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Selbstauskunft

Im Sommer 2012 führte die Vertreterin eines Markenunternehmens ein Interview mit mir zum Thema „Qualität“. Ich gebe es hier wieder, weil ich es immer noch interessant finde und weil ich die meisten Aussagen heute noch unterschreiben würde.

Wie beurteilen Sie als Journalist in dieser Gesellschaft die Qualität des Umgangs miteinander?

Es kommt darauf an, auf welcher Ebene Sie diese Frage stellen. Ich lebe seit langem in Berlin, und wenn ich den tagtäglichen Umgang im Geschäft, im Bus, in der U-Bahn betrachte, dann bin ich – ganz anders als die meisten Zugezogenen – der Ansicht, dass er sich hier unendlich verbessert hat. Die Menschen haben gelernt, dass der Kunde König ist und dass man auch auf dem Amt kein Bittsteller, sondern Kunde ist. Ich staune geradezu, wie gut im Alltag der Umgang miteinander ist. Wir können aber eine ganz andere Ebene betrachten,etwa die der Presse. Wie geht sie mit unseren Politikern um? Beispielsweise im Fall Wulff. Den Umgang könnte man in Frage stellen. Aber ich betrachte den sehr kritischen Umgang mit Politikern auch als Vorteil. Insgesamt ist das Miteinander sehr viel besser als in meiner Jugend. Auch wie beispielsweise Erwachsene mit Jugendlichen oder mit Kindern umgehen, wie die Mehrheitsgesellschaft alles in allem mit Minderheiten umgeht, überall stelle ich eine Verbesserung fest. Ich freue mich, in einer freundlichen Gesellschaft zu leben.

Gibt es eine herausragende Persönlichkeit in unserer deutschen Gesellschaft, egal aus welchem Bereich, der für Sie die höchste Stufe von Qualität verkörpert?

Also ganz bestimmt nicht Helmut Schmidt! Überhaupt sehe ich weniger Personen aus dem Bereich Politik und auch nicht aus dem Bereich Architektur oder Film. Eher im Bereich der darstellenden Kunst und der Musik. Da finde ich, dass wir unheimlich viel zu bieten haben. Zum Beispiel die Dynastie Fischer-Dieskau. Sängerinnen wie Netrebko. Sie könnten die Ensembles vieler Theater nehmen. Zum Beispiel die gute alte Schaubühne hier in Berlin. Das verkörpert für mich Qualität. (Nachtrag 2016: Warum ich Fischer-Dieskau und Netrebko genannt habe, ist mir ein wenig schleierhaft. Ich gehe nie in die Oper und selten zu Liederabenden. Das „ganz bestimmt nicht Helmut Schmidt“ kommt vermutlich, weil die Interviewerin ihn als Beispiel für „Qualität“ genannt hat.)

Was ist die höchste Form der Lebensqualität für Sie? Die geistige Freiheit? Unabhängigkeit? Wirklichkeit? Oder das Unangepasstsein?

Wenn Sie redlich und geistig unabhängig sind, dann werden Sie sich nicht anpassen können. Unangepasst sein an sich – dieses Lob des Querdenkens – das ist Quatsch. Man muss auch mal ehrlich genug sein, zu sagen, da stimme ich mit dem viel gescholtenen Mainstream überein. Ich bin ein großer Freund der politischen Korrektheit. Ich kann es nicht leiden, dass sie ständig runter gemacht wird. Sie ist eine Art Übereinkunft, dass ich freundlich über Leute rede und dass ich überlege, wen ich verletze usw. Unangepasstheit empfinde ich als keine Qualität an sich. Am Ende würde ich sagen, die wichtigste Sache ist Redlichkeit. Wenn Sie redlich sind, dann werden Sie gelegentlich unangepasst sein und um redlich zu sein, muss man unabhängig denken können. Redlichkeit ist das Wichtigste und das Schwierigste. Auch sich selbst gegenüber redlich zu sein, ist fast unmöglich.

Hat eine Streitkultur in unserem Land Ihrer Meinung nach Qualität oder bezieht sie sich auf den unreflektierten Austausch von unverrückbarer Position?

Wir neigen dazu – und ich schließe mich da ein – im Streit, besonders im publizistischen Bereich, einander nur nieder zu machen. Ich glaube, dass man in Deutschland sehr stark zu geschichtstheoretischen, geschichtsphilosophischen und erinnerungskulturellen Streitgesprächen und wenig zum positiven Streit neigt. Und gerade bei diesen geschichtspolitischen Streitpunkten geht es meistens darum, den anderen zu diskreditieren. Ob es anderswo besser ist, ist schwer zu sagen. Wenn man den Präsidentschaftswahlkampf in den USA betrachtet, wahrscheinlich nicht. (2012! A.P.) Immerhin geht es dabei aber nicht um Geschichtsphilosophie. Ich habe mich oft genug an diesen Debatten beteiligt, beteilige mich weiter daran. Man kann sich dem nicht entziehen, aber ich empfinde die Qualität unserer intellektuellen Diskussion als nicht sehr hoch.

Welche Rolle spielt die Kategorie Qualität Ihrer Meinung nach in der Politik oder in der Gesellschaft?

Ich kann nicht sehen, dass Qualität in der Politik eine Rolle spielt. Das hat mit Vielem zu tun. Mit dem Auswahlkriterium der Politiker zum Beispiel. Wer wird Politiker? Jemand der Jura studiert hat? Ich finde das aber auch nicht wichtig. Für mich sind Politiker Fachleute, denen wir diese Rolle delegieren. Sie beschäftigen sich in unserem Auftrag mit Gesetzesentwürfen und zwar auch auf eine sehr kleinteilige Art und Weise, die wir uns gar nicht zumuten wollen. Wir begnügen uns damit, zu sagen, dieses Gesetz war Mist oder gut. Solange Politiker für uns diesen Job tun, ist es in Ordnung. Ich glaube, man muss nicht besonders klug oder besonders irgendwas sein, um den Beruf des Politikers auszuüben. Man muss es nur tun. Wie kann ich in einer Massengesellschaft Qualität erkennen? Ich glaube, dass die meisten Leute bei Qualität auf die Frage des Markenbewusstseins kommen. Das ist so ähnlich, wie ich Politik an die Politiker delegiere. Ich delegiere Qualität an Marken. Ich weiß, wenn ich zu H&M gehe, dann muss ich mich darauf einstellen, nicht wirklich nachhaltige Qualität einzukaufen. Wenn ich aber eine Jeans einer gehobenen Marke kaufe, dann gehe ich davon aus, die hält ein Leben lang und sie ist auch gut geschnitten. Die Rolle der Marken ist neu, nicht wirklich sehr neu, aber in meiner Jugend war es nicht so. Es gibt auch Fallstricken des Markenbewusstseins, bei der Jugend vielleicht noch eher als in meiner Generation.

Unsere Ansprüche wuchsen in über 100 Jahren immens. Jetzt müssen wir erkennen, dass es so nicht weiter geht. Glauben Sie an die Fähigkeit der freiwilligen Einschränkung?

Ich unterzeichne die Behauptung in Ihrer Frage nicht, dass wir erkennen müssen, dass es so nicht weiter geht und dass Ansprüche sich nicht ständig entwickeln können. Ich glaube, dass wir immer neue Bedürfnisse entwickeln werden. Ich meine, es ist schon lebensgeschichtlich klar, dass man als junger Mensch eher z.B. auf Gadgets guckt. Ich habe mit 50 den Garten entdeckt. Früher war für mich ein Garten der Inbegriff des Spießigen. Dann habe ich mir ein Reihenhaus gekauft mit Garten und habe meine Einstellung geändert. Das heißt aber nicht, dass meine Bedürfnisse jetzt weniger werden oder dass ich mich einschränke. Im Gegenteil. Was ich im Baumarkt und im Gartencenter ausgebe, das glauben Sie gar nicht. Aber auch bei Gadgets bleibe ich begeisterungsfähig. Mit dem iPod habe ich die Musik wiederentdeckt. Vor zwei Jahren habe ich mir ein iPhone gekauft, ein Supergerät. Ich glaube nicht, dass das das Ende ist von dem, was man mit diesen Geräten wird machen können. Natürlich könnte ich, wenn ich müsste, in einer Einzimmerwohnung ohne all diese Geräte auskommen. Die Hauptsache sind für mich Bücher. Auf die würde ich niemals verzichten. Aber ich sehe keine Notwendigkeit dazu, auf diese technischen Innovationen zu verzichten. Ich glaube, dass wir ganz neue Bedürfnisse entdecken werden, ein Teil davon wird durch Produkte und ein Teil durch Dienstleistungen abgedeckt. Ich habe letztes Jahr einen Kindle gekauft, ein tolles Gerät. Ich bin richtig darin verliebt. Und schon gebe ich mehr Geld aus. Ich kaufe E-Bücher, einfach weil es so einfach ist. Meine Frau hat einen iPad, auch das ist ein tolles Teil. Wir unterhalten uns beim Frühstück über einen Film, den wir gesehen haben. Meine Frau holt das iPad heraus, und schon erfährt man alles über den Regisseur und weiß, welchen Film man aus der Videothek holen muss. Das ist doch großartig. Ich bin für die Erweiterung der Bedürfnisse und nicht für die Einschränkung.

Schön, dass Sie das so positiv sehen. Nur scheint unsere Gesellschaft doch an Lebensqualität verloren zu haben. Jeder redet von Stress, Burnout und Überforderung. Wir werden überschüttet an Informationen und Angeboten, die wir anscheinend nicht verkraften können. Irgendwas ist aus dem Gleichgewicht geraten.

Ich würde auch das nicht unterzeichnen. Was Burnout betrifft, ich nehme das Phänomen ernst, aber vielleicht ist diese Entwicklung auch ein gutes Zeichen. Migräne zu haben galt früher beispielsweise als weibliche Schwäche. Heute dürfen auch Männer Kopfschmerzen haben. Ich glaube nicht, dass die Arbeit wirklich mehr geworden ist, sondern dass die Männer mehr in sich hinein hören. Denn Dinge kommen nur in die Öffentlichkeit, wenn sie Männer betreffen. In dem Augenblick, in dem Männer mit Depressionen usw. in Zusammenhang gebracht werden, kommt es in die Zeitung. Wenn es Frauen betrifft, dann sagt man eher, na ja die Frauen, die sind halt so. Ich halte das Burnout – Phänomen eher für ein Zeichen, dass wir etwas anerkennen, was schon lange da ist, als dass etwas Neues entstanden wäre. Gab es früher depressive Fußballer? Klar. Aber erst jetzt dürfen sie sich dazu äußern. Oder betrachten Sie die Homosexualität in der katholischen Kirche. Jeder wusste, dass der Priester merkwürdig ist, aber darüber wurde in der Öffentlichkeit nicht geredet. Heute kann man sagen, die katholische Kirche ist die größte transnationale homosexuelle Organisation der Welt. Dann erscheint deren Haltung gegen Homosexualität in einem anderen Licht. Wir sind empfindlicher und empfindsamer geworden. Und das ist gut so.

Das Fernsehen vermittelt teils unverantwortliche Lebens- und Geschmacksbilder. Wäre hier nicht mehrfach Verantwortung der Macher gefordert?

Nein. Zumindest in den privaten Medien haben im Wesentlichen die Leute die Verantwortung, für die Eigner des Senders Geld zu machen. Sie können nicht Privatfernsehen befürworten und dann sagen, die Leute hätten sozusagen eine geschmacksbildnerische Verantwortung.

Es ist natürlich auch ein sehr praktisches Argument, zu behaupten, die Masse will das so. Das schließt jede Kritik von vornherein aus. Die Verantwortlichen könnten auch umlenken?

Ich glaube nicht, dass die Verantwortlichen umlenken können im Sinne der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts. Wenn es ein Kartell der Medienmacher gäbe, so wie früher ARD und ZDF, dann könnte man übereinkommen, nur noch Qualität zu liefern. Das wäre aber weder demokratisch noch marktwirtschaftlich. Ich glaube, die USA zeigen uns, dass gerade in einem marktwirtschaftlichen System Qualität das Ergebnis ist. Schauen Sie sich einmal die US-Fernsehserien an. „Mad Men“ zum Beispiel. Da lernen Sie mehr über die 60er Jahre als in tausend Geschichtsunterrichtsstunden. Oder an „Ally McBeal“, „Boston Legal“, „Damages“ mit Glenn Close. Was Sie da über das Rechtssystem der USA lernen, das ist unglaublich. Ich frage mich, wieso schaffen wir das nicht? Bei uns läuft im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ein primitiver und blöder Tatort nach dem anderen, die mit unseren Gebühren finanziert wurden. Wer schreibt bloß diese Drehbücher? Sie sehen daran, dass ein Kartell zur Qualitätssicherung das Gegenteil bewirkt.

Wie ordnen Sie die Medien im Prozess der Meinungsbildung der Deutschen hinsichtlich des Qualitätsfaktors ein?

Da gibt es natürlich zwischen den Medien große Unterschiede. Ich glaube, man beneidet uns beispielsweise in der angelsächsischen und französischen Welt – von anderen Ländern ganz zu schweigen – um unsere Tages- und Wochenpresse. Was wir mit der Süddeutschen Zeitung, mit der FAZ, der Welt und vielen regionalen Zeitungen wie z.B. der Stuttgarter Zeitung und dem Tagesspiegel veröffentlichen, bewegt sich schon auf sehr hohem Niveau. Unser Staatsfernsehen und Staatsradio hingegen, im öffentlichen Auftrag agierend, ist unter aller Sau. Wenn ich sehe, was die mit riesigen Geldern an Uninteressantem, Uninformiertem produzieren, das ist unfassbar. Wenn Sie die Berichterstattung aus Amerika etwa in der ARD sehen, zieht es Ihnen die Schuhe aus. Ich könnte von Berlin aus eine bessere Berichterstattung machen über das, was in Amerika passiert, indem ich mich einfach im Internet umsehe. Sie haben niemals einen US Präsidenten, einen Vizepräsidenten oder einen Außenminister im Exklusivinterview, aber auch keinen Bürgermeister oder Sheriff. Da ist überhaupt keine Berichterstattung über das, was da wirklich passiert. (…) Wir haben derzeitig keine Reporter in Syrien. Wenn unsere englischen und französischen Kollegen nicht vor Ort wären, würden wir nichts von der Lage dort wissen. Bei den privaten Zeitungen und Sendern kann man das verstehen, ihnen fehlt das Geld, aber die Öffentlich-Rechtlichen haben einen Informationsauftrag. Stattdessen läuft das Große Gala der Volksmusik. Wir haben etliche öffentlich-rechtliche Radiosender, die faktisch Daddelradio sind mit Berichten, die aus den Agenturen kopiert sind.

Welche Bedeutung messen Sie dem Korrektiv der Internetblogs bei, die eine neue Qualität der Berichterstattung auch letztendlich ermöglichen?

99 % der Internetblogs wie überhaupt dessen, was im Internet gemacht wird, ist Schrott. Das Bloggen und Kommentieren lässt Leute zu Wort kommen, die wir früher in den Leserbriefspalten zum Beispiel nicht hätten zu Wort kommen lassen, weil sie beleidigend und schlecht informiert sind usw. Aber 1 % ist wichtig. Ich rede jetzt von Europa und Amerika, ich rede nicht von der arabischen Welt, von China und von Russland, wo das Internet eine ganz andere Funktion hat. Verstehen Sie mich nicht falsch. Man merkt manchmal auch bei uns, dass Diskussionen in der Blogosphäre beginnen und die etablierten Medien das Thema noch nicht anfassen wollen, vielleicht, weil sie nicht so hellhörig sind. Wenn ein bestimmtes Thema eine kritische Masse erreicht hat, dann sickert es in den Mainstream oder in die etablierten Medien ein. Diese Osmose ist für uns sehr wichtig. Ich bin einerseits Blogger, andererseits etablierter Journalist. Man kann sogar sagen, dass in mancher Hinsicht die Blogosphäre als eine Art Versuchsballon funktioniert. Wie weit trägt ein Thema? Im Fall des vorletzten Bundespräsidenten war es eigentlich die Blogosphäre, die eine Äußerung von Köhler im Deutschlandfunk aufgriff, deren Brisanz das Staatsradio natürlich selber nicht verstanden hatte. Am Ende führte das zum Rücktritt des Bundespräsidenten. Das kann man gut oder schlecht finden, aber es war ein Zeichen der Zeit. Bei Christian Wulff hingegen brauchte es die Recherchemaschinen von Bild und Spiegel, um herauszufinden, wie es sich mit dem Grundbucheintrag seines Hauses in Burgwedel verhielt. Damit fing ja alles an. Nur große Medienhäuser sind imstande, investigativen Journalismus zu finanzieren. Deshalb müssen wir eine Möglichkeit haben, Geld zu machen, auch um die Recherche zu finanzieren. Wir müssen teilweise Journalisten bezahlen, die fünf bis sechs Wochen lang einer solchen Geschichte hinterher recherchieren. Das kann die Blogosphäre nicht leisten.

Regiert heute die Oberflächlichkeit einer Spaßgesellschaft, die an einer kritischen Auseinandersetzung kaum noch interessiert ist?

Zu allen Zeiten ist es so gewesen, dass die große Masse der Menschheit an der großen Politik nicht beteiligt war. Früher aus Gründen der mangelnden Schulbildung oder des täglichen Lebenskampfes. Heute beteiligen sich mehr Leute an kritischer Auseinandersetzung als je zuvor in der Geschichte. Ich habe gar nichts gegen eine Spaßgesellschaft. Ich bin nicht wie dieser schwule Kolumnist, der mit klammheimlicher Freude geschrieben hat, es sei jetzt „Schluss mit lustig“. Seien wir doch froh, dass wir – in Anführungszeichen – ein bisschen dekadent sind. Ich bin ein großer Anhänger der Spaßgesellschaft. Ich finde, die Menschen haben ein Recht auf Spaß, und die meisten haben viel zu wenig davon.

 Würden Sie Ihr Leben als ein Leben von hoher Lebensqualität bezeichnen?

Ja absolut, aber ohne jeglichen eigenen Verdienst. Helmut Kohl redete von der Gnade der späten Geburt und er hatte Recht. Man stelle sich vor, man wäre hinein geboren worden in diese schreckliche Zeit. Stellen Sie sich vor, Sie wären in der DDR, in Afrika oder China geboren worden! Das Erste, was man empfinden sollte, ist eine tiefe Dankbarkeit. Wir leben so, wie die Aristokraten sich das im 18. Jahrhundert gewünscht hätten. Wenn wir Zahnschmerzen haben, gehen wir zum Zahnarzt. Es gibt Anästhesie. Das hatten sie am Hof des Sonnenkönigs nicht. Wir Nachgeborenen, von denen Brecht sprach, die aufgetaucht sind aus der Flut, in der seine Generation untergegangen ist, haben so viel bekommen! Ich werfe mir vor, die großartigen Bedingungen, die ich hatte, nicht voll ausgeschöpft zu haben.

 An was denken Sie konkret?

Mehr Ausbildung. Beispielsweise hätte ich noch eine Sprache richtig lernen müssen. An der Uni besser aufgepasst, statt politische Arbeit gemacht zu haben, überhaupt mehr gelernt zu haben. Die Qualität meiner Leistungen überzeugt mich nicht immer. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Das zweite Buch, das ich geschrieben habe, war eine Biographie über John F. Kennedy, erschienen bei Rowohlt. Jetzt wird es nach 20 Jahren neu herausgegeben. Eigentlich sollte lediglich die neuere Literatur ein wenig eingearbeitet werden, aber ich würde das Buch liebsten völlig neu schreiben, weil mir aus heutiger Sicht die Hälfte fehlt. Teilweise liegt es daran, dass wir in einer anderen Zeit leben, teilweise stimmt aber auch die Qualität nach meinem heutigen Empfinden nicht mehr.

Sie haben sich verändert?

Ich habe mich verändert, aber ich würde trotzdem ein Qualitätsurteil fällen. Das Buch hätte auch damals besser sein können. Es gibt das Lied von Gitte: „Ich will alles“, darin singt sie: „Ich will nie mehr zu früh zufrieden sein.“ Ich werfe mir vor, dass ich oft zu früh mit mir zufrieden war.

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64 Gedanken zu “Selbstauskunft;”

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    Die Art, wie jetzt (neuerdings) der Kommentarbereich angeordnet ist, ist nicht mehr kohärent und nicht nachlesenswert, Absicht? Oder eine dieser Formen misslungener „Modernisierung“?

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      Lieber Oleander, der Kommentarbereich wurde aufgrund der Kritik von Usern verändert. Weder steht dahinter irgendeine (vermutlich finstere) „Absicht“, noch hat die Modernität irgendetwas damit zu tun. Wenn Sie einen Vorschlag haben, wie das besser gemacht werden kann, legen Sie ihn bitte dar. Beachten sie aber bitte auch, dass wir mit diesem Blog keinen Cent verdienen, aber für jede Änderung zahlen müssen.

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    O je, manchmal kann man mit diesen konfessionellen Dribblings auch mal den Ball verlieren. Wie wäre es denn so: Solange Coltan aus den Eingeweiden der Erde gehoben werden kann, werden wir alle immer wieder neue Mobiltelefone haben. Oder im nächsten Ding nach dem Internet über Reduktion nachdenken. Gibt es kein Coltan, werden wir wieder Briefe schreiben und dazu den vergoldeten Füller mit Gravur benutzen. Das kann man sich dann als Reduktion verkaufen, oder Qualitätsbewusstsein, protestantisch auf Haltbarkeit oder katholisch auf die Schönheit schauend, aber im Grunde bleibt es ein Nutzen des Möglichen. Am Ende ist die Kommunikation 1000€ wert, ob als Laptop oder Füller. Wo da eine konfessionsinduzierte Selbstbeschränkung oder ein Moment des Bewusstseins sein soll, erschließt sich mir nicht. Aber ich bin auch orthodox, vielleicht nimmt der Byzantiner in mir einfach, was er in die Hände bekommt.

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    Zu affirmativ, sagen einige.
    Zu affirmativ finde ich es im technischen Bereich. Seit ich den Aquädukt- und Abwasserhanalbau des frühen Rom ein wenig studiere, bin ich von unserer „überragenden“ Technik nicht mehr so überzeugt. Immerhin war diese Leistung so einmalig und evtl. nur wenigen Talenten vorbehalten, dass es 1500 Jahre dauerte, bis die Städte London und Paris wieder die Größe von 1 Mio Einwohnern erreichten und außerdem wieder fließendes Wasser installierten. Heute haben wir das in jedem Haus, was gut ist. Das ist eine Entwicklung, die vor 100 bis 200 Jahren begann. Man muss sich also fragen, wo wir stünden, wäre Rom nicht untergegangen. Wie früh hätte der gesamte Globus sauberes, fließendes Wasser gehabt?
    Dieser Fortschritt erscheint also in einem ganz anderen Licht, wenn man bedenkt, wie spät er kam.
    Vom Kommunikationsnetz bin ich auch weniger überzeugt. An sich sollte mit dem Einsparen von Personal durch z.B. computerisierte Anrufbeantworter alles etwas billiger werden. Ich sehe das aber nicht. KV- oder KfZ-Versicherungen sind eher teurer geworden, auch Kontogebühren sind nicht verschwunden. Und alle zusamen sind hochgradig verschuldet. Wo können wir einen Fortschritt reklamieren, wenn jeder Schritt zu einer noch höheren Verschuldung führt?

    Und dann kennt ja jeder wohl die Autobahn vom Brenner nach Modena und ihre frühzeitig verrostete Leitplanke. Fährt einer dagegen, dürfte er sie mitnehmen. Korruption verhindert wirklichen Fortschritt. Vielleicht ist der Gotthard-Basistunnel ein echter Fortschritt im Sinne eines Meisterwerks. Dass Motoren heute viel weniger Sprit brauchen, ist ein gewaltiger Fortschritt, das Elektroauto dagegen eine ABM und kein Fortschritt. Batterieentsorgung? Herstellungsenergie? Ein Rosabrilleprojekt.

    Grundsätzlich muss jeder Fortschritt hinterfragt werden. So ist es mit militärischen Entwicklungen, Drohnen und Überwachungspotential.

    Als echter Fortschritt fällt mir daher nur der frühe Aquaeduktbau ein oder z.B. die Erfindung der Polioimpfung, nicht aber heutige Dinge generell, die oft teuer sind, wenig haltbar und manchmal nur über Hypes ihre Käufer finden (Thermomix).

    Dass Schwarze sich ihrer Hautfarbe nicht schämen oder Schwule sich nicht verbergen müssen, dass Frauen eine Meinung haben, eine Ausbildung usw., sind unbestreitbare Fortschritte, der demonstrative Chris-St-Day nicht zwingend.

    Und dass Zuckerberg alle Kranheiten heilen will, ist naive Obsession eines Nerds. Die Natur wird andere einführen. Nun ja, genug.

    Zu affirmativ, ja. Trotzdem gut.

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    Ich finde die Antworten auch gut, inhallich und auch stilistisch. Ich würde aber einiges anders beantworten (es wäre auch seltsam, wenn das nicht so wäre). Vieles ist ja eher Privatsache, deren Mittelung hier nicht sehr bedeutsam ist, aber anderes könnte von Interesse sein. Also der Reihe nach:

    Persönlichkeit, die für besondere Qualität steht: mir fällt spontan Frank Peter Zimmermann ein. Das ist Privatsache, es gibt sicher in fast jedem Bereich jemanden mit herausragender Qualität.

    Zur Rolle von Qualität in der Gesellschaft: Im Arbeitsleben, im Familienleben, i. d. Freizeitgestaltung, Ernährung, Kultur spielt Qualität traditionell eine sehr geringe Rolle, aber in manchen Bereichen geht die Kurve insgesamt erfreulich deutlich nach oben: Ernährung, Freizeit, Familie.

    Wachsende Ansprüche: Ich halte die Möglichkeiten im Gegensatz zu Ihnen für objektiv begrenzt und bin sehr für die Reduktion. Wenn Sie iPod/Pad u. co, d.h. Unterhaltungsindustrie erwähnen – ich glaube nicht an „virtuelle Realität“, Datenbrillen, 3D-Fernsehen, Ganzkörperverkabelung, Chip-Implantate usw. Ich glaube, der Maßstab, den die technische Etnwicklung nehmen wird, wird von der Souveränität des Menschen vorgegeben. Deshalb auch der Hype der kleinen, portablen Geräte. Ab einer gewissen Komplexität – die schon überschritten wurde – nimmt diese Souveränität ab – wer will shcon eine Datenbrille aufsetzen – , dann nimmt auch die Nachfrage ab. Dies ist die interessanteste Frage im Interview.

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      …möchte mich nach erstem, leichtem Nachdenken korrigieren: Freizeit ist in der Gesellschaft nicht qualitativ besser geworden. Sie ist doch meist passivisch und durchtechnisiert (Flachbildschirm-Freizeit).

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        Ja, guter Einwurf zum Thema Qualität, der Flachbildschirm. Meiner ist natürlich der pervers größte, den es im Laden gab, so groß, dass wir bis HD freigeschaltet wurde, alle an der gegenüberliegenden Wand stehen mussten, um ein Bild zu erkennen. Es gibt inzwischen viel größere, aber für zwei Monate hatte ich den größten. Dazu habe ich Pay-TV bekommen und bin von 30 Kanälen auf über 200 gesprungen. Jetzt ist es tatsächlich so, dass auf fast allen der gleiche Unsinn läuft, wie auf den 30. Aber auf ein paar Kanälen laufen Dokumentationen, die mich immer wieder verleiten, im Netz nach einem Thema zu recherchieren. Natürlich nicht auf Hochschulniveau, vielleicht nicht mal Oberstufe. Als Kulturpessimist könnte man sagen, dass, wer früher wusste, was die Bronzezeit ist, zumindest Altgriechisch konnte (Jamas!), aber auf der anderen Seite würde ich ohne mein Infotainment es für die Zeit vor der Silbernen Hochzeit halten. Ist die Qualität gestiegen oder gefallen? Schwer zu sagen, weil Qualität ja immer in Bezug zu etwas stehen muss, und bevor wir uns nicht auf einen Bezugspunkt geeinigt haben, im besten Fall stußige Kalendersprüche wie „immer nur das Beste“ dabei herauskommen.

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        Bei uns ist der Fernseher seit Jahren abgeschafft, und ich muss sagen, es ist viel besser so. Früher habe ich massenhaft ferngesehen, alles mögliche, auch viel und gern Schrott. Manchmal, wenn ich woanders bin und ein Fernseher da ist, gucke ich wieder und staune, was für ein gleichförmiger Schrott gesendet wird. Ob es wirklich schlechter geworden ist, weiß ich nicht, aber besser ist es bestimmt nicht geworden. Es gibt jedenfalls mehr Schrott, einfach durch die 30 oder 200 Kanäle. Derart zugeschrottet zu werden, auf (fast) allen Kanälen, das ist eigentlich nicht zumutbar.
        Das Auto ist auch abgeschafft, und siehe da: Ich bin viel sportlicher geworden.
        iPod, iPad und iPhone und iWasauchimmer habe ich gar nicht erst angeschafft (und falle bereits hinter die Kinder zurück…)

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        Aber, Roland Zimmer, Sie sind immer noch im Internet unterwegs, und nicht zu knapp. Was ich gut finde. Insofern ist es mit Ihrer Fortschrittsverweigerung nicht ganz so weit her.

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      @Roland Ziegler
      „Reduktion“
      ..sehe ich als wichtigen Punkt bei dem Thema, von Alan Posener irgendwie umgangen, auf der ‚Achse des Guten‘ verteufelt. Ich meine damit nicht die protestantisch-Kantische Genügsamkeit („Handele stets so, daß..“) und auch nicht die penetrant-eklige positivistische Ratgeberliteratur à la „schmeiß‘ alles weg, was du die nächsten 3 min nicht brauchst“. Reduktion kann eine erhebliche Erleichterung sein und bei vielen religiösen Juden gilt (bzw. galt) das Fotohandy als nicht koscher, weil es von der gezielten Handlung (dem richtigen Weg) ablenkt, was für mich als ‚Teilzeit-Autist‘ (Selbstcharakterisierung) eine angenehme und entlastende Sichtweise ist. Einiges in dieser Richtung habe ich einem Buch mit dem Titel ‚Im Garten des Glaubens‘ entnommen, das von einem Ultraorthodoxen stammt und das ins Deutsche übersetzt wurde (hier http://www.doronia-shop.de/pro.....ts_id=4646). Religion weist den Weg bei unerträglicher Komplexität. Ich denke, das ist, was EJ meint: Die katholische Pracht ist nicht zu verwechseln mit Beliebigkeit und Verfügbarkeit von allem, sondern folgt einem göttlichen (für Atheisten = ‚intelligenten‘, ‚zielführenden‘, ‚teleologischen‘) Plan. Das merken wir ‚instinktiv‘ (das gibt es ja nun, was ist das eigentlich?) und deswegen sind wir beim ‚Gesetz der Fülle‘ des Kapitalismus (ich weiß nicht mehr, wo ich das gelesen habe) skeptisch.
      Jedenfalls ist ‚Reduktion‘ (Klosteraufenthalt usw.) ein Bedürfnis, zu sich zu kommen. Vielleicht auch der ‚Identitären‘?

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        Nun gut, lieber Klaus J. Nick, aber „weniger ist mehr“ ist ja auch das Credo der Moderne.

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        Ja, KJN, Sie haben recht: Reduktion ist entlastend. Mit etwas Glück gelingt einem dann sogar eine teleologische Anschauung, aus der Vermutung heraus, dass nicht alles zufällig so sein kann, selbst wenn nicht klar ist, wohin das führen soll (siehe hierzu Thomas Nagel). Neben dieser anspruchsvollen gibt es übrigens auch eine mindestens genauso segensreiche anspruchslose Reduktion, ein neagtivistisches Gegenstück zu Ihrer positivistischen Rartgeberliteratur, nach dem Motto: „was soll ich mit dem ganzen Plunder“. Es ist angenehm, im Kapitalismus zu sagen: „Das brauche ich nicht, das kaufe ich nicht“, es hat sogar was von Selbstbehauptung. Wenn man sowieso wenig Geld hat, ist das eine gute Möglichkeit. Ja, ein wichtiges Bedürfnis, zu sich zu kommen. Die unendlichen Waren, Lockungen und Angbeote auszusperren, wie in einem Kloster. Zu den „Identitären“ weiß ich nichts, das ist doch eine Gruppe auf dem Selbstfindungstrip? Verwirrte Leute. Selbstfindung erreicht man nur allein oder mit ganz wenigen intim Vertrauten.

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        @ KJN: deswegen sind wir beim ‚Gesetz der Fülle‘ des Kapitalismus […] skeptisch

        Tja, wir Katholiken haben noch den Durchblick. Genau das ist es. Darum geht’s. Luther/ Johannes: „Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.“

        Hätte APO seinen Text der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft angeboten, hätte er einen Spitzenpreis dafür erzielen können. Für sich genommen, heißt: ohne den Autor zu kennen, kann man den Text nicht mal als Lob des Kapitalismus lesen. Dazu fehlt ihm jeder Blick darüber hinaus, jede Meta-Ebene. Man muss ihn als puren Ausdruck des entpolitisierten Neoliberalismus lesen: ‚Es ist so, und ist deshalb gut so. Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.“

        Der entpolitisierten Neoliberalismus ist die protestantische Welt sola gratia und sola fide: Du glaubst (und strengst dich deshalb an). Gnade wird dir ganz unabhängig davon zuteil. Das ist das protestantische blind eifrige Schwimmen im Strom. Was du in deinem Eifer tust, ob du damit, in welchem Sinne auch immer, etwas verdient oder nicht verdient hast, spielt überhaupt keine Rolle. Solches kleinkariert menschliche Denken ist unter Gottes Niveau. Die von den Protestanten so genannte – und heftig abgelehnte! – Werkgerechtigkeit kommt in der entpolitisierten Welt des Neoliberalismus nicht vor. Stattdessen: Gläubiger Fatalismus!

        APO möchte mit seiner Selbstauskunft ja nicht unsere private Neugier befriedigen. APO liefert eine exemplarische Selbstauskunft. APO liefert die Selbstauskunft, die – auf der Basis der Gerechtigkeit des protestantischen Gottes – wir alle liefern können und sollen.

        In der protestantischen Welt des entpolitisierten Neoliberalismus geben der überbezahlte Manager und der alternde Paketbote, der den Eigenanteil für den nötigen Zahnersatz nicht zahlen kann, APOs Exempel folgend (und ebenfalls ohne Blick über den Tellerrand, und ebenfalls ohne auch nur einen einzigen Gedanken auf eine mögliche Alternative zu verschwenden) Auskunft über sich selbst: ‚Was und wie auch immer: Alles gut! Sola gratia. Sola fide. Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Neue soziale Marktwirtschaft.‘

        Ich weiß, dass APO so nicht denkt (meist jedenfalls). Aber gegen das neoliberal protestantische Glanzstückchen an gläubig fatalistischer Gedanken- und Kontextlosigkeit, das er hier liefert, rebelliert, wie gesagt, der Katholik in mir. (Und nicht nur der.)

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        Und nochmal, EJ: Ich beantworte, wie ich in der Einleitung schreibe, Fragen zum Thema Qualität. Nicht zum Leben an und für sich. Auf der von Ihnen gewählten Meta-Ebene kann ich nicht diskutieren, weil die keinen Bezug zum Text hat. Also: ist das iPhone ein sinnvolles Gerät, ja oder nein? Darüber kann ich diskutieren. Aber wenn Sie schon die Frage als protestantisch-neoliberal abtun, vielleicht weil sie die Arbeitsbedingungen bei Foxconn in China, wo die Dinger hergestellt werden, ausschließt, tja, dann brauchen wir über das Verhältnis zwischen Konsument und Konsumgut nicht zu reden. Im übrigen, nehmen Sie es mir nicht krumm, glaube ich zu erkennen, dass sie vom Protestantismus keine Ahnung haben.

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        Naja, Alan Posener, die Moderne hat viele Credos und ‚weniger‘ in der Wohnung (-> eleganter, auf die eigentliche Funktion reduzierter Flachbildschirm) führt oft genug zu einem ‚Mehr‘ (an Röhrenbildschirmen) auf den Müllhalden. Schmeiß‘ weg! ist auch ein Credo der Moderne. Ich kritisiere das nicht, denn das ist Entwicklung – ich meine nur, inwieweit solche Entwicklungen wirklich der Verbesserung der ‚Lebensqualität‘ (ich mag das Wort nicht) dient, wird sich erst zeigen. Ein ‚Trend‘ geht oft genug in eine Sackgasse, so ist nun mal die Evolution. Dumm, oberflächlich eben. Nein, ich fordere jetzt nicht den platonischen Philosophenkönig, der uns erklärt, was gut für uns ist, sondern plädiere lediglich für erheblich mehr Gelassenheit gegenüber dem nächsten „another thing“ und damit meine ich nicht nur das nächste weiße Elektrogerät.
        Die Gegenüberstellung Tradition – Moderne ist begrifflich ungenau, weil nur die Tradition programmatisch ist. Und der Begriff ‚Qualität‘ nicht eigenständig, sondern nur auf ein Attribut bezogen: Das scharfe Messer, der klangtreue Lautsprecher usw.. Werbeleute versuchen, den Begriff emotional zu belegen, zu entkoppeln und damit auf alle Produkte, die beworben werden sollen, zu übertragen. Das ging bis in die Unternehmensberatung, in den 90ern hat man Geld viel mit sog. ’six-sigma‘ – Programmen gemacht – einfacher Normalverteilungs-Statistik.
        Aldous Huxley hatte die Moderne mit ‚Brave New World‘ sehr gut karikiert, aber ich kann doch gegen ‚die Moderne‘ genauso wenig sein, wie gegen das Wetter.

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        Ha! Heute morgen habe ich eine junge Frau gebeten, APOs Text zu lesen. Nur mit der Bitte: „Sag mir mal, wie du das findest.“ Ansonsten kommentarlos.

        Eben der Rückruf: „Und arbeiten muss der gar nicht? Hat der auch ’ne Frau, die für ihn verdient?“

        Auf den Punkt! Der gesamte, womöglich kritisierbare, kapitalistische Mechanismus des Gelderwerbs – Fehlanzeige! Einfach weg! Anstrengung und Arbeit, soweit davon die Rede ist, dienen allein der persönlich privaten Selbstvervollkommnung. Die Lebensqualität bescherende Kohle ist einfach „da“. (Und es kann – uneinklagbar, unreklamierbar – mehr oder weniger oder auch nichts „da“ sein, darf man in dieser Logik ergänzen.) Lebensqualität steht in keinem erkennbaren Verhältnis zu Arbeit und Erwerb. Der Produzent – nur nicht an den Produktionsverhältnissen rühren! – ist ganz durch den kontextlosen Konsumenten ersetzt. Neoliberalism at its best!

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        Das verstehe ich weder, EJ, noch finde ich das fair. Sie wissen, dass ich mein ganzes Erwachsenenleben lang gearbeitet habe und jetzt immer noch – obwohl im Rentenalter – arbeite. Geld war nie „einfach da“. Auch nicht für meine Frau, über deren Arbeit ich auch geschrieben habe. Aber weder meine Frau (die für den Staat arbeitete) noch ich haben je den „Gelderwerb“ als „kapitalistischen Mechanismus“ begriffen. Vielleicht sind wir beide – obwohl meine Frau katholisch erzogen wurde – zu sehr protestantisch-jüdisch geprägt, denn in der Tat sehe ich die Arbeit in erster Linie als Mittel der „Selbstvervollkommnung“, als notwendigen Teil eines gelungenen Lebens. „Nur nicht an den Produktionsverhältnissen rühren“ – was soll denn das? Glauben Sie, dass man im Sozialismus nicht arbeiten müsste? Tut mir Leid, aber wenn es im Interview um die Qualität von Dienstleistungen und Produkten geht, dann rede ich davon, und nicht davon, dass die Erde ein Jammertal sei. Ansonsten bin ich, wie Sie wissen, seit über 40 Jahren Gewerkschaftsmitglied.

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        @ APO Sie wissen, dass ich mein ganzes Erwachsenenleben lang gearbeitet habe

        Ach, kommen Sie! Ihnen persönlich will ich doch gar nichts. Das wissen Sie genau!

        Ich habe, wie ich deutlich gesagt habe, die Schilderung Ihres Konsumentenparadieses als exemplarisches kritisiert, ich hätte auch sagen können: als Ideologisches. Und in dieser Betrachtung darf schon auffallen, dass der geschilderte Konsum scheinbar aus dem Nichts erfolgt, und alle dem Konsum vorausgehende – um in der angespielten religiösen Welt zu bleiben: – „Mühsal und Last“ ausgeklammert bleibt. Das hat deutliche Entsprechungen zur protestantischen Gnadenlehre. Und das ist kein Zufall.

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        APo: ‚Vielleicht sind wir beide – obwohl meine Frau katholisch erzogen wurde – zu sehr protestantisch-jüdisch geprägt, … ‚

        … das ist in der Tat – britisch. Eine ’schwierige‘, wie ich meine verhängnisvolle, ‚Kombination‘ in der Historie. Das meine ich nicht, für Sie und Ihre Frau, persönlich.

        Kalvinisten treffen sich über eine ‚puritanische Ausrichtung am Alten Testament‘ mit Juden, nicht nur religiös, auch politisch säkularisiert.

        Hier treffen sich viele Antworten auf (unbeantwortete) Fragen für das vergangene Jahrhundert.

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        Das ist ja nett, blonderhans, dass Sie die Kombination jüdisch-protestantisch zwar „verhängnisvoll“ finden, das aber nicht „persönlich“ meinen wollen. Erinnert mich an meinen Geschichtslehrer, der erklärte, warum die Juden zu Recht als „Ferment der Dekomposition“ bezeichnet werden könnten und mir sagte, das könne ich durchaus auf mich beziehen, das sei aber positiv, da alles was entstehe, wert dei, dass es zugrunde gehe.

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        … gääähn, APo, Ihre Projektionen können Sie für Ihren Eigenbedarf verwenden. Sie selber haben oft genug auf das ‚Alte Testament‘ verwiesen. Wenn Sie eine ‚alttestamentarische Politik‘, für richtig halten, nun ja. Da wird EJ mit Ihnen, als ‚Neoliberaler‘, schon richtig liegen. Daher!

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        „Alttestamentarisch“ ist eine Goebbels’sche Wortprägung, lieber Blondi. Das theologisch korrekte Wort ist „alttestamentlich“ und bezieht sich auf das, was in jeder katholischen Messe, die ich besucht habe, und das waren viele, als „Wort Gottes“ referiert wird.

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        Nachtrag

        ‚Eine Wortschöpfung der Nationalsozialisten ist das Adjektiv „alttestamentarisch“ jedoch nicht. Es findet frühere Belege z.B. in Thomas Manns Buddenbrooks (1901): „Was Direktor Wulicke persönlich betraf, so war er von der rätselhaften zweideutigen, eigensinnigen und eifersüchtigen Schrecklichkeit des alttestamentarischen Gottes.“ (S. 430).‘

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        Nicht das Deutschland Wilhelms II (wie das jahrzehntelang gegolten hatte), sondern ein englisches Oberschichten-Klüngel hat die Katastrophe zu verantworten. Docherty und MacGregor stimmen damit der schon seit 1907 in Deutschland verbreiteten Einkreisungstheorie zu. “Hidden History”

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        Lieber Blonderhans, das steht aber bei Christopher Clark, den Sie oft zitieren, aber offensichtlich nie gelesen haben, anders. Bei Ihnen liegen Ihr sympathischer katholischer Konservatismus und Ihr deutschnationales Ressentiment im Clinch miteinander.

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        @Roland Ziegler
        „Selbstbehauptung“
        Warum ist Konsumverweigerung Selbstbehauptung?

        @EJ
        Ich glaube, wir können dem „entpolitisierten Neoliberalismus“ bzw. dem „Du glaubst (und strengst dich deshalb an)“ nur durch kritische inhaltliche Analyse im Einzelfall (= lohnt sich die Anstrengung) entgegentreten. Daher liegen Sie m.E. richtig: das „blind eifrige Schwimmen“ ist möglicherweise (auch) ein protestantisches Programm – oder wir sehen es so, weil wir das dumpfe ‚Streng dich an..‘, ‚haste was, dann biste was‘ zu oft gehört haben und es satt haben. Natürlich ist das „unter Gottes Niveau“. Aber „gläubige(n) Fatalismus“ (oder Konsum als Lebensziel etc.) sehe ich eben nicht als universelle Forderung der Moderne. Die Moderne lässt sich nicht als Ideologie fassen, daher auch nicht mit einem ‚Gegenprogramm‘ (z.B. einem protestantisch auf Verzicht gerichteten ökologischen) abschwächen.

        @Alan Posener
        Ja, vielleicht richtig oder plausibel, aber unbefriedigend. Viel zu viele kommen nicht zurecht.

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        @KJN: Auf die Schnelle geantwortet: Konsumverweigerung ist bezeichnend, es bedeutet, dass man sich seiner Pflicht entzieht. Das finde ich bezeichnend, eine solche Pflicht gibt es nämlich nicht, und wenn es sie gäbe, würde ich mich ihr mit größter Lust entziehen. Womit wir schon sehr in die Nähe der Selbstbehauptung kommen, denn es bedeutet meine Souveränität, ob und was ich konsumiere. Ich würde den Begriff „Konsumverzicht“ nehmen und sagen: „Konsumverzicht ist Selbstbehauptung“, was die Frage, ob ich einer Pflicht den Mittelfinger entgegenstrecke, umgeht. Konsumverzicht heißt nicht konsumverweigerung, aber heißt auch nicht Askese. Askese wäre eine Verpflichtung von der anderen Seite: man DARF nicht konsumieren. Es ist grundsätzlich schlecht zu konsumieren, selbst der elementare Konsum. Konsumverzicht dagegen, bedeutet schlicht, sich zu überlegen, ob man das Zeug braucht oder nicht. Ob man sein Geld nicht sinnvoller anlegen kann. Wieviel man von dem Zeug braucht. Es heißt nicht, dass man so wenig wie irgend möglich braucht. Konsumverzicht erzeugt freies Geld und freie Zeit, die man sonst vor dem Flachbildschirm verprasst. Er ermöglicht damit, sich die Dinge unbeteiligt, mit Abstand vor Augen zu führen und die Dinge zu bezahlen, auf die es ankommt.

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        … lieber Alan Posener, ich bin zuerst katholisch, Familie, Heimat, Vaterland, Europa. Ich bin nicht ‚Deutsch-National‘. Ich will die Beendigung der Staatssimulation, die Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit, in Deutschland. Sofort!

        Clark schreibt von ‚Schlafwandlern‘. Das ist zu wenig. Ich schreibe von irrgläubig, lutheranisch-klerikalen Sekten in GB seit dem 16.n Jahrhundert, nicht von Briten, nicht von Juden.

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        Ups, sorry für die schlechte Ausdrucksweise, ich bin grade erst aufgestanden, um nach der Wettervorhersage zu gucken, und bin direkt über Ihre Frage gestolpert. Ich hoffe, es ist trotzdem einigermaßen klar, wieso Konsumverzicht für mich auch, sagen wir: in die Selbstbehauptung hineinspielt.

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        @Roland Ziegler
        „Konsumverzicht dagegen, bedeutet schlicht, sich zu überlegen, ob man das Zeug braucht oder nicht.“
        ‚Brauchen‘ wir beide gerade das Internet, diesen Blog, den wir gerade nutzen? Nach welchen Kriterien – außer rein subjektiven – soll ich entscheiden, ob ich „das Zeug“ brauche, oder nicht?
        Oder anders gefragt: Werden Güter, die eigentlich im Überfluss vorhanden sind, durch immer neue Horrorszenarien künstlich verknappt, um damit besser Geld zu verdienen – oder es im Fluss zu halten? (Früher hieß es, Erdöl würde knapp, das scheint nicht haltbar zu sein, jetzt ist stattdessen das Klima knapp..).
        Ich teile den, ich vermute Ihren, emanzipativen Ansatz, sich nur für das anzustrengen, was es einem das Wert ist, was eigentlich eine Selbstvertändlichkeit ist. Wenn aber eine solche Haltung keine Selbstverständlichkeit sein sollte, wäre zu fragen warum nicht. Angst ums Klima und die – wenn auch indirekte – Nötigung, sein Haus, seine Wohnung mit Giftplatten zu verkleiden oder sein Geld in Riesterprodukte zu stecken, wäre dann einer der Gründe dafür, daß emanzipatives Handeln beim Konsum keine Selbstverständlichkeit ist.
        Oder allgemeiner: Daß eine neue Moral durchgesetzt werden soll.
        (Interessant, daß die Nutzung wirklich knapper Güter, wie Autobahnen, nicht kontingentiert wird, z.B. durch das überfällige Tempolimit.)

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        @KJN: Die Antwort ist ganz einfach: Ja, ich brauche das Internet. Hätte ich es nicht, müsste ich mir etwas überlegen, um Geld zu verdienen. Bei diesem Blog ist es etwas diffiziler, aber auch da würde ich sagen: ja, jetzt, wo ich sowieso im Internet bin, nutze ich auch diesen Blog mit Gewinn, um mich etwas abzulenken und über ein paar Dinge grundsätzlich nachzudenken.

        Grundsätzlich kennen wir (die meisten von uns) die Erfahrung, dass wir uns den Blick erst freischaufeln müssen, weil er im Alltag von allem Möglichen verstellt ist. Dass es kurzfristige angenehme Dinge gibt, die mittel- oder langfristig unangenehme Schäden produzieren. Dass Geld & Ressourcen an wichtigen Ecken fehlt, weil es an anderen, unwichtigen ausgegeben worden ist. Dass Pläne unerledigt bleiben, weil man sich nicht aufraffen kann. Dass es zu viel zu hässliches Plastik in allen möglichen Hinsichten gibt, das einem jede Erkenntnis und jeden Genuss verleiden kann. Das ist alles nichts Besonderes, ich weiß. Aber es ist unbestreitbar, dass jene „Reduktion“ hier eine Abhilfe darstellen kann.

        Das ist jedoch nicht alles, nicht einmal das wichstigste. Denn „Abhilfe“ ist rein negativ: da werden Missstände entschärft oder beseitigt. Aber hinzu kommt das Positive: dass es schön ist, wenn man etwas selber machen kann, aus Dingen, die da sind, statt sie sich zu kaufen. Ich habe neulich erhebliche Umbau- und Sanierungsarbeiten geleistet, die von Handwerkern ein Vermögen gekostet hätten, das ich nicht habe (-> Misstand). Sie sind nicht so perfekt geworden, aber: Ich bin stolz auf meine Arbeit, die ich unabhängig selbstverantwortlich zustande gebracht habe. Das ist ein gutes Gefühl, ein positiver Wert.

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        ….zu Ihrer anderen Frage: eine solche Haltung ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Das ist offensichtlich, man muss sich nur umsehen. Warum sie das nicht ist, weiß ich nicht, wahrscheinlich weil das „Zeug“/der Plunder enorm verlockend sein kann. So wie Zucker. Man stopft es in sich hinein und glotzt drauf und merkt gar nicht, ab wann es einem schadet und was man verpasst.

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      In diesem Zusammenhang möchte ich ein Plädoyer für die Aufrechterhaltung der Öffentlich-Rechtlichen abgeben. Hier besteht wenigstens die Chance, etwas zu senden, was fast keiner sehen will.

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        …das sollte eigneltich eine Antwort auf Herrn Posener werde und weiter oben stehen. Da bin ich wohl etwas verrutscht.

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      Reduktion heißt nicht Abschaffung. Ich bin kein Fortschrittsverweigerer, ich bin der Fortschritt. (Sagt der Protestantenrest in mir.) Im Internet bin ich, um meine Arbeit besser zu machen und ertragen und gucke sogar immer noch gerne schlechte Filme per Stream. Aber die Dauerberieselung im TV habe ich abgeschafft und das Smartphone, auf das alle ständig glotzen, schaffe ich – mir – gar nicht erst an.

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        Ist doch super!!! Wenn Sie jetzt dabei noch lächeln, haben Sie den Protestanten in sich überwunden. Im Grunde machen wir doch alle das gleiche. Die einen glauben es zu tun, weil die Alternative schlecht, verwerflich oder unnötig sei (was für mich protestantisch ist, aber zugegeben, da habe ich nicht wirklich Ahnung), also immer mit einer Sorgenfalte auf der Stirn, die anderen machen es, weil sie es können, also ohne ständiges Flimmern im Kortex. Am Ende des Tages ist bei beiden der Gelbe Sack voll. Der eine hatte Spaß, der Protestant hat ein Problem. Beide gehen schlafen. Ich weiß nicht, ob das Protestantismus ist, aber habe auf meinem Dadelapparat keine Apps, weil ich (leider) nur zwei Hände und zwei Augen habe, hätte ich von jedem Vier, würde ich noch ein Nintendo mitnehmen. Im Grunde ist es die traurige Erkenntnis, dass man nicht mehr konsumieren kann, als mit aller Gewalt reingeht. Also lässt man es, solange es noch gut tut. Als Protestant würde ich das als Bescheidenheit und Selbstbeschränkung auslegen.

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        Im Endeffekt muss doch jeder für sich selber herausfinden, was für ihn ‚artgerechte Haltung‘ ist – für den einen Pizza vorm Bildschirm, für den anderen 4 mal am Tag mit’m Hund ‚raus. Problematisch wird es, wenn das aus irgendwelchen Gründen nicht mehr geht oder gehen soll.

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        @Stevanovoc: Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, einen Witz zu machen, eigenltuch würde ich mich nicht als Fortschritt bezeichnen. Aber mein heutigeds reduzierteres Leben – das zum guten Teil auch zwangsweise reduziert worden ist aus Geldmangel – bedeutet jedenfalls einen Fortschritt für mich gegenüber meinem früheren konsumortientierten, oberflächlichen Leben. So empfinde ich es jedenfalls.

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    Zur Freiheit gehört es auch, in die falschen Dinge (oder neudeutsch nicht zielführende) zu investieren. Zur Lebensqualität gehört es dann auch, Dinge gut sein zu lassen. Wer weiß schon, wofür etwas am Ende gut ist. Wären Sie ohne Mao ein Liberaler geworden, hätten in einer Zeitung ein breites Publikum erreicht, Dinge bewegt? Oder hätten Sie ein qualitatives Buch über Gartenarbeit geschrieben, mit drei Lesern. Qualität ist kein Selbstzweck.

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    Wer kann ernsthaft etwas gegen Smartphone, i-phones, Tablets haben – eine Weltbibliothek für den Austausch am Küchenttisch. Gerechter war die Verfügbarkeit von Informationen nie. Es kommt eben immer darauf an, was man damit macht. Ich würde weiter gehen: Wer kann ernsthaft etwas gegen die Moderne haben – sie liefert uns doch die Chance, ein Mensch zu werden. Ein nicht getriebener, ein Individuum (oder so). Sie ist aber – wie gesagt – eine Chance, kein Programm. Der 14-Jährige, der seinen Eltern – vielleicht auf Hartz-IV – ein Smartphone abnötigt, hat vielleicht andere Beweggründe, vielleicht eher Statusdenken. In diesem Alter verständlich, aber ich meine, wir sollten Sinn und Zweck dieser Technologien nie aus dem Auge verlieren. Es ist schwer, dem/der 14 Jährigen solche Wünsche zu versagen, aber diese ‚gadgets‘ sind bestenfalls Mittel, Werkzeuge für etwas – was (allzu) Konservative lieber wieder einem Programm unterordnen würden, einem religiösen oder weltanschaulichen, wie die Grünen – nämlich der Selbstverwirklichung, die ich hier etwas theatralisch als ‚Menschwerdung‘ bezeichnet habe.
    Depressionen: Wenn die Haut, der Organismus durch ständige Schläge taub geworden ist, verhornt sie, der Organismus kapselt sich von der Welt ab. Damit stirbt er teilweise, weil er nicht mehr an der Welt (aktiv) teilnimmt, sondern passiv erträgt, existiert. Das ist Depression – wer das als Ideal ansieht, hat sie m.E. nicht mehr alle. Deswegen möchte ich in einer Welt leben, die Depression, Mobbing usw. thematisiert. Auch wenn das bisweilen ‚uncool‘ daherkommt und manche einen Profit zwecks ihrer eigenen Bequemlichkeit daraus ziehen oder mit der Formulierung neuer Krankheitsbilder (-> Pharmaindustrie) .
    Der Protestant in mir wehrt sich auch gegen das Affirmative in Ihrem Text, lieber Alan Posener und ich glaube, er hat recht, wenn man die Moderne als Programmatik begreift. Niemand zwingt einen jedoch, das zu tun: Die technischen (und gesellschaftlichen!) Entwicklungen im Kapitalismus sind eben keine ‚Programme‘ (auch wenn die Werbung anderes behauptet), sondern Versuche (trial & error) einer Evolution. So ist der ‚Protestant‘ einer, der nicht wegen seiner selbst protestiert (oder nur mittelbar), sondern einer, der sich einen neuen Herrn suchen will (warum auch immer).
    Erwischt haben Sie mich mit dem Garten (bei mir eine Obstwiese), der mir die Möglichkeit eröffnete, motorisierte Gartengeräte zu erwerben und zu betreiben – vielleicht demnächst noch ein Traktor. (Ein wirklich ‚grünes‘ Programm ist das jetzt auch nicht.) Letztlich Neugierde eines homo ludens.
    Die Digitalisierung lässt mich wieder viel Fotografieren (hatte als Schüler eine Dunkelkammer) – bei der Musik (meiner wirklichen Liebe) ist sie vielleicht die Ursache dafür, daß ich zwar bisweilen nächtelang am Synthesizer herumprobiere, das Altsaxofon aber seit langer Zeit unbenutzt auf dem Schrank liegt. Sicher könnte man das ‚therapieren‘ – ich frage mich nur – warum? Und wohin?
    Und ich glaube die Antimoderne (Pegida usw.) ist mehr Verlustangst, als alles andere.
    So meine Gedanken ins Unreine.

    @hans
    Warum Schrott nicht komplett wiederverwendet wird und stattdessen mehr Erz gefördert wird, entsprechend mehr Stahl aus Eisen Prozessiert wird, habe ich nie verstanden. Genauso wenig, warum ich im Auto keine deutschen MW-Sender mehr hören kann, die 500 Km lang zu hören sind. Aber ist ja auch egal, die sind eh‘ uninteressant, wie Alan Posener m.E. völlig korrekt bemerkt. In den USA und Kanada bekomme ich North West Public Radio auf MW in sehr guter Qualität. Daß das hier nicht mehr möglich ist – auch in dieser inhaltlichen, wie technischem Qualität – das ist diese europäische Modernismus-Programmmatik: Unbrauchbare Technik. Nützt nicht wirklich.

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    Langes Stück in der FAZ über einen Flühtling namens Basel, das ganz gemütlich beginnt, und dann kommt das:
    „Basel glaubt, die Illuminaten hätten auch den Krieg in Syrien begonnen, denn dafür gebe es Beweise: „Baschar al Assad und sein Vater haben immer gesagt, sie stünden auf der Seite der Palästinenser gegen Israel. Aber sie haben nichts gegen Israel unternommen.“ Wenn alle Araber sich einig wären, dann könnten sie Israel auslöschen. „Aber sie tun es nicht, weil die arabischen Führer Marionetten Israels sind!“ Sie stünden nun einmal unter Kontrolle der Illuminaten, also der Zionisten. „Sonst könnten sie Israel doch ganz einfach angreifen. Wenn die arabischen Länder eine gemeinsame Armee hätten, wären das 18 Millionen Soldaten! 18 Millionen Soldaten könnten jeden einzelnen Israeli auslöschen, denn das sind nur fünf Millionen!“
    http://www.faz.net/aktuell/pol.....51510.html

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      Wieso unterstützt Michel Friedman diese Basels? Das „Mädschen Rehm“ hat sich ähnlich über Israel und Juden geäußert. Und sie ist jetzt ein Refugee-Popstar. Seltsame Zeiten in der Bunten Republik.

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    Fritz Wunderlich, Zeitgenosse Fischer-Dieskaus, war kurz vor dem Debut in der Met, als er nach Treppensturz jung verstarb:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Wunderlich

    Heute würden manche Jugendlichen verlegen werden, wenn sie von ihm gesungene Liebeslieder von Schumann hören würden. Sie sind auf eine neue Art verklemmt, und die Dauerberieselung durch Knopf im Ohr schottet von der Umgebung und den Empfindungen schon mal ab, wie auch das unaufhörliche Computerspielen. Ihr i-phone schadet Ihnen nicht, weil sie fertig waren vor sechs Jahren. Die vollkommene Abschottung durch digitale Medien jedoch birgt Gefahren, und bei manchem Überläufer zu radikalen Weltansichten muss man sich fragen, ob die Obsession schon vorher vorhanden war. Das würde bedeuten, dass man mehr mit Dosierung arbeitet, zum Beispiel schulisch den Umgang mit Medien sehr frühzeitig lehrt, denn viele Eltern gucken einfach weg, weil digitalisierte Kinder bequemer sind, weil dauerabgelenkt. Wenn die plötzlich aus Syrien anrufen, fallen die Eltern aus dem Bett, aber zu spät.
    Will sagen, als Ergänzung sind Neuentwicklungen gut, nicht aber als vollständiger Ersatz für Kreativität oder gar Liebe.
    Gerade fasziniert mich immens, wie die Republik Rom ihre Aquaedukte und eine vollständige Wasserleitung auf die Beine gestellt hat. Vergleiche ich das mit unseren Verkabelten, weiß ich, was besser war. Insofern warte ich auf eine Epoche der Kritik und Selbstkritik bei apple et al., aber auch auf die Erkenntnis, dass es schon ziemlich armselig ist, wenn man an einem einzigen Flughafen so lange irrlichtert.

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    Was Qualität betrifft, können Sie sich nicht selbst nennen. Ich kann das aber, der Leser, zu messen beispielsweise an so einem Absatz:

    „Wenn Sie redlich und geistig unabhängig sind, dann werden Sie sich nicht anpassen können. Unangepasst sein an sich – dieses Lob des Querdenkens – das ist Quatsch. Man muss auch mal ehrlich genug sein, zu sagen, da stimme ich mit dem viel gescholtenen Mainstream überein. Ich bin ein großer Freund der politischen Korrektheit. Ich kann es nicht leiden, dass sie ständig runter gemacht wird. Sie ist eine Art Übereinkunft, dass ich freundlich über Leute rede und dass ich überlege, wen ich verletze usw. Unangepasstheit empfinde ich als keine Qualität an sich. Am Ende würde ich sagen, die wichtigste Sache ist Redlichkeit. Wenn Sie redlich sind, dann werden Sie gelegentlich unangepasst sein und um redlich zu sein, muss man unabhängig denken können. Redlichkeit ist das Wichtigste und das Schwierigste. Auch sich selbst gegenüber redlich zu sein, ist fast unmöglich.“

    Anm.: Manche schaffen anscheinend durch Fusionen Qualität ab. Falls sie aber hierdurch in den Sektor „Systemrelevante Firma“ vordringen, ist auch gerade egal, was der Leser denkt. Der Leser windet sich still voller Qual. Dies betrifft zur Zeit ein Tages- und ein Wochenjournal, die oben bestens in ihren besten (vergangenen) Zeiten beschrieben sind. Bevor ich für solcherlei Seichtheit zahle, abonniere ich lieber den Atlantic, der überdies als einziges Journal erwähnte, dass Assad (dort: „The Syrian Government“) die Leute aus dem Ostteil vorher aufgefordert hat, sich in andere Stadtteile zu begeben. Details, die man hier nicht mehr liest und die, meine ich, einen Unterschied machen.
    Die Information heute in Deutschland wirkt, als hätte man sie zuerst gewaschen, dann im Trockner gehabt und danach gebügelt, so flach und undifferenziert, hohl, vorhersehbar oft.
    Ausnahmen bestätigen die Regel.

    Der andere gestreifte Punkt, Bildung, wird schon lange diskutiert. Was nachwächst, ist ein Produkt der Art von Bildung, die entsteht, wenn man jeden durchschiebt zum Abitur plus der von Jugendlichen freiheitlich! ausgewählten Unterhaltung. Wie man aber Jugendliche ohne Zwang zu anstrengenderer Lektüre bringen soll, ist sicherlich ein unlösbares Rätsel.

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      Lieber Oleander, ich habe nicht den Eindruck, dass man „jeden durchschiebt zum Abitur“, und ich würde gern wissen, auf welcher empirischen Grundlage Sie eine solche Behauptung aufstellen. Mein Abitur jedenfalls (1969) war ein Witz verglichen mit den Anforderungen heute.

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        Mein Abitur – nicht in Berlin – war sehr schwer. Ich schaffte nicht ganz, was ich mir vorgenommen hatte.
        Heutzutage wird von einer mirakulösen Einserschwemme geredet. In der Presse.

        Außerdem erscheint Ihnen Ihr Abitur nur leicht – das ist an sich logisch.

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    Der Katholik in mir meutert ein bisschen – nicht nur platte Affirmation, auch Dankbarkeit, OK. Aber sonst: so alles in allem kein grundsätzlicher Einwand? Ist das in Ordnung?

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        Eher nicht. Ein guter Protestant schwimmt mit dem Strom. Wenn’s irgend geht, schwimmt er schneller als der Strom. Der Katholik dagegen ignoriert den Strom, badet ein bisschen und versucht, an derselben Stelle aus dem Wasser zu kommen, an der er reingegangen ist (was nicht immer gelingt).

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        Großes Thema, EJ. Als jemand, der intellektuell mit dem Protestantismus, emotional mit dem Katholizismus sympathisiert, würde ich Ihrer Kennzeichnung des Protestanten als eines Menschen, der mit dem Strom schwimmt, entschieden widersprechen.

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        EJ, Ihr Gleichnis ist sehr schön, deshalb ist es egal, ob es zutrifft oder nicht. Aber bereits der Begriff „Protestant“ deutet darauf hin, dass etwas nicht stimmen kann: Der Protestant protestiert. Er stellt einen Widerstand im Strom dar. Er ist eigentlich ein Wutbürger.

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        ..allerdings arbeitet er bis zum Umfallen und will Fortschritt. Das meinten Sie wahrscheinlich.

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        OK, ich habe das war aus katholischer Sicht und etwas gemein und hoffentlich deshalb blickschärfend formuliert.

        Insofern Protestant, drücken Sie das Schwimmen mit dem Strom natürlich etwas vornehmer aus. Als Protestant meinen Sie, an der Spitze der Entwicklung zu stehen, und meinen vielleicht sogar zu führen. Als Katholik gestehe ich Ihnen zu, dass die Protestanten einst wohl tatsächlich die Schleusen geöffnet haben. Aber werden die Protestanten nun nicht genau so wie der Katholik vom Strom fortgerissen? Die Protestanten ein bisschen schneller allenfalls, weil widerstandsloser?

        Ihr Einverständnis mit der Gegenwart ist mir natürlich nicht fremd, APO. Aber ich habe doch auch leise Zweifel an dessen Validität. Entwicklung hat was sehr Eigenständiges. Sie ist auch ein Strom. Und Fortschritt ist auch Fortgerissen-werden. Und je länger sie dauert, desto mehr ist Entwicklung fortreißender Strom. Mit anderen Worten – wie weit ist unser scheinbar so frohgemutes Einverständnis nicht auch Ausdruck von Alternativlosigkeit, nicht auch ultima ratio, (quasi religiös überhöhter) Fatalismus? Ist die Selbstmordrate unter Protestanten nur zufällig höher als unter Katholiken?

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        Willi Winkler nennt Luther in seiner neuen Biographie des Reformators einen „deutschen Rebell“. Und das ist gut erfasst. Luther ist ein Rebell gegen die Moderne. Eine typisch deutsche Haltung.

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        Lieber Alan Posener, Luther als „Deutscher Rebell“ gegen die Moderne – diese Diagnose ist nicht neu. Ohne das Buch von W.Winkler gelesen zu haben: Vieles zu Luther, wie auch anderen, ist im xten Aufguss nur bemüht innovativ, in Bezug auf Luther gerade zum anstehenden Reformationsjubiläum . Oder um es mit H.Heimpel etwas provokant zu formulieren: „Belesenheit schützt vor Neuentdeckungen!“

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        Winkler habe ich nicht gelesen. Womöglich müsste ich ihm gar nicht widersprechen. Wogegen Luther treten wollte und was er losgetreten hat, sind zwei verschiedene Dinge. Dass Luther gegen die Moderne rebellierte, bezweifele ich allerdings insofern, als das die Moderne (irgendwie jedenfalls) voraussetzt. Von Moderne kann zu seiner Zeit aber in keiner Weise die Rede sein, denke ich. Wenn damit jedoch gemeint ist, dass er gegen bestimmte (Fehl-)Entwicklungen war und „zurück“ wollte – „ad fontes“ (und da sind wir auch schon wieder beim Strom 😉 ) – dann ist das sicher richtig. Wobei er aber den geschichtsphilosophischen, soziologischen, psychologischen, biologischen usw. Begriff der („eigenständigen“) (Fehl-)Entwicklung nicht bzw. nur in uns fremd gewordenen (aber doch durchaus auch bezeichnenden) Vorformen wie z.B. „Teufelswerk“ o.ä. gekannt haben kann.

        Auf solche Spezialitäten wollte ich aber gar nicht hinaus. Meine Frage war eine viel allgemeinere. Implizit(!) ist die oben erwähnte Dankbarkeit ja schon mehr als bloßes Einverständnis. Sie nimmt einen „Standpunkt außerhalb“ ein und unterstellt, dass es auch anders sein könnte (und ist dankbar dafür, dass es so und nicht anders ist). Meine Frage oben meint in diesem Sinne, ob Moderne so ganz und gar unser Aufgehen in ihr verlangen kann, wie Ihr Ja suggeriert? Ob ihr nicht gerade dann Wesentliches fehlt. Der Restkatholik in mir rebelliert jedenfalls dagegen, namenlos als bloßes Momentum, als bloßer Impuls in einem anonymen (protestantischen) Gnadengeschehen aufzugehen. Mein Restkatholik, ich kann auch nichts dafür, möchte mitreden und mitentscheiden. Schließlich sei er Mensch, moderner Mensch, habe Wert und Würde, höre ich ihn aus einem Winkel irgendwo drinnen sagen.

      9. avatar

        … deutsche Haltung ‚gegen die Moderne‘, da bekommt mein Hamster einen Schluckauf. Wirklich! … soll/te ‚das britsche Imperium‘ die britische Haltung, gegen Deutschland, ‚die Moderne‘ sein?

        … im Übrigen sind Lutheraner Irrgläubige.

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        Mein Hund kriegte da auch Schluckauf und ich Diarrhoe, dbh. „Rebell gegen die Moderne“. Ich weiß, dass Luther Antisemit war, aber dass Juden mit Moderne gleichgegesetzt werden, damals, wusste ich jetzt nicht.

        Ansonsten kapier ich das nicht, denn Luther übersetzte die Bibel und arbeitete an der Modernisierung der Sprache. Außerdem schaffte er für seine Gruppe das Zölibat ab.

        Ich checks nicht.
        Heute sind die Evangelen verspießt und miefig und jederzeit erkennbar im Urlaub an Birkenstock und Söckchen. Katholiken wirken wieder prämodern.

  11. avatar

    … liiiieber Alan Posener, Schrott ist ein (wertvoller) Sekundärrohstoff. Das wird die ‚Wegwerfgesellschaft‘ noch lernen (müssen).

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