammige Begriffe. Was unter „herausmendeln“ verstanden werden könnte, hat Raul Hilberg so ausgedrückt

    „Aber was 1941 begann, war kein im Voraus geplanter, von einem Amt zentral organisierter Vernichtungsvorgang. Es gab keine Pläne und kein Budget für diese Vernichtungsmaßnahmen. Sie erfolgten Schritt für Schritt, einer nach dem anderen. Dies geschah daher nicht etwa durch die Ausführung eines Planes, sondern durch ein unglaubliches Zusammentreffen der Absichten, ein übereinstimmendes Gedankenlesen einer weit ausgreifenden Bürokratie.“

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    .P.: Wenn wir aber unterstellen, dass die von Hitler 1933 für den Fall des von ihm gewollten Krieges angekündigte (und dann weitgehend verwirklichte) “Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa” ernst gemeint war,

    Das mit der vernichtung stammt nicht von 1933, sondern aus Hitlers Rede im Reichstag vom 30.01.1939 (siehe z.B. Beitrag von Herrn Heuer oder auch hier http://www.holocaust-chronolog.....24-31.html
    ) Falls Sie diesen Satz schon für 1933 mit Quellen belegen können, fände ich das gut. Wenn man aber Daten willkürlich umdatiert, entgeht einem natürlich, wie sich etwas herausmendelt.

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    @ Milchmädchen: Weil man nicht durch Dokumente belegen kann, was „in den Köpfen“ war. Wenn wir aber unterstellen, dass die von Hitler 1933 für den Fall des von ihm gewollten Krieges angekündigte (und dann weitgehend verwirklichte) „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ ernst gemeint war, dass also lediglich der Zeitpunkt und die Art und Weise dieser Vernichtung kontingent waren, dann haben wir ja schon eine „Intention“, und keinen „Prozess“, nichts, was sich „herausmendelt“. Und wenn wir feststellen, dass das AA in jeder Phase der Entrechtung, Ausgrenzung, Absonderung und Ermordung der Juden führend beteiligt war, und das belegt das Buch (und das belegte schon der „Wilhlelmstraßenprozess“ in Nürnberg), so wird die Frage erlaubt sein, mit welchem Recht man hier von einem quasi unpersönlich ablaufenden, „sich vollziehenden“ Vorgang reden kann – und wessen Entlastung das dient.

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    Die personelle Kontinuität der deutschen Geschichtswissenschaft stellte keinen Sonderfall dar, sondern entsprach der von Wolfgang Zapf eingehend dargestellten Entwicklung der deutschen Elite insgesamt. Es gab in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch keinen Ansatzpunkt für eine umfassende personelle Veränderung. Die wenigen Liberalen, die vor 1933 akademische Positionen errungen hatten, waren entweder in die Emigration gegangen oder innerhalb des Regimes verschlissen worden. Der Umstand, daß die Emigranten nicht zurückkehrten und später nur diejenigen, die dem rechten politischen Spektrum zuzuordnen waren, hat dazu geführt, daß nach 1945 die konservative Präponderanz im Fach noch viel ausgeprägter war als in der späten Weimarer Zeit. Charakteristisch war, daß Hermann Aubin, der so eng mit dem NS-Regime zusammengearbeitet hatte, noch zum Präsidenten des Deutschen Historikerverbandes gewählt werden konnte, ohne daß sich Widerspruch erhob!

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    A.P.: Ob damit die Einsperrung in Reservate – wo sie durch Armut und Krankheit dezimiert worden wären – oder der direkte Mord gemeint – und verstanden – war, können wir nicht sagen, da hat Mommsen Recht, und auch die Autoren von „Das Amt…“ lassen die Frage offen.

    und

    Mommsen hingegen bestreitet, dass „das ‚Endziel’ und dessen Erreichung von vornherein in den Köpfen vorhanden war“. Auf Deutsch und unverquast: dass die Diplomaten von Anfang an auf Mord aus waren.

    Wenn die Diplomaten von Anfang an auf Mord aus waren, warum belegt die Studie das nicht einfach mit Dokumenten, sondern lässt die Frage offen?

  26. avatar

    Sehr gute Analyse einer verräterischen Textpassage. Ohne ein Konzept von Intentionalität ist alles nur fließend Wasser, was man da als Historiker beschreibt: Mal fließt es dahin, mal dorthin. Was sich da öffentlich-heimlich wegmendelt, ist der Begriff der Verantwortung.

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    Hitler selbst nahm schon vor dem Krieg kaum ein Blatt vor den Mund.
    In seiner berüchtigten Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 sprach er zwar zunächst „nur“ von einer Abschiebung der deutschen Juden (diese menschenverachtende Maßnahme war seinerzeit schon voll im Gange), die er flugs zu Fremden und unerwünschten Personen in ihrer eigenen Heimat erklärte, und deutete auch die Möglichkeiten von jüdischen „Reservaten“ an (Zitat:“Wir sind entschlossen, das Einnisten eines fremden Volkes, das sämtliche Führungsstellen an sich zu reißen gewußt hat, zu unterbinden und dieses Volk abzuschieben. Denn wir sind gewillt, für diese Führungsstellen unser eigenes Volk zu erziehen. …Denn Europa kann nicht mehr zur Ruhe kommen, bevor nicht die jüdische Frage ausgeräumt ist. Es kann sehr wohl möglich sein, daß über diesem Problem früher oder später eine Einigung in Europa selbst zwischen solchen Nationen stattfindet, die sonst nicht so leicht den Weg zueinander finden würden. Die Welt hat Siedlungsraum genügend, es muß aber endgültig mit der Meinung gebrochen werden, als sei das jüdische Volk vom lieben Gott eben dazu bestimmt, in einem gewissen Prozentsatz Nutznießer am Körper und an der produktiven Arbeit anderer Völker zu sein.“

    Dann aber sprach er auch schon die Möglichkeit einer Endlösung an:
    „Und eines möchte ich an diesem vielleicht nicht nur für uns Deutsche denkwürdigen Tage nun aussprechen: Ich bin in meinem Leben sehr oft Prophet gewesen und wurde meistens ausgelacht. In der Zeit meines Kampfes um die Macht war es in erster Linie das jüdische Volk, das nur mit Gelächter meine Prophezeiungen hinnahm, ich würde einmal in Deutschland die Führung des Staates und damit des ganzen Volkes übernehmen und dann unter vielen anderen auch das jüdische Problem zur Lösung bringen. Ich glaube, daß dieses damalige schallende Gelächter dem Judentum in Deutschland unterdes wohl schon in der Kehle erstickt ist.

    Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“

    Eindeutiger gehts nun wirklich nicht, zumal Hitler und seine Spießgesellen ja zwecks „Gewinnung von Lebensraum für das deutsche Volk“ auf eine kriegerische Auseinandersetzung hinarbeiteten, was sie zwar stets bestritten, aber ihre Taten sprachen ja für sich (z.B.Bruch des Münchener Abkommens mit der Besetzung der Resttschechei).
    All das war dem Auswärtigen Amt nicht nur bekannt, sondern es war daran tatkräftig beteiligt.
    Die Argumentation Mommsens erscheint mir daher äußerst fragwürdig!

    Viele Grüße
    Jens Christian Heuer
    http://geistdergesetze.wordpress.com/

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