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Der Marshmallow-Test

In den 1960er Jahren entwickelte Walter Mischel einen Test, mit dem er die Fähigkeit von Kindern messen konnte, auf die unmittelbare Erfüllung von Bedürfnissen im Interesse späterer, größerer Bedürfniserfüllung zu verzichten. Er nannte seine Versuchsanordnung den „Marshmallow-Test“.

Einem Kind wurde eine selbstausgesuchte Belohnung – etwa ein Marshmallow, ein Keks, ein Stück Schokolade – hingelegt und gleichzeitig erklärt, dass es zwei Marshmallows (Kekse, Schokoladenstücke …) bekommen wird, wenn es die Belohnung nicht sofort isst, sondern wartet, bis der Versuchsleiter zurückkommt. Daraufhin wurde das Kind in einem Raum allein gelassen, in dem der einzige äußerliche Reiz das Objekt der Begierde war.
Die Kinder wurden durch einen Einweg-Spiegel beobachtet. Der Versuch ist seitdem Hunderte Male wiederholt und auch gefilmt worden, und wer Lust hat, kann sich – etwa auf YouTube – auch entsprechende Videos ansehen.
Mischel (der Name wird „Mishelle“ ausgesprochen, Betonung auf der zweiten Silbe) wollte eigentlich nur die Strategien studieren, mit denen es Kindern gelingt, der Versuchung zu widerstehen, ausgehend von Freuds Behauptung, dass es dazu notwenig sei, eine mentale Repräsentation des Objekts zu bilden und dieses innere Bild irgendwie so zu manipulieren, dass es seinen Charakter als Versuchung wenigstens teilweise verliert. Mischel konnte nachweisen, dass Freud im Prinzip Recht hatte, und die neuere Hirnforschung gibt Freud und Mischel Recht bzw. erklärt, warum sie Recht haben Unsere emotionalen Reaktionen auf unmittelbare Sinneswahrnehmungen werden zunächst vom „heißen“ System unseres Gehirns gesteuert, das in der Amygdala angesiedelt ist; hingegen Abstrakte Gedanken, rationale Überlegungen, strategische Planungen vom „kalten“ System, das im präfrontalen Kortex sitzt. Sehr grob gesagt entsprechen die beiden Systeme den Freud’schen Begriffen „Es“ und „Ich“, und die Entwicklung der Kontrolle über die eigenen Bedürfnisse entspricht etwa der Forderung Freuds, „Wo Es war, soll Ich werden.“
Was Mischel zum Zeitpunkt der Durchführung seiner ersten Versuche – übrigens sämtlich an privilegierten Kindern im Kindergarten der Universität Stanford – nicht wissen konnte, sich aber bei Folgeuntersuchungen an den Versuchskindern herausstellte: Die Fähigkeit – oder Unfähigkeit – zur aufgeschobenen Bedürfnisbefriedigung bei Vier- bis Sechsjährigen erwies sich als zuverlässiger Indikator für den Erfolg oder Misserfolg im späteren Leben. Wer als Fünfjährige in der Lage war, bis zu 20 Minuten zu warten, um zwei Marshmallows zu bekommen, hatte in der Regel bessere Schulnoten und war in der Ausbildung und im Beruf erfolgreicher, neigte weniger zu Übergewicht oder Fettsucht, hatte weniger Drogenprobleme und war auch in Sachen sozialer Interaktion, Freundschaften und Familie stabiler und glücklicher.
Um hier kurz abzuschweifen: Der Sachverhalt selbst war nicht unbekannt, als ich 1969 zu studieren begann. Nur wurde die Fähigkeit zur aufgeschobenen Bedürfnisbefriedigung als „bürgerlich“ kritisiert. (Wie heißt es im Lied der „Doors“: „We want the world, and we want it NOW!“) Ich erinnere mich, wie in einem von Ulrike Meinhof geleiteten Seminar an der FU die Mitglieder einer Wohngemeinschaft sich darüber beschwerten, dass die Trebegänger, die sie aus der Güte ihres Herzens und aus politischer Überzeugung aufgenommen hatten, zunächst die weiblichen WG-Mitglieder verführt, dann den WG-Kühlschrank ausgeräumt und sich betrunken hätten und am nächsten Morgen mit dem WG-Fernseher und der WG-Stereo-Anlage verschwunden waren. Meinhof erwiderte ungerührt, die Trebegänger seien nicht asozial, sondern soziale Vorbilder, weil sie mit ihrer Überwindung bürgerlicher Verklemmtheit und bürgerlichen Besitz- und Leistungsdenkens die Zukunft verkörperten. „Tendenziell ist alles, was ein Prolet macht, richtig, und alles, was ein Kleinbürger macht, falsch.“ (Dass die RAF nicht gerade als Verkörperung des Lustprinzips daherkam, steht auf einem anderen Blatt.)
Noch in der „Vorläufigen Plattform“ der KPD/AO heißt es in Bezug auf „das Proletariat“ (ich zitiere aus dem Gedächtnis, weil ich das ‚Dokument weder besitze noch online finde), man wolle nicht Askese predigen, sondern vielmehr eine Ausweitung der Bedürfnisse, bis es schließlich zum Bedürfnis der Arbeiterklasse werde, den Kommunismus zu errichten. Das war, wie es sich für eine von Germanisten dominierte Partei gehörte, sehr Brechtisch gedacht, der in der „Mutter“ gedichtet hat: „Wir brauchen nicht nur den Arbeitsplatz / Wir brauchen die ganze Fabrik / Und die Kohle / Und das Erz / Und die Macht im Staat!“ Die Revolution als Vollendung des proletarischen Hedonismus.
Wir Studenten freilich sollten uns nicht einbilden, dass von den Arbeitern lernen bedeute, seine Bedürfnissen ausleben, im Gegenteil. Wie schrieb die „Rote Zelle Germanistik“: Es gelt, „die extreme Form des bürgerlichen Liberalismus, … die individualistische, schlampige, unpünktliche, von augenblicklichen Stimmungen abhängige Arbeitsweise zu überwinden.“ Was wir auch getan haben; und ich habe an anderer Stelle geschrieben, dass ich für diese harte Schule des Leistungsprinzips und der Selbstüberwindung durchaus dankbar bin, die mir auch bei meiner Arbeit als Lehrer und Journalist nützlich gewesen ist und bleibt.
Denn es bleibt wahr, dass jede Leistung Überwindung und Willenskraft voraussetzt, ob es sich um den Aufbau einer Partei oder die Erlernung eines Musikinstruments handelt. Aufgeschobene Bedürfnisbefriedung ist eben nicht nur eine bürgerliche Eigenschaft, sondern Voraussetzung der Zivilisation. Und auch bestimmten Formen der Barbarei, muss man allerdings hinzufügen.
Aber diese Abschweifung soll eigentlich nur klar machen, dass mich die Frage, die Walter Mischel aufwirft – und in seiner wunderbaren, soeben erschienenen intellektuellen Biografie, „The Marshamallow Test“ – ausführlich erörtert – schon länger umtreibt.
Vor allem geht es mir darum, den falschen Schlussfolgerungen entgegenzutreten, die aus Mischels Versuchen gezogen wurden und werden, und denen Mischel selbst scharf – na, nicht scharf, das ist nicht seine Art, aber entschieden – entgegentritt. Dazu gehört die „Say yes to no!“-Kampagne in den USA, die vom Kinderpsychologen David Walsh angeführt wird, und die von Michael Winterhoff in Deutschland initiierte Kampagne gegen „kleine Tyrannen“.
Nun mag es sein, dass Kinder gelegentlich ein „Nein!“ brauchen. Nein, verbessern wir diese Aussage: Eltern müssen ihren Kindern hin und wieder „Nein!“ sagen können, sonst gehen sie vor die Hunde. Den Kindern schadet das nicht sehr, aber man soll nicht so tun, als ob es immer in ihrem Interesse wäre. Manchmal schon: „Renn nicht auf die Straße!“ „Nein, du bekommst kein zweites Eis. Davon wird dir schlecht.“
Aber worum es Walter Mischel geht, ist eben nicht das Neinsagen der Eltern; ihm geht es um die Entwicklung der Fähigkeit, sich selbst nein zu sagen.
Ein Kind, dem ständig Wünsche und Bedürfnisse versagt werden, wird gerade nicht in der Lage sein, sich selbständig eine Belohnung zu versagen, wenn sie erreichbar vor seinen Augen steht und keine Autoritätsperson da ist, um ihm das Zugreifen zu verbieten. Nicht zufällig ist die Fähigkeit zur Aufschiebung der Bedürfnisbefriedigung eine vor allem bürgerliche, vielleicht sollte man sagen eine typische Errungenschaft der Mittelschicht. Im Prekariat, in bildungsfernen Schichten, bei vielen Zuwanderern aus autoitären Gesellschaften ist das Nein die Regel. Daraus entwickelt sich aber keine Ich-Stärke. Autoritär erzogene Persönlichkeiten werden zwar oft ihrerseits zu bigotten Moralpredigern, aber es überrascht nicht, dass sie besonders oft zu Fall kommen, indem sie jenen Lastern frönen, die sie so wortreich und rigide bei anderen verurteilen; man denke an katholische Priester oder fundamentalistische TV-Prediger.
Es nützt freilich auch nichts, wenn Eltern ihren Kindern wortreich ihr „Nein!“ erklären. Das entlastet sie, hilft aber dem Kind in der Situation einer Versuchung – Hausarbeiten machen oder Fernsehen – wenig. Das Kind muss vielmehr Strategien lernen, wie es mit der „heißen“ Versuchung des Fernsehens (des Videospiels usw.) umgeht. „Just say no!“ hilft ihm da wenig, so wenig wie es der Mehrheit der Raucher, Übergewichtigen oder Alkoholiker hilft, mit ihrer Sucht fertig zu werden. Kinder und Erwachsene müssen lernen, aus „heißen“ Versuchungen „kalte“ Reflexionsgegenstände zu machen; zielgerichtet zu denken und zukünftige Belohnungen – zwei Marshmallows, ein guter Schulabschluss, eine bessere Figur, Gesundheit – höher einzuschätzen als gegenwärtige Bedürfnisbefriedigung.
Vertrauen ist dabei wichtig. Hat ein Kind wenig Vertrauen in Erwachsene – etwa, weil es aus einer kaputten Ehe stammt und von dem Vater „verlassen“ worden ist, oder weil es von Erwachsenen immer wieder belogen wurde – wird es wenig Veranlassung haben, dem Versuchsleiter zu glauben, dass er mit zwei Marshmallows wiederkehrt. Hat ein Kind trotz Anstrengung aus welchen Gründen auch immer ständig eigenes Versagen erlebt, wird es wenig motiviert sein, sich ein weiteres Mal anzustrengen. Haben junge Erwachsene das Gefühl, von der Gesellschaft und der Schule abgeschrieben worden zu sein, werden sie wenig Sinn darin sehen, sich ihre gegenwärtige Bedürfnisbefriedigung zu versagen: Wer sagt denn, dass die Belohnung kommt?
Die schlechte Nachricht lautet: Wer als Kind oder junger Erwachsener nicht gelernt hat, seine Bedürfnisse zu steuern, wird es als Erwachsener nicht oder schwer lernen. In extremen Fällen kommt es zu einer mangelnden Ausbildung des Steuerungszentrums im präfrontalen Kortex; wer sich gar nicht in der Gewalt hat, ist geradezu prädestiniert, mit seinen Mitmenschen und dem Gesetz in Konflikt zu geraten.
Die gute Nachricht ist: Das Gehirn ist unfassbar plastisch; und viel länger, als es sich die Anhänger der „Gene bestimmen alles“-These bis vor wenigen Jahren vorstellen konnten. 50 Jahre nach den ersten Marshmallow-Tests können wir immer noch von ihnen lernen.

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