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Gesinnungszwang im Netz

Seit Wochen sieht sich Politikprofessor Herfried Münkler von der Humboldt-Universität zu Berlin anonymen Anwürfen im Internet ausgesetzt. Die Kritiker im Internet-Blog „Münkler-Watch“ werfen ihm all das vor, was linke Kritiker einem Menschen vorwerfen können, der sich politisch in der Mitte der Gesellschaft verortet: Er stelle in seiner Vorlesung (und seinen Büchern) abweichende Meinungen, z.B. andere (linke) Demokratiekonzepte, Genderthemen, Theorien außereuropäischer (linker) Politologen, nicht dar, sei deshalb ein „Extremist der Mitte“. Die Kritiker, Studenten aus seiner Vorlesung, suchen nicht die Diskussion mit dem Gescholtenen und ihen Kommilitonen an Ort und Stelle – also in der Vorlesung. Nein, sie ziehen die Anonymität des Internets vor, weil sie Nachteile für ihre Karriere (schlechte Noten) befürchten, wenn ihre Identität bekannt wird. Außerdem fühlten sie sich im offenen intellektuellen Schlagabtausch dem Professor rhetorisch nicht gewachsen. Der Professor nennt sie wegen ihres Kneifens „erbärmliche Feiglinge“.

Das zivile Leben in unserer freien Gesellschaft ist auf Transparenz angelegt. Vielfältige Kennzeichnungspflichten helfen, mögliche Gefahrenquellen zu minimieren. Autokennzeichen erlauben es, Verkehrssünder zu identifizieren. Jedes Gewerbe, selbst die kleinste Imbiss-Bude, muss registriert werden, damit die Behörden Hygiene-Kontrollen, Steuerprüfungen, Arbeitsschutz-Kontrollen durchführen können. Vor einigen Jahren wurde das Vermummungsverbot bei Demonstrationen eingeführt, weil aus dem Block der schwarz vermummten „Autonomen“ heraus schwere Straftaten verübt worden waren. Im Gegenzug erhielten Polizisten Kenn-Ziffern, um auch gegen sie besser ermitteln zu können, wenn sie das Gesetz gebrochen haben. In den meisten europäischen Demokratien gibt es ein Verbot der Ganzkörperverschleierung von muslimischen Frauen (Burka). Zur Demokratie und zur aufgeklärten Zivilgesellschaft gehört das offene Visier, das freie Gesicht.

Es ist schon merkwürdig, dass das offene Visier ausgerechnet im Schattenreich des Internets nicht gelten soll. Hier legen die Verfechter der „Freiheit im Netz“ Wert darauf, dass die Nutzer anonym unterwegs sein dürfen. Warum eigentlich? Die Verteidiger des Anonymen pochen auf dieses Ausnahmerecht, weil es sich um ein neues Medium handelt, das nicht mit der Elle der Konvention zu messen sei.

Doch: Kann man die Humanitas einer Gesellschaft, das friedliche Miteinander der Menschen von der technischen Entwicklung abhängig machen? Ich glaube: Nein! Man muss zivilisatorische Standards überall verteidigen, wo sie bedroht sind. Deshalb muss die zivile Gesellschaft Wert darauf legen, dass sich die Kommunikationspartner freien Blickes, also unverhüllt, gegenübertreten.

Die Anonymität im Netz gebiert Ungeheuer, könnte man frei nach Goya sagen. Niedrige Instinkte werden freigesetzt, wenn die soziale Kontrolle wegfällt, die dadurch gegeben ist, dass man mit seinem Namen für seine Meinung einsteht.   Eine besonders perfide Aktion startete vor einiger Zeit die Gruppe „Anonymous“ gegen die Schriftsteller und Autoren, die den Aufruf „Wir sind die Urheber. Gegen den Diebstahl geistigen Eigentums“ ins Netz gestellt hatten. Die „Anonymen“ veröffentlichten die Namen, Adressen und Telefonnummern der Initiatoren dieser Initiative, und nicht nur das: Sie veröffentlichten auch die persönlichen Daten ihrer Familienangehörigen – samt Wohnadressen. Im Klartext sollte das heißen: „Wir wissen, wo ihr wohnt, und die Netzgemeinde weiß es jetzt auch! Wir können euch jederzeit attackieren, nicht nur im Netz, sondern auch real“.

Menschen öffentlich zu brandmarken und zu nötigen markiert einen Rückfall in mittelalterliche Strafpraktiken. Die Fanatiker mit der weißen Maske sind vielleicht noch zu jung, um zu wissen, dass ihre Aktion ein berüchtigtes Vorbild hat. Als Joseph Goebbels im Jahre 1926 von Adolf Hitler zum Gauleiter von Berlin ernannt wurde, begann er systematisch, das öffentliche Leben mit radikalen, vor allem gegen die Juden gerichteten Aktionen zu vergiften. Eine Aktion bestand darin, dass die NSDAP die Namen und Adressen reicher jüdischer Bürger Berlins in ihren Parteizeitungen veröffentlichte und ihre Anhänger dazu aufrief, einen „Villen-Spaziergang“ zu machen. So zogen grölende SA-Trupps an den Villen im Grunewald und am Wannsee vorbei und beschmierten die Zäune und Tore mit NS-Parolen. „Wartet nur, wir kriegen euch!“, sollte das heißen. Nur wenige Jahre später sollten die Drohungen Wirklichkeit werden.

Münkler sieht in der Gesinnungskontrolle im Netz durchaus Parallelen zu den Zuständen nach 1933. Damals saßen NS-Sympathisanten in den Hörsälen deutscher Universitäten und schrieben mit, wenn sie in den Vorlesungen „Undeutsches“, „Jüdisches“ oder „Pazifistisches“ vernahmen. Das Internet war noch nicht erfunden, die Nazi-Spitzel konnten sich darin noch nicht verstecken. Das hatten sie auch gar nicht nötig. Sie pöbelten die Nazis die Professoren in den Vorlesungen direkt an, weil sie sich – die braune Staatsmacht im Rücken – sicher fühlen konnten. Wie die Einschüchterung im Hörsaal funktionierte, kann man in der Parabel „Maßnahmen gegen die Gewalt“ von Bertolt Brecht nachlesen.

In den letzten Jahren meiner Lehrertätigkeit hatte ich häufig mit Internet-Mobbing zu tun. Klassenkameraden wurden in anonymen Hass-Mails beschimpft, beleidigt und bedroht. Ein Mädchen weigerte sich, noch weiter in die Schule zu gehen. Sie musste sich schließlich in psychologische Behandlung begeben. In den meisten Fällen konnten wir die Urheber des Mobbing durch Gespräche innerhalb der Klasse ermitteln, manchmal mussten wir aber auch die Kriminalpolizei einschalten, um die IP-Adresse der Täter ermitteln zu lassen. Auch in der Schule sind die Hemmschwellen für Beleidigungen und Bedrohungen gesunken, weil sich die Täter im Schutz der Anonymität Gemeinheiten erlauben können, die sie Aug in Auge mit den Mitschülern nie wagen würden.

Was ist dagegen zu tun?

Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek fordert die freiheitlichen Gesellschaften des Westens dazu auf, sich ihrer Wurzeln in der europäischen Aufklärung zu besinnen und „die Dinge, die unmöglich zu ertragen sind“ (Jacques Lacan) mit Hilfe staatlicher Interventionen zu bekämpfen: „Toleranz ist […] keine Lösung. Was wir brauchen, ist eine übergeordnete Leitkultur, die regelt, auf welche Weise die Subkulturen interagieren.“ (DER SPIEGEL 12, 2015, S. 133).

Dabei beruft sich der Philosoph auf den Begriff der „sittlichen Substanz“, den Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Schrift „Phänomenologie des Geistes“ als Leitidee für den Zusammenhalt der bürgerlichen Gesellschaft geprägt hat. Slavoj Zizek leitet daraus das Interventionsrecht der Zivilgesellschaft und des Staates ab, Gefährdungen des verträglichen Zusammenlebens auch mit Hilfe von Gesetzen entgegenzutreten: „Wir haben das Recht, Grenzen zu setzen“ (ebd.).

Es wird Zeit, dass sich die Zivilgesellschaft auf ihre humanen Grundlagen besinnt und dem Wildwuchs im Internet Grenzen setzt. Es sollte künftig selbstverständlich sein, dass sich alle Menschen, die im öffentlichen Raum real oder virtuell miteinander kommunizieren, mit offenem Visier begegnen. Der (europäische) Gesetzgeber könnte der Anonymität im Netz Einhalt gebieten. Jeder Internetzugang sollte, wenn er eingerichtet wird, automatisch mit einer Signatur versehen werden, die den Klarnamen des Nutzers enthält. Dies entspräche dem Absender eines „analogen“ Briefes. Dann würde sich bei Rechtsverstößen die umständliche Ermittlung der IP-Adresse erübrigen, weil jeder Nutzer auf einen Blick erkennen könnte, wen er vor sich hat, selbst dann, wenn er mit anonymen Mail-Adressen agiert.

Die großen Zeitungen und Zeitschriften sollten jetzt schon ein Zeichen setzen und die Kommentarspalten zu ihren Artikeln nur noch für die Leser öffnen, die ihren Klarnamen preisgeben. Der alte liberale (bewährte) Zeitungsgrundsatz wäre dann wieder in sein Recht eingesetzt: „Anonyme (digitale) Zuschriften werden nicht berücksichtigt!“

 

 

 

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