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Die Türkei in die EU? Lieber nicht!

Bei seinem jüngsten Besuch in der Bundesrepublik hat der türkische Premierminister Erdogan den Wunsch seines Landes bekräftigt, die Verhandlungen über den Beitritt seines Landes in die EU erfolgreich zu Ende führen zu wollen. Er sehe die Perspektive der Türkei in Europa, ja er brüstete sich damit, dass die Türkei wirtschaftlich so stark sei, dass sie für Europa „Lasten übernehmen“ könne.

Wahrscheinlich träumt er davon, den klammen EU-Krisenstaaten mit türkischen Krediten unter die Arme zu greifen. Dieses neuerliche Bekenntnis zu Europa überraschte, zumal Erdogan in den letzten Jahren zu erkennen gegeben hatte, dass sich die Türkei auch von Europa abwenden und stattdessen im Nahen Osten die Rolle einer regionalen Führungsmacht übernehmen könne. Das offensive Verhalten der Türkei in der Syrien-Krise scheint das Streben nach einer Hegemonial-Rolle zu bestätigen.
In Deutschland gab es nach dem Erdogan-Besuch prompt wieder eifrige Fürsprecher für den Beitritt der Türkei in die EU. Bei ihnen steht stets das Argument im Mittelpunkt, die Türkei könne als einziger laizistischer muslimischer Staat Brücken zwischen den europäischen Demokratien und den autokratisch regierten Staaten in der muslimischen Welt bauen. Diese könnten lernen, dass Demokratie und Islam miteinander vereinbar seien, was die Türkei ja in der Praxis beweise. Dieses Argument wird so gebetsmühlenhaft vorgetragen, dass man kaum noch wagt, es kritisch zu hinterfragen. Das sollte man allerdings tun, damit man nicht Gefahr läuft, den Wunsch für die Wirklichkeit zu nehmen.
Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger sprach bei ihrem Besuch in der Türkei Ende Oktober das Demokratie-Defizit der Türkei an, freilich in der verklausulierten Watte-Sprache der Diplomatie. Es gebe noch „einige Herausforderungen“ zu bewältigen, bis man von rechtstaatlichen Standards sprechen könne. Der jüngste Fortschrittsbericht der EU ist da schon deutlicher. Er verzeichnet eine steigende Zahl von Eingriffen in die Pressefreiheit. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte 2012 fest, dass die Türkei die Menschenrechtskonvention in 159 Fällen verletzt hat, öfter als Russland (121) und die Ukraine (105).
Das Urteil von Amnesty International fällt noch kritischer aus. Der letzte Länderbericht von „AI“ enthält eine bedrückende Auflistung von Verstößen gegen die Menschenrechte. Die Türkei verletzt bei Strafprozessen ständig internationale Standards. Die Anti-Terrorgesetzgebung wird dazu missbraucht, die Meinungsfreiheit einzuschränken. So sind über 100 Journalisten inhaftiert, Anwälte, die „heikle Fälle“ vertreten, werden selbst inhaftiert und monatelang ohne Prozess im Gefängnis festgehalten. Der berüchtigte Strafgesetzartikel § 301 stellt die „Beleidigung der türkischen Nation“, die Beleidigung des Militärs und der Sicherheitskräfte unter Strafe. Ein wahrer Gummiparagraph. Strafandrohung für diese Art von Beleidigung: zwei Jahre Gefängnis. Erdogan stellte selbst das Signal auf „Rückwärts“, als er öffentlich darüber redete, die ausgesetzte Todesstrafe bei „bestimmten Delikten“ wieder anzuwenden.
Die Christen in der Türkei fühlen sich in den letzten Jahren durch Morde, Anschläge, Drohungen und weit verbreitete Hetze aus türkisch-nationalistischen Kreisen zunehmend bedroht. Die syrisch-orthodoxen Christen werden von der Türkei nicht offiziell als religiöse Minderheit anerkannt und haben keinen geschützten Rechtsstatus. Ihre Klöster werden mit Klagen überzogen, die zum Ziel haben, den Klosterbesitz zu enteignen. Die umliegenden Bauern werden von den Religionsbehörden ermuntert, die Klagen zu führen. So können sie sich am Weideland der Klöster bereichern. Ein immer wieder erhobener Vorwurf gegen die Christen lautet, sie würden die muslimische Mehrheitsgesellschaft „missionieren“, ein Vorwurf, der sehr schnell zu einer Anklage und zu Haftstrafen führen kann.
Das Kurdenproblem ist immer noch nicht gelöst. Statt den Dialog mit der kurdischen Bevölkerung zu suchen und ihr die europäisch garantierten Minderheiten-Rechte zuzugestehen, will die türkische Regierung das Problem militärisch lösen. Durch rüde Militäraktionen treibt sie immer mehr friedlich gesonnene Kurden in die Arme der radikalen PKK, die ihrerseits auch nur auf militärische Aktionen setzt. Die Türkei hat nicht begriffen, dass der Umgang mit einer ethnischen Minderheit ein entscheidender Prüfstein für die demokratische Reife eines Landes und für die Aufnahme in die EU darstellt.
Wenn man all diese Befunde, die den Kernbestand eines demokratischen Staates betreffen, zusammenfasst, kommt man zu einem pessimistischen Fazit. Auch wenn die Regierungsform der Türkei demokratisch ist, wenn die Wahlen zum Parlament oder die Wahl des Präsidenten demokratischen Standards gehorchen, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die Türkei bei der Gewährung der bürgerlichen Rechte noch weit hinter den Standards der Europäischen Union zurückbleibt. Notorische Befürworter des Türkei-Beitritts ficht das freilich nicht an. Der Vorsitzende der Grünen Cem Özdemir meint, das werde sich alles noch geben, wenn die Türkei erst einmal Mitglied im europäischen Club sei. Das ist eine sträflich naive Auffassung. Die EU ist keine Selbsterfahrungsgruppe und keine Erziehungsanstalt. Zu viel steht auf dem Spiel. Wir haben in der Vergangenheit schon erleben müssen, dass voreilig aufgenommene Staaten (Bulgarien, Rumänien) ihre demokratischen Defizite eben nicht beheben, auch wenn sie schon Mitglied sind. Strukturelle Mängel im System, wie z.B. die tief verwurzelte Korruption, lassen sich nicht durch den formalen Akt des Beitritts ausmerzen. Und sollten wir uns wirklich die ethnischen Konflikte der Türkei ins Haus holen? Erleben wir nicht gerade, dass selbst in langjährigen Mitgliedsstaaten wie Belgien, Spanien und Ungarn alte ethnische Konflikte wieder aufbrechen und eine ungeahnte Sprengkraft entfalten.
Die Türkei liegt nur mit drei Prozent ihres Territoriums auf europäischem Boden. 97 % gehören dem asiatischen Kontinent an. Sollten wir uns allen Ernstes die riesigen Probleme, die dieses Land in sich birgt, aufladen, nur um dem Wunschtraum von der friedlichen Koexistenz zwischen Christen und Muslimen ein Opfer zu bringen? Ich denke: Nein!

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7 Gedanken zu “Die Türkei in die EU? Lieber nicht!;”

  1. avatar

    Dass Großbritannien die Aufnahme der Türkei in die EU begrüßt, hat einen einfachen Grund: Das UK hält die EU nicht für eine Wertegemeinschaft, sondern für eine Freihandelsszone. Je heterogener die Gemeinschaft ist, desto besser lässt sich diese Intention durchsetzen. Sehr durchschaubar. Die USA haben in erster Linie die Nato im Sinn, wenn sie die Aufnahme der Türkei in die EU befürworten. Sie glauben, dass die Türkei als EU-Mitglied nicht mehr ausscheren könnte und den Gelüsten, als islamische Regionalmacht zu agieren oder gar ein doppeltes Spiel zu treiben, widerstehen würde.
    Hätte ich meinen Kommentar einige Tage später verfasst, hätte ich berücksichtigen können, dass die Türkei selbst einen gewichtigen Grund für die Nichtaufnahme geliefert hat. Ich meine die Haltung Erdogans zum Gaza-Konflikt. Er warf Israel Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, ohne die Raketen der Hamas zu erwähnen. Heute legte er nach und sprach von israelischem Staatsterrorismus. Es gehört zur Räson der EU, Israel gegen die Angriffe seiner Feinde beizustehen, vor allem moralisch. Die Türkei stellt sich seit dem ersten Gaza-Krieg systematisch gegen Israel, um bei den muslimischen Staaten und Bewegungen zu punkten. Soll die Türkei dies künftig aus der EU heraus tun dürfen? Eine absurde Vorstellung.

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    Cher Parisien

    zwischen den Unabhaegigkeitsambitionen in Belgien und Spanien und den Progromen in Ungarn gegen die Sinti und Roma besteht sicher ein Unterschied.

    Aber vielleicht sehen wir dies von der anderen Seite des Atlantiks etwas besser und lesen mehr die news.

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    Die USA „wirkt“ fuer die „Einfuegung“ der Turkei in die EU – auch Georgien, moeglichst noch Moldovia, Armenien und Azerbaidjan. „The more the merrier!“ Fuer die USA ist EU-Europa nur ein Instrument zur Vorschiebung ihres „geostrategic parameter“ zugleich gegen Russland wie in den Nahen Osten. Die „Gruene“ Partei der BRD ist infiltriert mit geopolitischen „Partnern“ der USA und Britanien. Diese „Partner“(in NROs) vermindern die wirtschaftliche Dimension der BRD (als Konkurrenz der USA) durch hysterische Behinderung inner-deutscher Infrastrukturprojekte, und gleichzeitig sind sie de facto Agenten der USA & Britanien NROs in der Behinderung von USA unerwuenschten nationalen Entwicklungsprojekte in Suedamerika. Gleichzeitig sind „Gruene“ schnell fuer NATO Interventionen – wie damals in Yugoslavien, heute in Mali. Es gruselt gruen…

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    Die Frage ist nicht, ob es erhebliche Demokratiedefizite in der Türkei gibt – sie gibt es. Die Frage ist auch nicht, ob die Türkei beitreten darf, so lange es diese Defizite gibt – sie darf es nicht. Die Frage ist: Angenommen, die angesprochenen Probleme würden behoben – würde die Türkei dann der EU beitreten dürfen?
    Und die Antwort, die Merkel und Sarkozy gegeben haben, ist: Nein. Da die EU-Staaten aber nichts gegen eine Aufnahme von Bulgarien und Rumänien hatten, nichts gegen die Faschisierung Ungarns unternehmen, positiv die Aufnahme Serbiens befürworten, dessen Regierung vor nicht einem zwei Jahrzehnten ethnische Säuberungen und Massaker auf dem Balkan – unter dem Jubel der Bevölkerung – vornahm, außerdem Mazedonien, Kosovo und Albanien in der EU sehen wollen, fragt man sich zu Recht in der Türkei, ob die angesprochenen Defizite das Problem sind, oder ob die Türkei deshalb dauerhaft ausgeschlossen werden soll, weil es ein großes muslimisches Land ist; ob die Europäer, genauer gesagt: Deutschland und Frankreich, die EU also als christlichen Club verstehen.
    Die Aufnahme der Türkei wird von so diversen EU-Ländern wie Großbritannien, Polen und Griechenland befürwortet, auch die USA sind dafür. Daher ist es unlauter, als „notorischen Befürworter“ des EU-Beitritts nur Cem Özdemir von den Grünen zu benennen.
    Die Frage lautet: Was soll die EU sein? Wenn wir von einem Superstaat reden, mit Deutschland und Frankreich als Kern, dann gehört die Türkei nicht herein, ebensowenig wie das marode Griechenland und das „notorisch“ liberale Großbritannien. Wenn wir von einer Supermacht reden, die Europa in den Stand setzen soll, auch im 21. Jahrhundert mit China und den USA mitzuhalten, wenn es um Handelsabkommen und Rohstoffsicherung geht, dann gehört die Türkei unbedingt herein.
    Die EU muss sich klar werden, was sie will, was sie sein soll, bevor sie die Frage des Beitritts der Türkei entscheidet.

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    @ JLL
    „Erleben wir nicht gerade, dass selbst in langjährigen Mitgliedsstaaten wie Belgien, Spanien und Ungarn alte ethnische Konflikte wieder aufbrechen und eine ungeahnte Sprengkraft entfalten.“

    In Belgien meint er Flamen vs. Vallonen, in Spanien Katalonen vs. Spanien und in Ungarn wohl das deutliche Aufflackern des Antisemitismus. Kann durchaus alles in einem Atemzug genannt werden, weil das Grundprinzip dasselbe ist. Tenor: Nichts ist gut in Europa, was will da Erdogan, der nicht mal Aleviten erträgt?

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    Die Nennung von Belgien, Spanien im Satz mit ungarn ist wirklich „befremdlich“. Da hat der Autor was nicht verstanden oder mit allzu flüssiger Feder formuliert. Trotzdem beharre ich auf der Solidität meiner Geschichtskenntnisse – ich war aber auch nie an einer reformpädagogischen Schule.
    Die Schlüssigkeit der Argumente gegen den Beitritt der Türkei zur EU bleibt von dem „Belgien-Ausrutscher“ unberührt.

  7. avatar

    Schon eigenartig wie man hier Belgien und Spanien mit Ungarn in einen Atemzug nennt.

    Waehrend es bei Belgien und spanien und nicht zu vergessen auch UK um die Entwicklung zu foederalen staaten handelt, ist die Verfolgung der Sinti und roma doch etwas anderes

    Und von einem Großbelgischen Reich habe ich auch noch nicht gehoert im gegensatz zu Großungarn.

    aber die Geschichtskenntnisse dere deutschen Lehrer sind auch wohl nicht mehr dass was sie frueher einmal waren.

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