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Die Türkei muss sich ihrer Vergangenheit stellen

Am Freitag wird der Bundestag über einen Antrag der Regierungsfraktionen abstimmen, in dem es heißt, die „planmäßige Vertreibung und Vernichtung von über einer Million ethnischer Armenier“ stehe „beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist. Dabei wissen wir um die Einzigartigkeit des Holocaust, für den Deutschland Schuld und Verantwortung trägt.“


Wie Richard Herzinger richtig feststellt, wird der Begriff „Völkermord“ in dieser verquasten Formulierung nur „halbherzig“ angewendet.
Andererseits bin ich kein Wort-Fetischist. Die Feststellung einer „planmäßigen Vertreibung und Vernichtung von über einer Million Armenier“ ist das Entscheidende, nicht das Wort, mit dem diese Vernichtung beschrieben wird, und dessen Bedeutung in der Geschichte geschwankt hat.

Die Reaktion türkischer Politiker und Vereinssprecher auf die angekündigte Resolution freilich wäre komisch, würde sie nicht ein so bezeichnendes Licht auf die zivilisatorischen Mängel ihres Landes werfen.
So soll Ministerpräsident Ahmet Davutoglu im Telefongespräch mit Kanzlerin Angela Merkel argumentiert haben, die Verwendung des Begriffes „Völkermord“ für die Massaker an den armenischen Einwohnern des Osmanischen Reiches im Jahr 1915 sei nicht zulässig, da dieser Terminus erst nach dem Zweiten Weltkrieg ins Völkerrecht aufgenommen wurde.

Es ist ja richtig, wie Matthias Heine feststellt, dass der Begriff erst in den Nürnberger Prozessen als Straftatbestand genannt und dass er erst seit 1954 im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik als Handlungen, die in der Absicht begangen werden, „eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, definiert wurde. Nach Davutoglus Logik gäbe es darum erst ab 1954 Völkermorde. Der Holocaust etwa wäre ebenso wenig ein Völkermord gewesen wie die Ausrottung der Hereros.
Davutoglus Einwand mag juristisch – etwa für die Frage von Reparationen und anderen Formen der „Wiedergutmachung“ – etwas für sich haben. Bei der historischen und moralischen Beurteilung eines Verbrechens aber geht es darum, wie bestimmte Handlungen nach unseren heutigen Maßstäben bemessen und bezeichnet werden. Man mag glauben oder nicht glauben, dass die Täter aus welchen Gründen auch immer guten Gewissens handelten: bekanntlich war Heinrich Himmler der Ansicht, die SS sei beim Massenmord an den Juden alles in allem „anständig geblieben“. Solche Nichtanwesenheit von Schuldgefühlen ist  historisch als Faktum interessant, ändert aber nichts an den Taten und an unserem Urteil über diese Taten.
Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan leugnet, dass es einen Völkermord an den Armeniern gegeben habe. Nicht, dass er sonst ein Problem mit dem Wort hätte: letztes Jahr warf er Israel einen „systematischen Völkermord“ an den Palästinensern in Gaza vor. Sowohl Erdogan als auch Davutoglu unterstützen offen die Hamas, die nun tatsächlich zum Völkermord an den Juden aufruft, denen sie unter vielem anderen die Verantwortung für den Ersten und Zweiten Weltkrieg unterstellen. In Artikel 7 der Hamas-Charta heißt es: „Der Prophet – Andacht und Frieden Allahs sei mit ihm, – erklärte: Die Zeit wird nicht anbrechen, bevor nicht die Muslime die Juden bekämpfen und sie töten; bevor sich nicht die Juden hinter Felsen und Bäumen verstecken, welche ausrufen: Oh Muslim! Da ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt; komm und töte ihn! (…)“

Vor diesem Hintergrund sind die in der Presse zitierten Äußerungen türkischer Vereinsvertreter in Deutschland zu beurteilen. „Ein Völkermord ist die schwerste Straftat, die die Weltgemeinschaft kennt“, sagte etwa Ali Söylemezoglu, Vorsitzender des türkischen Vereins „Dialog und Frieden.“ Nur ein Gericht habe die Befugnis, einen Völkermord festzustellen. „Wenn der Bundespräsident von Völkermord spricht, überschreitet er seine Kompetenzen.“

Würde Söylemezoglu seinen Präsidenten wegen Überschreitung seiner Kompetenzen in Sachen Israel kritisieren, seine Worte hätten vielleicht mehr Gewicht.
Freilich kennt niemand den Verein „Dialog und Frieden“. Söylemezoglu allerdings ist bekannt als Autor eines Machwerks zum Massaker an den Armeniern, in dem er behauptet, nicht die muslimischen Türken hätten die Armenier vernichtet, vielmehr hätten die christlichen Armenier als Kollaborateure der christlichen Russen mehr als drei Millionen Muslime umgebracht und sich dann in die Sowjetrepublik Armenien zurückgezogen. Die auf den Deportationen umgekommenen Armenier seien nicht Opfer der Türken, sondern der Kurden und Tscherkessen geworden. Die jungtürkische Regierung habe damit nichts zu tun gehabt, sondern habe versucht, die Armenier zu schützen. Das, was Söymezoglu über Papst Franziskus sagt, kann man getrost auf ihn selbst beziehen: „Der Papst war noch nie ein Verkünder von Wahrheiten. Für die Wahrheitsfindung sind die Worte des Papstes noch nie geeignet gewesen.“
„Eine einseitige Darstellung der Geschichte schadet der Freundschaft zwischen Deutschland, der Türkei und Armenien“, warnt Niyazi Öncel vom Verein „Gedankengut Atatürks“. Auch so ein Verein, den kaum jemand kennt und der niemanden vertritt. Was der Verein von ausgewogener Darstellung der Geschichte hält, sieht man aber daran, dass die Zentrale in Ankara schon mal die Regierung aufgefordert hat, Google zu blockieren, weil dort auch negative Darstellungen des Gedankenguts des Vaters der Türken zu finden sind.

Etwas mehr Legitimität hat Bekir Yilmaz, Präsident der Türkischen Gemeinde in Berlin. Er meint: „Wenn das EU-Parlament, der Papst und der Bundespräsident dazu beitragen wollen, dass das Problem gelöst wird, sollten sie darauf hinwirken, dass sich beide Seiten an einen Tisch setzen. Alles andere führt nur dazu, dass sich die Fronten verhärten.“ Die Wahrheitsfindung, so Yilmaz, sollte nicht in Parlamenten stattfinden, sondern in Gerichtssälen. Nun, weder Parlamente noch Gerichte finden die „Wahrheit“, zum Glück, jedenfalls nicht in einem Rechtsstaat. Gerichte sprechen Recht, und Parlamente drücken mit Resolutionen die Haltung der Bürger aus. Ein Gerichtsverfahren zum Massaker an den Armeniern wird es nicht mehr geben können; soll es deshalb nicht möglich sein, historische Kenntnisse zu gewinnen und sich auf dieser Grundlage ein Urteil zu bilden? Absurd. Und weshalb wird die nötige Diskussion zwischen Armeniern und Türken durch eine Resolution des Bundestages erschwert? Eher wird sie beschwert durch die Tatsache, dass es bisher in der Türkei kaum möglich war, offen über die Ereignisse von 1915 zu diskutieren, ohne ein Gerichtsverfahren an den Hals zu bekommen.

Die knapp drei Millionen in Deutschland lebenden Türken litten ohnehin schon unter der Debatte über Integration, Islamfeindlichkeit und Pegida, so Yilmaz. Sollten die Bundestagsabgeordneten die geplante Resolution beschließen, legten sie damit „noch eine Schippe drauf“. So soll die Frage, ob historische Fakten Gültigkeit besitzen, von den Empfindungen der hier lebenden Türken abhängig gemacht werden? Was ist mit den Empfindungen der hier lebenden Armenier? Gelten sie weniger, weil es ihrer weniger gibt?
Ich habe mich bekanntlich wiederholt gegen die Kriminalisierung der Leugnung des Genozids an den Armeniern ausgesprochen, so auch hier.

Aber das heißt nicht, dass ich diese Leugnung richtig finde. Die Türkei muss sich ihrer Vergangenheit stellen.

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23 Gedanken zu “Die Türkei muss sich ihrer Vergangenheit stellen;”

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    Nebenbei.
    Wunderbar:
    Hannes Stein, ausgestattet mit einem sicheren Instinkt für die Ästhetik von New York City (sein favorite die Brooklyn-Bridge), beschreibt einen neuen Ozeandampfer:
    In Wahrheit ist es wunderschön: kein stecken gebliebener Doppeldeckerbus, sondern ein Ozeandampfer auf großer Fahrt. Wie auf einem Schiff gelangt man von einem Stockwerk – oder Deck – zum anderen nicht nur über Aufzüge, sondern auch über Außentreppen.

    Und wie der gestrenge Kritiker des „New York“-Magazins konstatierte, ist dies das ideale Museum für Leute, die sich eigentlich nicht sehr für Kunst interessieren: In jedem der oberen Stockwerk kann man sich an die frische Luft wagen, auf eine Terrasse, und den Blick ungezügelt schweifen lassen. Auf der einen Seite schaut man bis hinüber zur Freiheitsstatue, auf der anderen Seite über die ineinander verschachtelten Dächer der Stadt; tief drunten das Gewusel der Flaneure auf der High Line. Links daneben zieht der Hudson breit seine Bahn.
    http://www.welt.de/kultur/kuns.....-York.html

    Da muss ich mal hin.
    Fürchterlich: Der Turmbau zu Babel:
    http://www.welt.de/finanzen/im.....ismus.html

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    Immerhin werden die Kolonialverbrechen an den Herero – und die extreme Absurdität des Arguments, dass es vor 1954 keine Völkermorde gegeben hat, weil es bis dahin die juristische Konstruktion dazu noch nicht gab – mittlerweile in der Tagesschau benannt:

    http://www.tagesschau.de/multi.....79591.html

    Lange kann es nicht mehr dauern, bis auch die Regierung einlenkt und das unter den Teppich Gekehrte aufräumt (sofern das Thema nicht gleich wieder verschwindet).

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    @ Stevanovic,

    „…Der Völkermord ist nur eines der Themen, über die man in der Türkei nicht sprechen kann. Wäre die Türkei (die staatlichen Strukturen) in der Lage, solche Diskurse auszuhalten, wäre dieses Thema überhaupt keines, oder es wäre da wo es hingehört, bei den Historikern. Der nicht auszuhaltende Zustand ist nicht eine andere Sichtweise auf ein historisches Ereignis, es ist das Unvermögen eine Debatte zu führen. Das Verbot einer Leugnung des Völkermordes ist das gleiche, nur andersherum….“

    Das stimmt doch so nicht. Seit über einem Jahrzehnt finden sie in den prominentesten Buchhandlungen des Landes die gesamte Palette des diesbezüglichen Meinungsspektrums, stehen die Werke derer, die einen Völkermord behaupten einträchtig neben jenen, die dies verneinen. An privaten, aber auch an staatlichen Universitäten finden regelmäßig Konferenzen statt, in deren Rahmen das gesamte Spektrum präsentiert wird.

    Tabus bestehen eher mit Blick auf der gesellschaftspolitischen Ebene, einfach deswegen, weil – wie angedeutet – die Annahme eines Völkermordes den historischen Narrativen des türkischen Mainstreams widerspricht. Natürlich haben vergangene türkische Regierungen ihren Anteil daran. Und auch heute gibt es noch viele bedeutsame Stimmen, die in den Armeniern eher Täter als Opfer sehen. Davon müssen viele Türken sukzessive genauso Abschied nehmen, wie aber auch umgekehrt im Ausland keine Legende gepflegt werden sollte, die in Armeniern einseitig nur Opfer sieht.

    Staatlich gepflegte und verordnete Tabus gab es früher natürlich auch, was aber in einem beträchtlichen Maße auch damit zu tun hatte, dass die Türkei ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dieser Geschichte nicht im Gewand „unschuldiger“ historischer Wissenschaft konfrontiert wurde, sondern durch ganz anders geartete politische Partikularinteressen sowie durch Terrorismus. Letzteres wird heute ganz gerne übersehen, aber der Terror der ASALA war genauso real, wie die späteren Versuche pkk-naher und kurdisch-nationalistischer Kreise, politisch-propagandistischen Profit aus der Sache zu ziehen.

    Insofern kommt es nicht von ungefähr, dass der seit einigen Jahren trotz diverser Rückschläge beachtliche Fortschritte zeitigende Versöhnungsprozess zwischen Regierung und kurdischen Strömungen auch das Klima um die Erörterung der historischen „Armenierfrage“ im liberalisierenden Sinne positiv beeinflusst hat.

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    @ Parisien: es waren weniger Franzosen und Briten, die vor dem Ersten Weltkrieg irgendwelche Versprechungen in Richtung armenischer Eigenstaatlichkeit abgegeben haben, als vielmehr die Russen, die schon damals über sehr ausgefeilte Methoden und Techniken verfügten, Nachbarstaaten durch gezieltes Schüren ethnischer oder religiöser Konflikte nachhaltig zu destabilisieren und Minderheiten für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Der im rapiden Zerfallsprozess befindliche osmanische Vielvölkerstaat war für solche Strategien natürlich besonders anfällig. Dieser damaligen Geschichte müssen sich nicht nur heutige Türken stellen. Insofern entbehrte es nicht eines gewissen Zynismus, dass ausgerechnet Putin – der heute in der Ukraine eine ähnliche Methodik anwendet, wie seine zaristischen Vorgänger mit Blick auf das Osmanische Reich – bei den Gedenkfeierlichkeiten in Eriwan derart prominent in Erscheinung trat. In einem hatte er allerdings recht: als er nämlich für Russland beanspruchte, diese Frage überhaupt wieder auf die internationale Agenda gebracht zu haben. Nach WKII war es Stalin, der unter Berufung auf die damals noch junge Anti-Völkermordkonvention der UN Territorialforderungen gegenüber der Türkei geltend zu machen bestrebt war. Es gibt gar den einen oder anderen Historiker, der darin die eigentliche Initialisierung der türkischen Westbindung samt NATO-Mitgliedschaft sieht.

    Was Erdogan anbelangt: seine AKP steht in ihren politisch-historischen Wurzeln dem Jungtürkentum und seinen durch und durch von den Europäern entlehnten weltanschaulichen Grundlagen spinnefeind gegenüber. Wenn es eine bedeutsame politische Strömung in der Türkei gibt, die in dieser Angelegenheit zu Konzessionen bereit ist, dann ist das die AKP mit ihren Wurzeln im politischen Islam.

    Nebenbei, Herr Posener: diese Geschichte hatte mit vielerlei zu tun, aber ganz sicher nicht mit irgendwelchen Initiativen zum Cihad. Wenn ich mich recht entsinne, war Max v. Oppenheim, der Vater der Cihad-Idee, doch Ihr Verwandter, oder? Wie dem auch sei: als die Deutschen mit dieser Idee seinerzeit bei Enver Pascha vorstellig wurden, bestand dieser darauf, dass sich eine diesbezügliche Propaganda auf die Muslime im nichtosmanischen Ausland beschränken müsse. Aus einer ganzen Reihe von Gründen verbat er sich eine solche religiöse Aufheizung mit Blick auf die innerosmanischen Verhältnisse.

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      Lieber Fatih Orsoy, vielen Dank für die sachlichen und erhellenden Kommentare. Ich war zwei Tage im Kosovo, deshalb werden sie erst jetzt veröffentlicht.

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    „…Davutoglus Einwand mag juristisch – etwa für die Frage von Reparationen und anderen Formen der „Wiedergutmachung“ – etwas für sich haben. …“

    Da Sie das Beispiel der Herero ja selber nennen: ist Ihnen bekannt, dass das offizielle Deutschland seit eh und je mit exakt diesem Argument eine Einordnung der Herero- und Nama-Massaker als Völkermord verweigert? Die argumentativen Parallelen bestehen dabei nicht nur unter formaljuristischen Gesichtspunkten, selbst in der substanziellen Darstellung der damaligen Geschehnisse bedienen sich viele (staatsnahe) deutsche Historiker Argumentationsfiguren, die man auch aus der tradierten türkischen Position kennt. „Niederschlagung von Aufständen“ und „militärische Notwendigkeit“, „keine Vernichtungsabsicht“, wobei man den Vernichtungsbefehl v. Trothas dadurch negiert, in dem man darauf verweist, dass „Vernichtung“ im (historischen) militärischen Fachjargon allgemein die Ausschaltung von Kombattanten in einem bewaffneten Konflikt meine.

    Im wohltuenden Gegensatz zu seinem Vorgänger steht Davutoglu in einer früher mal fast schon sprichwörtlichen Kunst osmanischer und türkischer Diplomatie. Wie so viele gute Diplomaten auch, begeht aber auch er leider den Fehler, im Gespräch mit Deutschen nicht in Rechnung zu stellen, dass zu allen Tugenden, die man den Deutschen zuzuschreiben pflegt, gerade die Kunst der Diplomatie nicht gezählt wird. Da bedarf es eher des verbalen Holzhammers. So blieb es einigen wenigen Journalisten vorbehalten, den Spiegel beim Namen zu nennen, den Davutoglu Merkel da vergeblich vorgehalten hat:

    “…Dieser erste Völkermord des 20. Jahrhunderts, der zwischen 1904 und 1908 in der deutschen Kolonie Südwestafrika, dem heutigen Namibia, begangen wurde, wird von der Bundesregierung bis heute nicht so bezeichnet – unter anderem mit dem zynischen Argument, dass die Völkermordkonvention noch nicht existierte, als die Herero und Nama in die Wüste getrieben, abgeschlachtet und unterdrückt wurden. Die diplomatischen Verrenkungen, die Deutschland angesichts dieser historischen Schuld vollführt, sind ebenso absurd und skandalös wie das Gebaren der türkischen Regierung.

    Als die damalige Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul die Nachfahren der Opfer 2004 um Vergebung bat, sagte sie: „Die damaligen Gräueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde“. Weiter durfte sie nicht gehen, denn die rot-grüne Bundesregierung hatte Angst vor Entschädigungsforderungen. Bis heute ist der Begriff „Völkermord“ tabu – unabhängig davon, welche Parteien die Bundesregierung stellen. Als der Bundestag vor drei Jahren 40 Minuten über das Thema diskutierte, war das Plenum weitgehend leer. Damals hätten die Abgeordneten die Chance gehabt, zu zeigen, dass sie wissen, was historische und moralische Verantwortung ist – sie haben versagt. Wer die Türkei an ihre Verantwortung erinnern will, sollte zunächst die Schuld des eigenen Landes bekennen – ohne Hintertür, ohne Verrenkungen. Solange das nicht passiert, sollte der Bundestag zum Völkermord an den Armeniern besser schweigen. Er macht sich sonst nur lächerlich….“

    http://www.n-tv.de/politik/pol.....36496.html

    Unumwunden Recht gebe ich Ihnen darin, dass Erdogans Völkermord-Polemik an die Adresse Israels sowohl in der Sache falsch ist, als auch politisch in höchstem Maße kontraproduktiv. Nur: warum nehmen Sie Söylemezoglu und co. dafür in Haftung? Derlei „Tiefschläge“ haben Sie doch ansonsten nicht nötig.

    Da Sie Israel ins Spiel gebracht haben: nicht dass es für den historischen Streitgegenstand von Bedeutung wäre, was Politiker dazu sagen, aber wussten Sie, dass bspw. Shimon Peres die Verwendung des Begriffs Völkermord mit Blick auf die Armenier nicht nur vermied, sondern offen verneinte?

    Mehr Gewicht als das Wort von Politikern hat freilich dasjenige eines Bernard Lewis, den man beizeiten wegen „Völkermordleugnung“ gar vor französische Gerichte gezerrt hat. Oder auch dasjenige eines Guenter Lewy, der vor gut einem Jahrzehnt ein durchaus lesenswertes Buch in der Frage verfasst hat, für das er in konzertrierter Form gemobbt wurde und wird. Zuvor hatte er bei Pipes bereits einen Aufsatz veröffentlicht, den Sie hier nachlesen können:

    http://www.meforum.org/748/rev.....n-genocide

    Sie irren sich übrigens, wenn Sie glauben, dass die Behauptung eines Genozids an den Armeniern in der Türkei strafrechtlich geahndet werde. Mir ist niemand bekannt, der wegen einer Meinungsäußerung in dieser Frage verurteilt worden wäre. In den Anfängen der AKP-Ära war das ganze mal zwischenzeitlich Instrument im verkappten Machtkampf zwischen Regierung und alten kemalistischen Seilschaften im Justizapparat. Die Klagen gegen Pamuk oder Dink waren eher Akte intriganter politischer Sabotage im Rahmen dieses Machtkampfes, als dass sie mit der historischen Frage als solcher zu tun hatten.

    Richtig ist allerdings, dass die kollektiven historischen Narrative innerhalb der türkischen Gesellschaft den außerhalb der Türkei verbreiteten Geschichtsbildern in dieser Frage diametral entgegenstehen. Das bezieht ausdrücklich auch die führenden politischen Eliten mit ein. Wir taktieren oder kalkulieren also nicht, wenn wir einen Genozidvorwurf mehrheitlich ablehnen, wir sind davon überzeugt. Dies, so scheint mir, wird außerhalb der Türkei nicht wirklich begriffen. Ansonsten verstünde man, wie kontraproduktiv solche in der Sache nichtssagenden politischen Initiativen sind, die ich eigentlich nur noch als Akt moralisierend-intellektueller Masturbation betrachte.

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    @ Alan Posener
    Sie interessieren sich doch für Architektur. Daher eine off-topic-Frage.
    Ist es richtig, wie ich bei comments unter Tilman Krause lese, dass das neue Stadtschloss aus Beton ist? Mit Verkleidung?
    Und sehe ich das richtig, dass auf dem Bild so ein Hochglanz-Insudtriefußboden abgebildet ist, den man in besseren Banken findet oder hochmodernen (=hässlichen) „Luxus“-Küchen?
    Wenn ja, was denkt man sich dabei? Eins ist sicher: Die Berliner werden schon den richtigen Namen für die Betonpracht finden. Hier war immer mehr Verlass auf sie als bei Finanzen oder Berliner Architekten und Innendesignern.
    Diese Betonverbauerei in Deutschland, die mit dem Holocaust-Mahnmal ihre Renaissance erlebte, wird man noch bereuen. Keiner wird sie später lieben, und die erste Sanierung wird den Besitzern oder Finanzbehörden die Tränen in die Augen treiben. Vielleicht hätte man dann das Geld doch besser in Brückensanierung (Beton) stecken sollen. Die Lernfähigkeit ist begrenzt, obwohl in der Betonpracht aus den Sechzigern und Siebzigern keiner leben will, der die Wahl hat, und die Brücken fast alle hin sind. Weder schön noch nachhaltig.
    Noch eine Frage: Falls das Stadtschloss aus Betonplatten ist, ist doch dazwischen Dämmmaterial, nehme ich an. Dann wird es auch noch schimmeln von innen. Man sollte keine alten Bücher ‚reinstellen. Von der Apotheken-Umschau bis zur TAZ geht alles.
    Viel Freude mit Ihrem „Schloss“!

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    Die Rede von Gauck enthält alles, was es im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Armeniern heute noch zu sagen gibt.Sie sollte in die Schulbücher Eingang finden, damit die neue Generation auch türkisch-stämmiger Kinder nicht mehr auf das Nichtwissen-Wollen zurückgreifen muss, das die Elterngeneration noch erfolgreich verinnerlicht hat.Wie sich die Dinge wiederholen…….Auch das hat Gauks Rede deutlich gemacht.

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    @ Don Geraldo
    Witzig. Nein, sicher nicht.
    Aber das war anders. Es war Krieg, und die Briten und Franzosen hatten den Armeniern einen Staat versprochen.

    Das ist so, wie wenn die Briten und die Franzosen den Juden im zweiten Weltkrieg einen Staat versprochen hätten und die Deutschen hätten die Juden deswegen verjagt oder auf offener Straße umgebracht.
    Die Juden aber wurden ja geplant eingesammelt und vergast. Das ist völlig anders.

    Aber ich korrigiere mich: Die Armenier wurden noch einmal getroffen, nämlich 1955 zusammen mit Griechen, Juden und Aramäern.
    In der unübersichtlichen Situation von WWI erscheint mir Vorsicht angebracht, gerade jetzt, wo seit 2014 die Aufteilung der Schuldfrage sehr kontrovers diskutiert wird, auch von britischen Historikern.
    Sage ich mal so: Vielleicht ist der Zeitpunkt für diese Diskussion schwierig. Die wirtschaftliche und politische Lage in Europa und im Nahen Osten wie auch der Türkei ist verworren und Erdogan nicht unbedingt der richtige Ansprechpartner für Selbstkritik.
    Oder anders: Diese Diskussion ist im Moment so überflüssig wie ein Kropf. Finden Sie nicht. Na gut. Ich mochte nie runde Geburtstage. Mal gucken, was sie mir hier an meinem Hundersten so vorhalten werden. Hab‘ jetzt schon einen Horror davor.

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    „Tatsächlich empfanden die Osmanen den Krieg als Krieg christlicher Mächte gegen das muslimsiche Kalifat, und nicht zuletzt dieser Wahrnehmung fielen die Armenier zum Opfer.“

    Das Osmanische Reich hat in den 100Jahren zuvor viele Gebiete verloren und viele Opfer zu beklagen. Der Ort, aus dem ich stamme in Wikipedia:
    „Nach den osmanischen Katastern hatte Sremska Mitrovica für die Jahre 1566–1569 592 muslimische und 30 christliche Haushalte. Für das Jahr 1572 waren es 598 muslimische und 18 christliche Haushalte.“
    Seit der Reconquista muslimenrein. Seit 1800 erfasste dies weite Teile des Balkan und dem vielen unzählige Türken zum Opfer. Fast alle Städte bis Budapest waren voll türkischer Familien. Ein Grund für die failed states des Balkans sind die fehlende urbane Tradition, weil die Träger dieser Tradition (Türken&Muslimen) umgebracht worden sind. Wie sollten die Türken den WK1 denn auffassen? Natürlich hätten die christlichen Balkanesen sie platt gemacht, mein Ur-Großvater ist ausdrücklich dafür in den Krieg gezogen und vor 20Jahren gab es den letzte Versuch, die muslimische Frage auf dem Balkan zu lösen.
    Das rechtfertigt natürlich nicht was geschehen ist, aber es war eben keine irrationale Paranoia der Türken. Völkermord lag schon 100Jahre in der Luft und es galt der Grundsatz better you than me.
    Dass es ausgerechnet die Armenier erwischte, war ein grausamer Scherz der Geschichte. Aber sie waren nicht die einzigen, sie waren nicht die ersten. Historisch ein trauriges Detail in einer traurigen Geschichte.
    Die Debatte macht nur Sinn, wenn es um die Destabilisierung der türkischen Einigkeit geht. Wenn man sich das heutige Armenien anschaut, könnte dies auch dort nicht schaden.

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    Es geht doch eigentlich nicht um den Völkermord vor 100Jahren, es geht um die Türkei heute. Der Völkermord ist nur eines der Themen, über die man in der Türkei nicht sprechen kann. Wäre die Türkei (die staatlichen Strukturen) in der Lage, solche Diskurse auszuhalten, wäre dieses Thema überhaupt keines, oder es wäre da wo es hingehört, bei den Historikern. Der nicht auszuhaltende Zustand ist nicht eine andere Sichtweise auf ein historisches Ereignis, es ist das Unvermögen eine Debatte zu führen. Das Verbot einer Leugnung des Völkermordes ist das gleiche, nur andersherum.

    @Parisien
    „In der Türkei mehren sich Stimmen, die unterstellen, die Thematisierung des Massenmordes an den Armeniern solle zur Destabilisierung der Türkei dienen.“

    Ja, genau darum geht es. Diesen Zustand einer „stabilen und einigen Türkei“ aufzulösen, denn genau der ist es, der die türkische Gesellschaft erstickt. Diesen Blödsinn von Einheit des Türkentums endlich zu beenden, der nur dazu dient, die Türken unter Kontrolle zu halten. Ja! Destabilisieren wir diese Türkei. Es geht um Gezi-Park, Staudämme, Bürgerrechte. Die Türken haben einen besseren Staat verdient und nicht Pfeifen, die sich hinter dem Begriff Einheit verstecken.

    Wen es interessiert, kann dann auch über Geschichte streiten. Nennen wir es Völkermord – und nun?

    http://www.albanianhistory.net.....912_5.html

    Balkankrieg, 1912, 3 Jahre vor dem Völkermord an den Armeniern. Europa ist eine lange Abfolge von Völkermorden. Irland und die Hungersnöte…ach je, wo anfangen und wo aufhören.

    Katalysator, ok. Wert der Erkenntnis an sich = 0. Außer die, die es trifft. Und die Armenier gedenken ihrer Toten schon lange.

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    APo: ‚Und in so fern die Deutschen es unterließen, gegen den Völkermord an den Armeniern auch nur zu protestieren, … ‚

    … werter APo, der Genozid in Armenien geschah auf Anordnung der osmanischen Regierung. Ein Deutscher, Johannes Lepsius, hat den Genozid überhaupt erst öffentlich gemacht.

    Die damalige deutsche kaiserliche Regierung reagierte ähnlich wie Barak Hussein Obama und die Ex-FDJ-Sekretärin, samt EU und Hintermänner. Feige, mit ‚Erwartungszielen‘ im Hinterkopf. Wäre ja ein (Un)Ding, Russland und die Türkiye Cumhuriyeti schmiedeten eine Allianz.

    Daher!

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    @ Parisien

    Meinen Sie das wirklich im Ernst ?

    Natürlich werden Armenier in der Türkei heute nicht mehr verfolgt, der Völkermord war so erfolgreich daß es im Gebiet der heutigen Türkei nichts mehr zu verfolgen gibt.

    Und wie soll man diesen Satz verstehen?

    „und es sich meines Wissens um eine einmalige Fehlleistung handelt, steht der Massenmord an den Armeniern meiner Ansicht nach nicht auf der Stufe des Holocaust“

    Hört sich an wie „einmal ist keinmal“, diese Einstellung ist ja krank !

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    Das Osmanische Reich war Verbündeter des Deutschen Reiches, nicht Untergebener.

    Mitwisser bezüglich des Holocaust gab es auch unter den Alliierten im zweiten Weltkrieg. Trotzdem tragen die keine Verantwortung für das Geschehene.

    Und der Begriff Gewährenlassen impliziert ja die Möglichkeit, etwas zu verhindern. Wie hätte denn eine Handvoll deutscher Militärberater und unbewaffneter Diplomaten die Osmanen an ihrem Tun hindern können ?

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      Lieber Don Geraldo, in so fern es Möglichkeiten gab, die Bahngleise etwa nach Auschwitz zu bombardieren, und in so fern es vor 1939 seitens der westlichen Länder kaum Bereitschaft gab, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen (oder nach Palästina zu lassen), tragen sie selbstverständlich eine Mitschuld am Holocaust.
      Und in so fern die Deutschen es unterließen, gegen den Völkermord an den Armeniern auch nur zu protestieren, tragen sie ebenfalls eine Mitschuld. Kaiser Wilhelm II hatte übrigens die Osmanen und Araber zum „Dschihad“ – so wörtlich – gegen die Engländer und Franzosen aufgerufen und damit einen Präzedenzfall geschaffen, dem Hitler später mit seinem Bündnis mit dem Mufti von jerusalem zu folgen versuchte. Tatsächlich empfanden die Osmanen den Krieg als Krieg christlicher Mächte gegen das muslimsiche Kalifat, und nicht zuletzt dieser Wahrnehmung fielen die Armenier zum Opfer.

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    In der Türkei mehren sich Stimmen, die unterstellen, die Thematisierung des Massenmordes an den Armeniern solle zur Destabilisierung der Türkei dienen.
    Ich halte das für eine realistische Angst, weil es in Zusammenhang mit der offensichtlichen Destabilisierung von Europa, von der die Türkei ein Mitglied werden sollte, Sinn ergibt.
    Da die Armenier heute nicht mehr verfolgt werden und es sich meines Wissens um eine einmalige Fehlleistung handelt, steht der Massenmord an den Armeniern meiner Ansicht nach nicht auf der Stufe des Holocaust, der nur ein Tiefpunkt einer alten und nach wie vor bestehenden Dauerströmung war: Eliminatorischer Antisemitismus, den wir in Israel, Bombay, Paris, Kopenhagen, Brüssel oder Toulouse weiter beobachten können. Von Morden an Armeniern dagegen ist mir nichts bekannt.
    Daher werde ich auf diesen unübersichtlichen Zug nicht aufspringen, obwohl Erdogan mir unheimlich ist.

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    Ein Zitat aus dem SPIEGEL zur Rede von Bundespräsident Gauck:

    „Auch die Deutschen müssten sich insgesamt „noch der Aufarbeitung stellen, wenn es nämlich um eine Mitverantwortung, unter Umständen sogar Mitschuld, am Völkermord an den Armeniern geht“. “

    Wolf Biermann nannte das mal den „Täterstolz der Deutschen“.
    Ich kann mich des Verdachts nicht erwehren, daß für die deutschen Eliten ein Völkermord ohne deutsche Beteiligung gar nicht mehr denkbar ist.

    Was kommt als nächstes ?

    Vielleicht der Völkermord in Ruanda, schließlich war das mal eine deutsche Kolonie, wer weiß was wir da hinterlassen haben.
    Und die Ausrottung der Indianer in den USA wird auch erst dann ein Thema werden, wenn der hohe Anteil an deutschen Einwanderern bekannter wird.

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      Ich denke, Don Geraldo, das Mitwissertum und Gewährenlassen seitens der deutschen Militärs und Diplomaten sollte man nicht so flapsig abtun. „Lasst anderre von ihrer Schande reden. Ich rede / Von der meinen.“ (Brecht)

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    Ich stimme völlig zu. Der Standpunkt des türkischen Staates und seiner hiesigen Strukturen, Vereine und Verbände erscheint mir realitätsblind, die Identifikation mit der Vergangenheit fatal und über Erdogans Doppelmoral bei der Verwendung des Begriffs Völkermord kann ich nur den Kopf schütteln.

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    Ich stimme Ihnen in vielem zu, aber in einem bin ich verunsichert. Wer ist „die Türkei“, die sich ihrer Vergangenheit stellen muss?

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      Gute Frage, reinerw. Ich habe einige Leute beim Namen genannt, und ich habe auf Gesetze hingewiesen, die der freien Erörterung der Geschichte entgegenstehen. Es ist richtig, dass sich ein Kollektiv wie „die Türkei“ sich nicht eigentlich seiner Geschichte stellen kann. Aber Sie werden mir zustimmen, denke ich, dass die bereitschaft hierzu unter Deutschen erheblich stärker ausgeprägt ist als unter Türken und Kurden.

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