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Wes Geistes Kind

Wie empfinden Sie das als Deutscher? Fragt mich in einem Londoner Club ein englischer Journalist. Keine Ahnung. Ich bin umso irritierter, je länger ich über die Frage nachdenke. Ich kann sie nicht beantworten. Ich weiß nicht, wie man als Deutscher empfindet. Oder wie man deutsch empfindet. Die Unterschiede zwischen den Nationen scheinen greifbar, und doch kriegt man sie nicht zu fassen.

Ich hasse es schon, als „der“ Deutsche verschlissen zu werden. Und für all meine Landsleute haften zu sollen; womöglich sogar für vergangene Generationen. Was soll ich verschuldet haben, bevor ich auf der Welt war? Was errungen, als mich nicht mal Windeln umfingen? Reden wir von Erbsünde? Oder, was nicht besser wäre, von ererbten Verdiensten? Stolz, ein Deutscher zu sein?

Mitglied einer Nation zu sein, berechtigt das zu Privilegien? Farben tragen. Schwarz-Rot-Gold: Hurra. Oranje: Nie? Farben, für die man zu kämpfen bereit ist und solche, die es in den Schmutz zu treten gilt? Warum verbindet sich in all diesen Vorstellungswelten das Anderssein mit dem albernen Wunsch nach Überlegenheit? Ich bleibe gespalten. Patriot? Ja. Nationalist? Nein.

Genotyp oder Phänotyp? Wir weisen Menschen immer einer Gruppe zu, weil es dann einfacher wird, sie einzuordnen, einem Genus zuzuteilen. Der Einzelne ein Phänomen seiner Art. So werden Menschen typisch. Wir lieben Vorurteile. Durch die Provinz fahrend liest man an alten Gasthöfen noch die Werbeschrift „Fremdenzimmer“. Das war die erste Differenz zwischen denen vom Ort und den Fremden.

Das Fremde macht Angst; es birgt Ungewissheit. Bei den Bekannten glaubt man wissen zu können, was man zu erwarten hat. Schon das ist nur eine Hoffnung, aber keine Erfahrung. Die meisten Morde sind Beziehungstaten, sie geschehen im vertrauten Kreis. Laut Kriminalstatistik ist der gefährlichste Ort und das böseste Datum der 24.12. im Kreise der Familie. Unheiliger Abend.

Ursprünglich sind alle Gemeinschaften Stammesgesellschaften. Die Familienbande sind die nahe liegendsten Bindungen. Darin spiegelt sich das noch ursprünglichere, das Rudel. Das sage man aber nicht jenen, denen die Familie heilig ist. Man gibt sich Kainszeichen der unverbrüchlichen Zugehörigkeit.

Besonders schwierig wird es in Patriarchaten, weil der Vater biologisch ja immer unsicher ist. Den gebärenden Mutterschoß kennen wir, aber die Vaterschaft bleibt ein Geheimnis der empfangenden Frauen. Deshalb sind viele Vätergemeinschaften heimlich Matriarchate. Zu sagen hat Papa, aber Mama entscheidet, was gemacht wird. Vielleicht ist das auch gut so.

Der heimische Herd, das Dorf sind der Ursprung des Vertrauten. Darüber die Region, deren Sprachfärbung man spricht und, deren Sitten und Gebräuche man teilt. Immer schon hatte das lokale und regionale Raster ein Spannungsverhältnis zum politischen. NRW mag ein Bundesland sein, aber der Westfale hat mit dem Rheinländer wenig gemein. Und dass die Region Lippe die dritte von NRW ist, das wissen nicht mal mehr die Insider.

Man nenne nie in Baden-Württemberg einen Oberschwaben badisch oder einen Badener Badenser. Oder halte den stolzen Nürnberger für einen katholischen Depp aus Bayern. Letzter Tipp für spontanen Ärger: den Saarländer fragen, ob er aus dem Saargebiet kommt oder aus dem Reich. Familienwesen sind wir, Dorfbewohner, Landschaftstypen, Dialektgezeichnete, Trachtentragende, meist ein Leben lang, meist in aller Welt.

Die Religionszugehörigkeit war ein Muster, das über Jahrhunderte Gründe lieferte, sich die Köpfe einzuschlagen. Rechtgläubige und Ketzer: Schlagt sie tot, die Ungläubigen! Auch hier in Spannung zu politischen Gliederungen. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing; dieser Grundsatz brachte Ordnung in die Sache, wenn auch keinen inneren Frieden. Der Sohn meines Vaters, das Kind meines Stammes, die Zunge meiner Mutter, das Temperament der Nachbarn, der rechte Glaube; so bilden sich für die Menschen die Achsen dessen, was sie Heimat nennen. Vertrautes, das Sicherheit gibt, Patriotisches. Mutterland.

Dann ist da für das Rudel die Abstammung im übergeordneten Sinne, die Rasse. Spätestens bei der Ethnie taucht ein Moment der Abgrenzung vom Fremden auf, das uns in der Geschichte problematisch geworden ist: die Vorstellung einer prinzipiellen, weil ererbten Überlegenheit. Die Engländer des Kolonialismus haben sich im Unterschied zu den Indern und Pakistani nicht nur als Herrscher verstanden, sondern als überlegene Rasse.

Im Regal steht ein Buch aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert mit dem vielsagenden Titel: „The Gentleman, a very fine example of the ruling races.“ Das Selbstverständnis als herrschende Rassen war noch ungebrochen, jedenfalls bei den so Hervorgehobenen. Die Geschichte vom afroamerikanischen Sklavenhandel bis zum Rassenwahn der Nationalsozialisten hat dem Überlegenheitsanspruch die Selbstverständlichkeit genommen. Aber Nationalstolz bleibt unbelehrbar.

All das überlagert die Politik. Unter wessen Herrschaft darf ich leben? Das Mittelalter kennt den Fürsten. Und dann die freien Städte. Die Französische Revolution bricht der Selbstverständlichkeit der Adelsherrschaft das Genick. Aber auch in den reichsfreien Stadtrepubliken verfestigt sich Herrschaft und Macht. Viele der bürgerlichen Aufsteiger gebärden sich als Patrizier wie die Barone ehedem. Die Renaissance begründet die Demokratie und schafft sie sogleich wieder ab.

Die politische Frage ist immer an die wirtschaftliche gekoppelt. Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Was bin ich? Freier Bauer oder Pächter? Knecht oder Tagelöhner? Armer Landritter oder hanseatischer Kaufmann? Handwerker oder Industrieproletarier? Selbstständiger oder Staatsdiener? Rentier eines stattlichen Vermögens oder Versorgungsempfänger? Marx hatte recht, der Proletarier hat kein Vaterland.

Nach alldem liegt die Frage der Nation. Die politischen Zufallsgemeinschaften namens Staat geben sich mit dem Konzept „Nation“ eine Identität, die den Machtanspruch in einem großen Mythos auffangen soll. Und Überlegenheit symbolisch begründen wie die Bereitschaft, seine Söhne für das Vaterland ins Feld zu schicken. Der Nationalcharakter wird aus all den genannten Fäden gewebt, aber er bleibt ein Konstrukt, mit dem sich Herrschaft legitimiert.

Ich empfinde mich als Europäer. Aber auch das doch nicht geografisch. Was habe ich mit Albanien zu schaffen oder Grönland? Und Italien lieben, das beantwortet noch nicht die Frage, ob man den Partisano oder den Duce verehrt. Ciao, bella, ciao.

Also bleibt nur die Frage, wes Geistes Kind man ist. Oder sein möchte. Da fällt dann der Begriff der humanistischen Bildung. Wir reden von Aufklärung, von Protestantismus, von Moderne. Man fragt nicht: Woher kommst Du? Man fragt: Wohin willst Du?

Und all das, nur weil der bescheuerte Tommy mich fragt, was ich als Kraut dazu zu sagen habe.

 

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6 Gedanken zu “Wes Geistes Kind;”

  1. avatar

    Lieber Herr Kocks! Ich komme gerade aus Arromanches/Omaha Beach. Wie empfand ich das? Ich war fassungslos. Hin und wieder hilft mal beten, Gott danken, dass diese jungen Männer ihr Leben geopfert haben, um dieses Monster zu besiegen. Junge Briten, Amerikaner, Kanadier. Dabei wurde mir klar, wie dünn diese Dankbarkeit im Großen und Ganzen geworden ist, dass Dankbarkeit eine kurze Halbwertzeit hat. Man sollte jedem, der Antiamerikanismus pflegt, zwei Reisen empfehlen: Eine nach Arromanches und an die Gräber, die zweite nach Coventry.
    Ich sprach mit einem Engländer darüber. Sie hätten auch ihre nationalen Sünden, sagte er. Ich protestierte. Sie seien ein völlig anderes Volk, freundlicher, zurückhaltender, gelassener, ließen einfädeln, machten queuing, ein teetrinkendes, geduldiges Volk mit einer Gesprächskultur. Ob es stimme, dass wir Poolliegen reservierten, fragte er. Leider musste ich das bejahen. Und die Frage, ob der Holocaust fast nur in Deutschland passieren konnte, in England dagegen undenkbar ist, wird mich immmer beschäftigen. Deutschsein ist ausgesprochen schwierig. Und daher habe ich selten eine deutsche Meinung, sondern meist eine übergeordnete. Daher könnte ich die Frage, die Ihnen da gestellt wurde, auch nicht beantworten. God save the Queen!

  2. avatar

    lost property:

    „In den USA ist die Wahrscheinlichkeit, erschossen zu werden, 40 mal größer als in Kanada, England oder Deutschland. Doch auch der jüngste Amoklauf in einem Kino in Aurora mit zwölf Toten wird nichts ändern – denn die meisten Politiker haben Angst vor der mächtigen Waffenlobby.

    Die Reaktion ist immer die Gleiche: Entsetzen, Fassungslosigkeit, Trauer, Gebete, Verdrängen. Die ersten vier Phasen dieses Reaktionszyklus durchlaufen amerikanische Politiker mittlerweile in wenigen Stunden. Für die letzte Phase brauchen sie ein paar Wochen.“

    http://www.berliner-zeitung.de.....76942.html

    felix europa

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    Die Befreiung ist ein „Weltmensch“ zuwerden! Goethe meinte: „Ich habe mich in Rom gefunden!“. Levy-Strauss der franzoesische Antropologe erklaerte: „Haette ich gewusst wie ich bin, dann haette ich mich nicht erst in exotischen Abenteuern suchen muessen!“. Die „Experience“ in verschiedenen Umstaenden, in verschiedenen Kulturen, mit verschiedenen Menschen – fuehrt zu einer persoenlichen Befreiung und gleichzeitig zu der notwendigen „Selbstentdeckung“. In den Amerikas kann man die Moeglichkeit haben oder such, in verschiedenen Kulturen zuerleben. Wie erklaere ich den Menschen in den Amerikas die „Germans/Alemaos“ von 2012: 50% sind amerikanisierte Nazis, 25% sind Ueberfanatiker der britischen NROs, 25% sind normal.“ Wirklich!

  4. avatar

    „Man fragt nicht: Woher kommst Du? Man fragt: Wohin willst Du?“
    Herr Kocks, das gefällt mir schon sehr gut:
    Woher man kommt, das kann zwar sehr wichtig sein, um sich selber zu verstehen, vielleicht noch, um einiges von einem selber anderen zu erläutern, sofern man das selber will, aber eigentlich geht es einen Anderen nichts an.
    Andererseits muß Neugierde doch auch erlaubt sein?

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