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Angst vor der Moderne

In einem Internetforum kann man den Bericht einer Gesamtschullehrerin aus Köln lesen, die von einem jungen Mann berichtet, der zu den deutschen Muslimen gehört, die sich in Syrien und dem Irak der Terrororganisation „Islamischer Staat“ angeschlossen haben. Er hat an ihrer Schule erfolgreich den Mittleren Schulabschluss abgelegt, danach eine Lehre in einer Speditionsfirma begonnen. Über Nacht war er dann verschwunden. Mit seiner Familie nahm er zum ersten Mal per Mobiltelefon Kontakt auf, als er sich schon im Kampfgebiet aufhielt. Die Gesamtschule bekam Besuch vom Bundeskriminalamt, das das biografische Umfeld der deutschen „Dschihadisten“ sondieren wollte, um die Motive der „Kämpfer“ und die Methode ihrer Anwerbung verstehen zu können. Auch die Lehrerin gab Auskunft über ihren ehemaligen Schützling. Er war ein durchschnittlicher Schüler, zeigte ein unauffälliges Sozialverhalten und war auch außerhalb der Schule gut integriert. Er spielte Fußball in einer Kiezmannschaft und hängte mit deutschen und türkischen Freunden in Diskotheken ab. Bis zu seinem Verschwinden gab es keinerlei Anzeichen für eine Radikalisierung. Seine Moscheebesuche hielten sich in Grenzen, auch unter den engen Freunden gab es keine radikalen Islamisten. Doch etwas muss mit ihm und in ihm passiert sein, was ihn zu diesem radikalen Bruch mit seinem bisherigen Leben veranlasst hat.

Aus Deutschland haben sich über 400 junge Männer und einige wenige Frauen nach Syrien und in den Irak abgesetzt, um sich dem „IS“ anzuschließen. Das Bundeskriminalamt hat mittlerweile eine gute Übersicht über das persönliche Profil der abgetauchten „Kämpfer“. Überwiegend galten sie bis zum Tag X ihres Verschwindens als relativ gut integriert, allerdings hatte ungefähr ein Drittel keinen Schulabschluss geschafft. Die Radikalisierung geschah meistens durch persönliche Kontakte zu einem radikalen, oft salafistischen Imam, der dem jungen Mann die Welt des „Kampfes gegen die Ungläubigen“ eröffnete. Die Jugendlichen tauchten ein in die Schattenwelt des Internets, sahen sich Propagandavideos des „IS“ an und veränderten sukzessive ihr Denken und Fühlen. Eine Psychologin des BKA vertritt die These, dass das Hauptmotiv für die Verwandlung in einen „Gotteskrieger“ nicht primär in einer verstärkten Religiosität zu suchen sei, sondern im individuellen Bedeutungsgewinn, in dem intensiven Stärkegefühl als Mann, das aus dem Kämpferstatus resultiert.

Neid ist ein wichtiger Antrieb im menschlichen Handeln. Schon kleine Kinder sind von Neid getrieben, wenn sie feststellen, dass der Spielkamerad in der Buddelkiste über das attraktivere Spielzeug verfügt. Auch Schüler sind dafür empfänglich, wenn sie   einen erfolgreichen Klassenkameraden mit der Neidvokabel „Streber“ belegen. Auch das Verhältnis von Ethnien, Religionen und   Nationen kann von Neid beeinflusst werden. Der Hass der Muslime im Nahen Osten auf Israel speist sich aus dem Neid auf das kleine Land, das es in derselben kargen Landschaft, in der auch die Araber leben, geschafft hat, ein blühendes modernes Land aufzubauen, das sich auch noch effektiv zu verteidigen weiß. Putins Konfrontation mit dem Westen verdankt sich vor allem dem Neid auf die USA, der Großmacht, die aufgrund ihrer freiheitlichen Kultur und ihrer technologischen Stärke ihren Status als mächtigster Staat der Welt unanfechtbar verteidigt. Unfähig, das eigene Land in die Moderne zu führen, denunziert man das, was man selbst nicht hat – eine lebendige Zivilgesellschaft, Toleranz und Pluralität – als „dekadente“ Zeichen des Verfalls. Wie man sieht, kann Neid auch blind machen – blind für die wirklichen Notwendigkeiten. In völliger Verkennung dessen, worauf sich Macht in der Moderne gründet, versucht Putin durch geografische Eroberungen den alten Großmachtstatus zu verteidigen – und wird damit scheitern.

Der Islam ist überall, wo er sich staatlich organisiert hat, auf dem Weg in die Moderne stecken geblieben. Das Experiment des demokratischen Wandels im „arabischen Frühling“ ist bis auf Tunesien völlig gescheitert. Entweder fielen die Länder zurück in eine Militärdiktatur (Ägypten) oder versanken im Bürgerkrieg (Libyen). Irak und Syrien stehen vor dem Staatszerfall. Der Libanon ist ein fragiles Gebilde, der Jemen völlig destabilisiert. Die arabischen Staaten sind vor allem ökonomisch völlig abgehängt, manche verharren noch auf dem uralten Status einer Basar-Ökonomie.   Die technologische Innovationskraft in den arabischen Staaten ist gering, ihr Bildungssystem rückständig. Der libanesische Journalist Hisham Melhem zeichnet ein düsteres Bild von der arabischen Zivilisation: „…die arabische Zivilisation, wie wir sie einmal kannten, gibt es nicht mehr. Die arabische Welt ist so gewalttätig, so instabil, so fragmentiert und so sehr von Extremismus getrieben […] wie noch nie seit dem Ende des Osmanischen Reiches vor hundert Jahren.“ (DIE ZEIT vom 20. 11. 2014).

Auffällig ist, dass sich die Terroranschläge von Al Qaida und ihrer Ableger oft gegen Bildungseinrichtungen richten. Vor kurzem ermordeten die Taliban in der pakistanischen Stadt Peshawar 132 Schulkinder in ihren Klassenzimmern. In Afghanistan legen sie Sprengfallen in Schulen, um vor allem Mädchen vom Schulbesuch abzuhalten. Die nigerianische Terrororganisation „Boko Haram“ trägt die Bildungsfeindlichkeit sogar in ihrem Namen. Er bedeutet in der Landessprache „Bücher sind Sünde“ , „Westliche Bildung verboten“. Diese Gruppe hat über 200 Mädchen aus einer Schule verschleppt und sie an ihre eigenen Kämpfer „verschenkt“ oder als Sex-Sklavinnen verkauft.

Gemeinsames Kennzeichen der unterschiedlichen islamistischen Terrorgruppen ist die Absicht, eine politisch-religiöse Herrschaft wiederzubeleben, wie sie vor über 1400 Jahren existierte: das muslimische Kalifat. Der Prophet Mohammed begründete dieses theokratische Herrschaftsmodell, das die weltliche und geistliche Führerschaft in einer Person, in der des Kalifen, vereint. In allen arabischen Staaten gibt es Annäherungsformen an diese Regierungsform, mal mehr (wenn die Muslimbrüder herrschen), mal weniger (wenn das eher säkulare Militär herrscht). Gemeinsam haben diese Regierungsmodelle, dass sie die strikte Trennung von Staat und Religion, wie sie sich im christlichen Kulturkreis seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert herausgebildet hat, nicht kennen.

„Charles de Montesquieu hat als erster westlicher Denker auf die großen Schwierigkeiten islamischer Gesellschaften hingewiesen, den Gedanken der Gewaltenteilung in die Praxis umzusetzen. Er erinnerte an die spezifisch christliche Unterscheidung zwischen göttlichen und  irdischen Gesetzen, für die er im Islam keine Entsprechung fand. Das ist in der Tat die entscheidende Frage, um die sich alle innenpolitischen und ideologischen Auseinandersetzungen drehen. Solange Menschenrechte nur nach Maßgabe der Scharia gelten, ist eine pluralistische, zivilgesellschaftliche Entwicklung unmöglich.“ (Heinrich August Winkler, in: DER SPIEGEL vom 29. 12. 2014)

Zurück zu den deutschen Jugendlichen, die sich in den Terrorkampf verstricken. Sie suchen vor allem eine Aufwertung ihrer als nichtig empfundenen Person. „Das Wichtigste im Leben ist die Erfahrung von Sinn.“ (Wilhelm Schmid) – Wenn diese jungen Menschen Sinnstiftung und persönliche Geltung nur im Töten von „Andersgläubigen“ zu gewinnen glauben, ist bei ihnen die Erziehung zu Mitgliedern unserer freiheitlichen und toleranten Wertegemeinschaft gründlich misslungen. Das traditionelle muslimische Ideal der Männlichkeit findet in unserer modernen Gesellschaft kaum noch eine Entsprechung. Gesellschaftliche Wertschätzung erfahren Männer nicht mehr durch körperliche Stärke (außer im Sport) und machohaftes Dominanzgebaren. Stattdessen sind kommunikative Kompetenz, Empathie und soziales Einfühlungsvermögen gefragt. Diesen „weichen“ männlichen Tugenden können viele Muslime, vor allem wenn sie in traditionsgebundenen Familien der Unterschicht sozialisiert worden sind, kaum etwas abgewinnen. So nimmt es nicht Wunder, dass sie sich nach einem Status des Kämpfers und Helden sehnen – sei es auch unter Preisgabe der Menschlichkeit.

Anders sieht es bei den muslimischen Mädchen aus. Doch das ist eine neue Geschichte.

(Fortsetzung folgt.)

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15 Gedanken zu “Angst vor der Moderne;”

  1. avatar

    Lieber Parisien,

    ich habe mich lediglich und “ sehr nüchtern “ an diesem Ausdruck gestört:

    „weiblich influierten Schullektüre.“

    Aber vielleicht war es bei Ihnen der Rotwein 🙂

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    @Moritz Berger
    „Ernst Jünger Stahlgewitter“
    Danke für Ihren Reflex, der uns ziemlich genau vorführt, wie derzeit mit Problemen umgegangen wird. Z.B. dem massiven Problem von männlichen Jugendlichen und jungen Männern, in der Gesellschaft noch Anschluss und Anerkennnung zu finden, was Parisien völlig zurecht angesprochen hat. Wenn mich das nicht an einige Versäumnisse erinnern würde (‚D ist kein Einwanderungsland‘ usw…)

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    Lieber Herr Werner, danke für Ihre Antwort. Bin interessiert an der Fortsetzung.

    @ Moritz Berger
    Das sind dann so persönliche comments, die ich schon mal gern weiterschicke, um um Rat zu fragen. „Übergehen“, sagte mein Ratgeber. Zu viel Bier getrunken?

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    @Rainer Werner

    Eine etwas andere Analyse findet sich in der FAZ:

    http://www.faz.net/aktuell/pol.....61933.html

    Dass zwischen d e m Islam und d e m Islam, wie Sie ihn hier teilweise präsentieren, erhebliche Unterschiede bestehen, hat bereits Herr Posener herausgearbeitet.

    Den Blick über den Tellerrand vermisse ich leider bei Ihrer “ Analyse „

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    Hallo Parisien,
    Sie haben recht: Jungen brauchen im Kindergarten und auch in der Schule männliche Bezugspersonen. In den Grundschulen gibt es fast nur (noch) Lehrerinnen, an den Oberschulen sind männliche Pädagogen auch auf dem Rückzug. Ich habe zuletzt an einem Gymnasium unterrichtet, an dem der Direktor auf Wunsch der Eltern die wenigen männliche Pädagogen speziell in den 7. Klassen (in Berlin die Eingangsklasse am Gymnasium) einsetzte, um den Jungen ein Vorbild für das männliche Rollenbild zu ermöglichen. An anderen Gymnasien wäre eine solche Personalentscheidung kaum noch möglich. Ich vermute, dass immer mehr männliche Studenten den Lehrerberuf verschmähen, weil das erzieherische Moment inzwischen genau so wichtig geworden ist wie die fachliche Kompetenz. Und mit diesem Anspruch, der soziale Intelligenz und Empathiefähigkeit impliziert, tun sich manche Männer schwer – trotz der modernen Zeiten, in denen wir leben.
    Rainer Werner

  6. avatar

    @Rainer Werner

    Wenn ich diese Zeilen lese:

    „Die arabischen Staaten sind vor allem ökonomisch völlig abgehängt, manche verharren noch auf dem uralten Status einer Basar-Ökonomie.“

    Ist Saudi-Arabien okonomisch abgehängt ???

    Und was ist mit den VAE?

    Und wenn ich lese, dass in Jordanien ein Kernforschungszentrum entsteht:

    http://www.faz.net/aktuell/wis.....80999.html

    Was die Basarökonomie betrifft: Ein Blick in die VAE oder vielleicht auch ein Flug mit der Air Berlin dürfte für Sie eine Überraschung sein, wenn Sie sich die heute Basarökonomie anschauen:

    http://www.welt.de/vermischtes.....-Welt.html

    Vielleicht sollte man doch ein wenig differenzieren…

    Was den Begriff von Alan Posener betrifft: „malaischer Neid-Rassismus“

    haben wir nicht auch so etwas in Nordirland zwischen den Protestanten und den Katholiken?

    Ich finde man macht es sich zu einfach den Begriff Neid hier in komplexe wirtschaftliche und letztlich Zusammenhänge zu bringen.

    Und was generell Malaysia und die Chinesen betrifft, hier m.E. ein aufschlußreicher Bericht über die Rolle der Chinesen in Malaysia.

    https://www.asienhaus.de/public/archiv/894machi.htm

    Das an der Entwicklung z.T. sicherlich auch die britische Kolonialverwaltung Schuld war steht m.E. auch außer Zweifel.

    Eine ähnliche Situation ergab sich auch auf den Fidschi Inseln wo indische Arbeitskräfte zur Kolonialzeit eingewandert sind.Siehe auch:

    http://www.welt.de/wissenschaf.....-wird.html

    P.S.

    Lieber Parisien:

    „Jungs langweilen sich bei der ganzen weiblich influierten Schullektüre.“

    Es wäre in Ihren Augen sicherlich besser wenn, die Jungs endlich wieder aufbauende Literatur wie z.B.

    Ernst Jünger Stahlgewitter

    lesen statt Ertich Matia Remarque

    Im Westen nichts neues

    oder auch:

    Volk im Feuer von:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Paust

    Und damit die Mädels auch endlich wieder in ihre Rolle als Heimchen an den Herd schküpfen. würde ich vorschlagen:

    http://de.wikipedia.org/wiki/K......C3.BCcher

    Barb, Roman einer deutschen Frau

    wieder neu aufzulegen.

    Nebenbei:

    Haben Sie schon Ihre Zugfahrt nach Dresden für Montag gebucht?

  7. avatar

    @Rainer Werner

    haben sie bei ihren Themen nicht etwas zuviel wikipedia artikel verwendet??

    Wenn Apo sie aufmerkdam macht dass die islamischen Staaten sehr stark differenzieren und dass islamisch nicht gleich arabisch ist und sie scheinbar nicht wissen Indonesien das Land mit der groessten Zahl an Muslimen weltweit ist…

    Wie kann dann ihre Analyse noch glaubhaft sein.

    Und was Montesquieu betrifft… und die Gewaltenteilung er bezieht sich in seiner Betrachtung auf seine Zeit dass heisst das 17. Jahrhundert…

    Haben sie nie etwas davon gehoert dass bis 1500 die arabische Gesellschaft weiter als die europaeische entwickelt war??

    Und was ihr Thema Neid betrifft:

    Neid hat auch zum 1. Weltkrieg gefuehrt…ihrer Theorie nach…

    Als deutscher Geschichtslehrer wurden sie von mir gerade noch eine 4 minus bekommen.

    Zur Nachhilfe empfehle ich ihnen das Interview von Gila Lustiger:

    http://www.deutschlandfunk.de/....._id=308099

  8. avatar

    Lieber Herr Werner!
    ich finde das gut. Sie machen sich an eine Analyse. Es betrifft, glaube ich, nicht nur die muslimischen Jungs, dass sie plötzlich vermehrt mit weiblichen Werten konfrontiert werden und damit Probleme haben. Es sind auch zu wenig männliche Lehrer in den Schulen. Hier wäre eine Quote sehr sinnvoll: Für Männer. Und eine Quote für Gelesenes: Jungs langweilen sich bei der ganzen weiblich influierten Schullektüre.
    Zum Neid fiel mir ein, dass ich kürzlich las, dass Al Qaida sich etwas einfallen lassen würde, um nicht in Bedeutungslosigkeit zu versinken. Nun es ist offensichtlich da, woraus man den Schluss ziehen muss, dass es sich um kompetitive Industrien und Arbeitgeber handelt, die man langfristig nur durch Austrocknen der Finanzen und Sanktionen gegen finanzierende Staaten stillegen kann.
    Dasselbe findet auf höherer Ebene statt, wie ich indirekt aus Rothkopf’s Ausführungen über die oberen 6000 entnahm. Das würde manche wirtschaftliche Fehlentwicklung und viele außenpolitische Fehlentscheidungen erklären. Abgehoben wie in „Elysium“.

  9. avatar

    Schön geschrieben, Rainer. Du gebrauchst allerdings „muslimisch“ und „arabisch“ fast synonym, was unzulässig ist. Der größte islamische Staat der Welt ist Indonesien: eine Demokratie. (Und deren Unvollkommenheit dürfte mit vielen Faktoren zusammenhängen, nicht hauptsächlich mit dem Islam.) Malaysia ist eine Demokratie (dort hängen die Einschränkungen einerseits mit dem Islam, andererseits mit dem malaiischen Neid-Rassismus in deinem Sinne zusammen.) Dass Pakistan keine Demokratie ist, hat wohl mehr mit der Herrschaft der Generäle zu tun als mit der Macht der Mullahs. Den toleranten Islam Afghanistans zerstörten die Russen. Die Etablierung des Schahs in Persien durch CIa und britischen Geheimdienst führte zur Radikalisierung und Politisierung des eigentlich quietistischen Schiitischen Islam. In der Türkei passieren viele schrecklichen Sachen unter Erdogan, andererseits hat es zum ersten Mal den Ansatz einer Aussöhnung mit den Kurden gegeben und sogar eine entschuldigung an die Adressen der Armenier… Jedenfalls stimmt die Aussage nicht: „Der Islam ist überall, wo er sich staatlich organisiert hat, auf dem Weg in die Moderne stecken geblieben.“

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