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Die Verachtung oder: Vera Lengsfeld und die schweigende Mehrheit

Vera Lengsfeld hat auf der „Achse des Guten“ einen lesenswerten Beitrag veröffentlicht. Das Folgende verstehen Sie nur, wenn Sie ihn vorher lesen:

http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/die_schweigende_mehrheit_ist_irrelevant

Lesenswert ist dieser Artikel nicht, weil er neue Erkenntnisse formulieren würde, sondern vielmehr, weil er die uralte Struktur des Vorurteils offen legt.

Eine Mehrheit wird für die Taten – oder die unterstellten Taten – einer Minderheit haftbar gemacht. Der Text soll folgende Prämisse belegen: „Heute werden wir immer wieder von ‚Experten’ und Meinungsmachern belehrt, dass der Islam eine Religion des Friedens sei und die Mehrheit der Muslime in Frieden leben wolle. Obwohl diese unqualifizierte Bemerkung wahr sein könnte, ist sie vollkommen irrelevant.“

Es folgt dann  die – unvollständige – Auflistung der Untaten islamischer Terrororganisationen. Nun ist die Frage, ob die Mehrheit der Muslime in Frieden leben will, natürlich nicht völlig irrelevant. Im Gegenteil. Wenn man diese Frage verneinen müsste, würde es wenig Sinn machen, beim Kampf gegen den islamischen Terror zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten zu unterscheiden. (Um ein anderes, im Zusammenhang mit Lengsfelds weiterer Argumentation nicht irrelevantes Beispiel zu nennen: Die Unterstellung, die Mehrheit der Bevölkerung unterstütze die Kriegsanstrengungen ihrer jeweiligen Regierung, die Brechung ihrer Moral sei daher legitimes Ziel der Kriegführung, war im Ersten und erst recht im Zweiten Weltkrieg wesentlicher Teil der Legitimierung für den Bombenkrieg gegen zivile Ziele, wie man in Richard Overys ausgezeichnetem neuem Buch über den Bombenkrieg in Europa nachlesen kann.)

Lengsfeld führt eine Vielzahl von Beispielen an, bei denen die Frage der Einstellung der Mehrheit angeblich genauso irrelevant sei wie bei den Muslimen. Sie beginnt mit Nazi-Deutschland, wo laut ihrem Gewährsmann Emanuel Tanya „nur wenige Menschen wirkliche Nazis waren“, aber „sich zurücklehnten und die Nazis gewähren ließen“. Nun, wenn der Prozentsatz der Muslime, die sich mit den Zielen von Al Qaida oder der ISIS, der Hamas oder Boko Haram identifizieren, so hoch ist wie es der Prozentsatz der Deutschen war, die – obwohl „nur wenige“ Nazis waren – mit den Zielen Hitlers identifizierten, dann hätten wir ein dickes Problem und müssten – zum Beispiel – sofort den Zuzug von Muslimen nach Deutschland stoppen. Was die gar nicht so klammheimliche Agenda der Frau Lengsfeld und eines Teils der Autoren auf der „Achse“ ja  auch ist. Es ist intellektuell unterkomplex, diese Frage für „irrelevant“ zu erklären und das Wort „Experten“ in Anführungszeichen zu setzen, bloß weil man sich nicht die Mühe machen will, seine eigenen Vorurteile anhand von Fakten zu überprüfen.

Im Übrigen behauptet Frau Lengsfeld immer wieder, die Unterstützung für Hitler in der deutschen Bevölkerung sei gering gewesen, obwohl alle Fakten darauf hinweisen, dass dies nicht der Fall war. Das DDR-Regime wäre froh gewesen, auch nur annähernd hohe Zustimmungswerte zu erreichen. Dass diese Fakten nicht „irrelevant“ sind, zeigt sich daran, dass Hitler nur durch einen totalen Krieg zu besiegen war, während der Kommunismus infolge des Systemwettbewerbs und seiner inneren Widersprüche implodierte. Man könnte nun die anderen von Frau Lengsfeld aufgeführten Beispiele durchdeklinieren, aber das wäre langweilig.

Tatsächlich gehörte und gehört es immer zum Inventar der Demagogen, die Mehrheit für irrelevant zu erklären. Nur eine Minderheit von Juden seien entweder Bankiers oder Bolschewisten? Egal, dafür haften alle Juden. Oder: Wer Jude ist, muss nicht notwendigerweise dafür sein, Gaza zu bombardieren? Egal, zünden wir eine Synagoge an, verprügeln wir mal einen Kippa-Träger. Diese Denkweise wird nicht intelligenter oder moralisch akzeptabler, wenn sie auf andere Gruppen angewendet wird. Es ist schlimm, dass eine Frau, die als ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin ihre Verdienste hat, nun nachträglich die Stimme der Unterdrückten für irrelevant erklärt. Es ist bedenklich, dass dies auf einem Blog geschieht, der angeblich eine Stimme der Demokratie sein will.

Auf der „Achse“ erschien ein Leserbrief zu Lengsfelds Suada, der so beispielhaft rational ist, wie Lengsfelds Ausführungen irrational sind. Ich drucke ihn hier daher in voller Länge ab.

Anton Flussmann schrieb:

„Sehr geehrter Frau Lengsfeld,

vielen Dank für Ihren interessanten Beitrag auf diesem Blog, den ich aus England verfolge. Leider habe ich den Eindruck, dass Ihre eingangs erwähnten Beispiele und das Zitat nicht recht zu Ihrer Schlussfolgerung passen. Ich schätze die Absolventen des Berliner Sprachenkonvikts, zu denen Sie ja gehören, sehr, und so habe ich mir die Mühe gemacht die folgenden zwei Anmerkungen zu formulieren. Hoffentlich können Sie meinen Argumenten etwas abgewinnen.

1. Ich lebe seit ca. 10 Jahren in Großbritannien (Cambridge und London) und obwohl ich mich als Jurist und Rechtswissenschaftler beruflich mit dem Recht religiöser Gruppen in England (ganz speziell London) befasse, habe ich bisher noch nichts von den von Ihnen erwähnten sog. No-Go-Zones gehört. Weder in London, noch in anderen Städten wie bspw. Birmingham gibt es solche Zonen – das würde von der britischen Gesellschaft auch überhaupt nicht geduldet. Stattdessen gilt die Zusammenarbeit familiärer Schiedsgerichte von religiösen Minderheiten (und das bezieht sich nicht nur auf den islamischen Kontext, sondern ganz besonders auch auf die jüdisch-orthodoxen Gemeinden in London) mit den staatlichen Gerichten in London als weltweit vorbildlich. Es gilt hier stets, dass in bestimmten Rechtsbereichen (bspw. im Familienrecht) religiöse Rechtsnormen Anwendung finden können, wenn sie im Einklang mit dem englischen Common Law sind. Das leuchtet allen Beteiligten ein und funktioniert hervorragend. Von No-Go-Zones und unkontrollierten Parallelrechtswelten kann also wenigstens in Großbritannien keine Rede sein!

2. Prinzipiell teile ich Ihre Ansichten hinsichtlich der schweigenden Mehrheit (auch wenn mir manche Ihrer Beispiele allzu polemisch und unrefined erscheinen) – allerdings setzen Sie voraus, was Sie eigentlich beweisen müssten: dass es eine schweigende Minderheit von Muslimen gibt. Ich würde Ihnen empfehlen, einfach einmal die Webseite einer Institution Ihrer Wahl, welche die Mehrheit (oder wenigstens einen Teil der Mehrheit) der Muslime in Deutschland repräsentiert, zu besuchen und sich die Stellungnahmen anzusehen (willkürliche Empfehlung: http://www.ditib.de/ Neueste Pressemeldung: “Wir verurteilen den Brandanschlag auf eine Synagoge in Wuppertal!”; s.a. die Stellungnahme von Aiman Mazyek hier: http://www.welt.de/regionales/duesseldorf/article130726861/Zweiter-Verdaechtiger-nach-Brandsaetzen-festgenommen.html). Oder suchen Sie einmal das Gespräch mit den Stipendiaten der Avicenna-Stiftung, oder lesen Sie einen Beitrag eines muslimischen Autoren zum Nahost-Konflikt (es gibt sie! z.B.: http://www.tagesspiegel.de/berlin/debatte-um-nahostkonflikt-in-berlin-vernuenftige-ich-kann-uns-nicht-hoeren/10252962.html). Sie werden merken, dass diese Mehrheit alles andere als schweigsam ist.

Aber selbst wenn Sie Recht haben sollten; selbst, wenn die Mehrheit der Muslime schweigen sollte (was sie m.E. nicht tut), dann sind es diejenigen, die die Mehrheit zur Irrelevanz verdammen, welche die Folgen des mehrheitlichen Schweigens zu verantworten haben. Im Angesicht des Nazi-Terrors oder im Angesicht der Stasi-Diktatur wäre es doch das schlauste gewesen, so wie es bspw. die Weiße Rose versuchte, gerade die schweigenden Massen zu mobilisieren (dass dies im Fall der DDR gelang, unterscheidet das Ende jenes Regimes vom Ende der NS-Diktatur) statt so zu tun als sei die Masse nicht entscheidend. So wie Sie die Beispiele im Moment gebrauchen, machen sie wenig Sinn – sie taugen jedenfalls überhaupt nicht zur Untermauerung Ihrer Kernthese.

Zusammenfassend heißt das, selbst wenn Sie recht haben sollten, dann wäre es Ihrem eigenen Ziel förderlicher, wenn Sie sich mit der Mehrheit der schweigenden Muslime zusammen tun und gemeinsam eine Strategie entwickeln würden, wie man jene wenigen Strömungen des Islams, welche zweifelsohne existieren, die fanatisch und menschenverachtend sind, bekämpfen kann. Wenn Sie das täten, dann höbe sich der augenblicklich existierende Widerspruch zwischen Ihren eingangs erwähnten Beispielen und Ihrer Schlussfolgerungen auf und Sie würden einen wirklichen Beitrag zur Zukunft Ihres Landes leisten.“

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