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Warum man den Plenarsaal des niedersächsischen Landtags ruhig abreißen kann

Der Landtag von Niedersachsen sitzt im ehemaligen Schloss der Hannoveranischen Könige. Man erreicht ihn vom Hauptbahnhof nach einem zehnminütigen Spaziergang durch die obligate Fußgängerzone und ein Stück wieder aufgebaute Fachwerkaltstadt. Er liegt direkt an der Leine. Jenseits des Flusses haben die Stadtplaner der 1950er Jahre unter Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht im Interesse der „autogerechten Stadt“ eine jener Asphaltschneisen durch frühere Sichtachsen und Stadtquartiere geschlagen, die bis heute so viel zur Unwirtlichkeit westdeutscher Städte beitragen.

Das Schloss ist ein klassizistischer Bau mit einem imposanten Säulenportikus, zu dem eine breite Treppe hinaufführt. Die Treppe ist allerdings kein Original. Sie wurde 1958 beim Umbau des im Krieg völlig ausgebrannten Gebäudes durch Dieter Oesterlen hinzugefügt. Man betritt das Schloss nun nicht mehr wie zu Königs Zeiten zu ebener Erde, sondern im ersten Stock. Drinnen empfängt einen Leichtigkeit und Licht; um einen verglasten Innenhof herum hat Oesterlen eine sachlich-helle, angenehm schlichte Architektur geschaffen. Rechts geht es in den umgebauten Seitenflügel des Schlosses, wo die Verwaltungsräume liegen; links geht es übergangslos in Oesterlens Neubau, der den Plenarsaal, eine große Lobby und die Sitzungsräume der Abgeordneten enthält. Eine geglückte Verbindung von Alt und Neu.

Relativ geglückt jedenfalls. Oesterlen hatte, um Alt und Neu zu verschränken und um klarzumachen, dass hinter der Schlossfassade ein Neubau steht, überall die alten Sprossenfenster durch ungeteilte, moderne Fenster ersetzt. Gerade ist man dabei, seine Fenster wieder auszubauen und durch Sprossenfenster zu ersetzen. Aus „energetischen“ Gründen, heißt es. Oesterlens einfach verglaste Riesenscheiben seien mit den Anforderungen einer modernen Wärme- und Lärmisolierung nicht vereinbar.

Oesterlen zeigte seinen Respekt vor dem vorgefundenen Bau, indem er seinem Neubau eine Kubatur gab, die in etwa der des anderen Seitenflügels entspricht und dem Säulenportikus eine Zentralität gibt; eine Zentralität allerdings, die er in früheren Zeiten nie hatte, denn das Schloss hatte immer nur einen – den rechten – Seitenflügel. Außerdem verzichtet Oesterlen an den beiden Schmalseiten seines Neubaus auf jegliche Fassadengestaltung; der Bau erscheint als fensterlose Steinfront (allerdings geschmückt mit den drei „Windsbräuten“, mittelalterlich anmutender Kunst am Bau von Professor Jürgen Weber). Nur an der Längsseite, die sich dem Denkmal und dem Platz der Göttinger Sieben, einer Autoschneise über die Leine und dem im Weltkrieg zerstörten und später abgerissenen „Wasserspiel“ zuwendet, wird die Fassade durch vertikale Fensterbänder gegliedert. Als er neu war, muss der Bau schockierend kahl und schmucklos gewirkt haben; heute fällt er von außen weder positiv noch negativ auf. In den einschlägigen Fremdenführern ist er vielleicht auch deshalb nicht zu finden: wird der Landtag abgebildet, schneidet man das Foto so, dass der Oesterlen-Bau nicht zu sehen ist. Als es darum hieß, der Plenarsaal müsse abgerissen werden, um einem Neubau Platz zu machen, dachten viele Bürger zunächst, es werde die Schloss-Fassade abgerissen.

Anders ist die Bürgerempörung kaum zu erklären. Man fragt sich, zumal angesichts der vielen Scheußlichkeiten in dieser Stadt (zuletzt haben Hentrich und Partner die Aufgabe vergeigt, aus dem Neubau der Nord-LB ein Vorzeigeprojekt der gläsernen Moderne zu schaffen), warum es ausgerechnet der Plenarsaal einer Bürgerinitiative so angetan hat, dass sie 40.000 Unterschriften gegen den Abriss gesammelt hat. Man fragt sich allerdings auch, warum ein Neubau unbedingt sein muss.

Fragen wir also Wolfgang Göke, Direktor beim Landtag Niedersachsen, und Bengt Kleinwächter vom Gebäudemanagement. Die beiden Herren führen mich bereitwillig in den Plenarsaal, der dank seiner Holzverkleidung und abgerundeten Formen wie eine Palisadenfestung im lichten Viereck des Oesterlen-Anbaus sitzt, wie ein Kino- oder Theatersaal. Er ist ein durchaus beeindruckendes Zeugnis der Nierentischästhetik seiner Entstehungszeit.

Sofort aber wird ein Problem sichtbar: der Raum ist zu klein. Weder haben die zurzeit 152 Abgeordneten genügend Platz, noch die Besucher; zurzeit sind es etwa 30.000 jährlich. Man muss sich ein Jahr im Voraus melden und kann dann trotzdem nur eine Dreiviertelstunde bleiben. Da die Landtagssitzungen laut Verfassung öffentlich sein sollen, eigentlich ein unhaltbarer Zustand.

Hinzu kommt das Fehlen von Tageslicht. Der Raum hat ja keine Fenster. Das ist bei einem Theater oder Kino kein Problem, aber „wenn die Abgeordneten hier zwei, drei Tage zehn Stunden am Tag sitzen, bröckelt schon am zweiten Tag die Stimmung“, sagt Göke. „Die Debattenkultur wird vom Eingeschlossensein geprägt, und das tut ihr nicht gut.“

Noch schlimmer sind die Besprechungsräume. Sie sind fensterlose Besenkammern. Im Besprechungsraum des Ministerpräsidenten behilft man sich mit einem psychologischen Trick. Es gibt einen Vorhang, der ein dahinter liegendes Fenster vortäuscht. Wenn man ihn zurückzieht, kommt die blanke Wand zum Vorschein.

Hinzu kommen neue Brandschutzbestimmungen, die zum Beispiel dazu geführt haben, dass die unter dem Plenarsaal liegende Gaststätte mit ihrer schönen Terrasse zur Leine hin bereits geschlossen wurde. „Sie wurde aber ohnehin nie von der Bevölkerung angenommen“, meint Göke. Mag sein.

Aus all diesen Gründen diskutiert man seit 20 Jahren über eine bauliche Veränderung. 2002 wurde sogar ein Wettbewerb zur behutsamen Erneuerung des Oesterlen-Baus veranstaltet, die aber aus Kostengründen nicht durchgeführt wurde. „Jede Erneuerung läuft im Grunde genommen wegen der statischen Besonderheiten des Plenarsaals auf eine Neukonstruktion hinaus“, meint Göke. Neu zu bauen, um ein ästhetisch interessantes, praktisch aber nicht gut funktionierendes Gebäude wiederherzustellen? Das ist etwas zu viel des Musealen. Deshalb habe man sich schließlich zum Neubau entschieden.

Der habe zwar nicht unbedingt dort stehen müssen, wo der Oesterlen-Anbau jetzt steht; jeder andere Standort sei jedoch am Ende als unpraktikabel oder teuer verworfen worden. So habe man sich schließlich für den Abriss und seine Ersetzung durch einen Neubau entschieden. Mit 13:4 Stimmen einigte sich die Jury auf den Entwurf des Kölner Architekten Eun Young Yi, der auch die neue „Bibliothek 21“ im Rahmen des Bahnprojekts „Stuttgart 21“ baut. Ein schlechtes Omen?

Im Modell erinnert Yis fast quadratischer Neubau mit seinen von 12 mal 14 Säulen getragenem Flachdach ein wenig an das Mao-Mausoleum in Peking; allerdings sind nicht die Säulen der Clou des Gebäudes, sondern die Konstruktion des Plenarsaals aus Glasbausteinen, die tagsüber für Helligkeit sorgen, nachts den Bau von innen leuchten lassen sollen. Es ist solide Architektur ohne große Effekte; Yi bekundet seinen Respekt vor dem Schloss mit seinem – größtenteils zu erhaltenden – Oesterlen-Innenleben, indem er seinen Neubau Abstand halten lässt. Hier wird keine Synthese von Alt und Neu suggeriert, aber auch kein Gegensatz inszeniert. So kann man es machen, die Kosten sind mit angepeilten 45 Millionen Euro vergleichsweise gering, und man fragt sich noch einmla, warum es dagegen einen solchen Widerstand gibt.

Tatsächlich, sagt Göke, habe niemand damit gerechnet, zumal seit 20 Jahren über die Unzulänglichkeiten des gegenwärtigen Baus diskutiert wird: „Es ist wie Stuttgart 21“. Göke vermutet im plötzlichen Aufwallen des Gefühls „ein Kohortenphänomen“. Wer sich daran erinnert, wie er im Schatten des Landtags seinen ersten Kuss erhielt oder seine erste Demonstrationserfahrungen machte, empfinde den Abriss als Angriff auf seine eigene Biographie. Es ist vielleicht kein Zufall, dass der Denkmalschützer Sid Auffarth, der die Abrissgegner anführt, einer Generation angehört, die sich gern an die „Roter-Punkt-Aktion“ erinnert, mit der aufsässige Studenten 1969 eine Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr verhinderten. Auch gegen den Landtagsabriss initiierte Auffarth eine „Roter-Punkt-Aktion“. „Steht auf!“ prangt auf den roten Punkten, als gelte es nachträglich, die Notstandsgesetze zu verhindern. Andere Bürger, vermutet Göke, sind sauer, weil ihnen der Denkmalschutz „bei jedem Um- und Einbau ihres Eigenheims oder Geschäfts dazwischenredet“, während sich der Landtag mit seinem Abrissbeschluss seine eigenen Gesetze zum Denkmalschutz missachte.

Dem sei aber nicht so, betont Göke. Der Landtag habe das Recht, sich über den Denkmalschutz hinwegzusetzen, wenn „ein überwiegendes öffentliches Interesse“ den Abriss nahe lege. Das ist natürlich eine Gummiformulierung und soll es sein.

Dass die Oesterlen-Erben ungehalten sind, ist klar, zumal viele Bauten des Architekten in den letzten Jahrzehnten abgerissen worden sind. Allerdings steht unweit des Landtags ein sehr viel bedeutenderes Werk Oesterlens, das historische Museum. Der Architekt wird also nicht vollends aus dem Stadtbild verschwinden.

Hannover ist hässlich. Man möchte die halbe Stadt abreißen und neu planen. Gute Neubauten sind in Hannover selten. Auch das Sprengel-Museum am Maschsee ist eher missglückt. Der Neubau des Plenarsaals könnte die Stadt etwas weniger hässlich machen. Es ist nicht viel, es ist eben nicht Stuttgart 21, aber es ist immerhin etwas. Der Denkmalschutz in Ehren – aber er sollte nicht die Nostalgie bedienen.

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3 Gedanken zu “Warum man den Plenarsaal des niedersächsischen Landtags ruhig abreißen kann;”

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    @ Alan Posener
    Sehen Sie, Sie haben eine Nacht darüber geschlafen und ich ebenfalls. Schön jemanden im Geiste zu treffen, allerdings bleiben ein paar Differenzen bestehen.

    Ich bin kein Anhänger des Aufbewahrens für immer und Ewig, am besten mit Ehrenwort. Wahrlich nicht und Sie anscheinend ebenfalls nicht. Der angegebene Grund für einen Neubau ist hier ebenso einleuchtend wie auch gerechtfertigt. Niemand stellt das in Abrede.

    Es geht aber (und bitte stellen Sie mich nicht auf die Stufe der Berufsgegner in Dreadlocks) um jahrzehntelange Versprechungen in anderer Hinsicht und der gleichzeitigen Aufforderungen den Gürtel enger zu schnallen. Nach zwanzig, dreißig Jahren des Sparens haben die Schulden nie da gewesene Höhen erreicht. Wäre es da nicht erst recht gerechtfertigt, wenn Menschen an der Kasse mit guten Beispiel voran gingen würden? Der Bürger verkneift sich seit Jahren, irgendwelche grundsätzlichen Standards einzufordern, allein schon im Hinblick darauf, hierfür auch die Kosten über Steuer und Abgaben selber finanzieren zu müssen. In dieser Hinsicht beweist sich der Bürger als gemeinhin schlauer, als der gewählte Volksvertreter, der einfach in den ihm anvertrauten aber dennoch fremden Taschen wühlt.

    Wir sind aneinander gebunden, der Politiker an den Bürger und andersherum aber fand ich dennoch, den neuerlichen Vorschlag aus der Politik, Politik nach Kassenlage machen zu wollen gar nicht so schlecht. Hätte doch mal etwas, Geld auch nur dann auszugeben, wenn es auch faktisch vorhanden ist.

    Also fassen wir kurz zusammen: Gern ein Abriß. Gern ein Neubau. Gern auch etwas futuristisches. Optimale Arbeitsbedingungen, ja gern. Ich bin dabei. Aber auch nur, wenn man das Geld dafür hat.
    Kaufen Sie sich ein Neuwagen mit allen Extras und Schikanen beim Händler, wenn Sie gleichzeitig mit dem hundertfachen Ihres Verdiensts in der Kreide stehen? Ich denke angesichts dieser Tatsache fährt sich auch heut noch ein alter VW Käfer recht gut.

    BTW: Der niedersächsische Landtag hat 2009 für den Haushalt 2010 2,3 Milliarden neue Schulden aufgenommen. Neue Schulden wohlgemerkt.

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    @ Frank Meier: Nun, vielen Dank für Ihren ausführlichen Kommentar. Die meisten Ihrer Argumente habe ich im Text gewürdigt – insbesondere Ihren Ärger über die vermeintliche Doppelmoral in Sachen Denkmalschutz. Da Sie am Ende Ihres Beitrags für eine generelle Lockerung der Denkmalschutzbestimmungen eintreten, sind wir in der Sache gar nicht so weit auseinander. Zumal Sie nicht einen einzigen ästhetischen Grund für die Erhaltung des Plenarsaals anführen.
    Was nun die Finanzierung angeht, so würde ich Ihnen zustimmen, dass ein Schulklo wichtiger ist als ein Plenarsaal. Allein, ich glaube kaum, dass der Verzicht auf den Neubau dazu führen wird, dass es mehr Geld für die Schulen gibt. Im übrigen kommt man, wie ich im Text erkläre, nicht um eine Grundrenovierung des Landtags herum, allein schon wegen der feuerpolizeilichen Bestimmungen. Diese Renovierung, so wurde mir glaubhaft versichert, käme im Endeffekt einem Neubau gleich. Deshalb habe ich mir erlaubt, hauptsächlich die Frage des Denkmalschutzes unter ästhetischen Gesichtspunkten zu behandeln, und die Kostenfrage außen vor zu lassen.
    Grundsätzlich fände ich eine Haltung problematisch, die einerseits für die Demokratie eintritt, andererseits den gewählten Volksvertretern nicht optimale Arbeitsbedingungen gönnt. Mir scheint aber, dass diese antiparlamentarische Haltung vielen Protestbewegungen eigen ist. Ein weiterer Grund, sie mit Argwohn zu betrachten.

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    @Alan Posener
    Was bei der ganzen Diskussion übersehen wird, ist die einfache Tatsache das für den Neubau Millionen Euro ausgegeben werden, die anderswo ebenso sinnvoll eingesetzt werden könnten. Aber der Reihe nach: Nach jahrelangen Behauptungen Bildung sei das wichtigste, Kindern allen Vorteil gewähren zu sei, jene aber in ebenso schäbigen und verwahrlosten Gebäuden (bitte eine Schultoilette in H besuchen) mit ebenso mangelhafter Ausstattung lernen müssen; seit Jahrzehnten auf die versprochene Erweckung nun warten, ist es ein Hohn sondergleichen, wenn sich nun ausgerechnet jene Volksvertreter einen neues Domizil errichten, welche anderswo für Stimmenfang Paläste fürs Volk in Aussicht gestellt hatten. Der zweite Punkt betrifft die Haushaltslage, welche gelinde gesagt, die veranschlagten 40 Millionen einfach nicht hergeben. Eine Zumutung für jeden privat mit seinem eigenem Verdienst kalkulierenden Menschen sondergleichen. Dritter Punkt betrifft die plötzliche Beliebigkeit des ansonsten so felsenfesten Denkmalschutzes. Gerade in Niedersachsen, wo Verwaltungsakte zum Klagerisiko geworden sind, genehmigt sich die politische Kaste Sonderregelung nach Sonderreglung. Das kann es nicht sein. Das ist genug. Es reicht.

    Fassen wir kurz zusammen:
    Geld für den Umbau/Neubau ist nicht vorhanden!
    Denkmalschutzgesetze gelten nur fürs Volk!
    Seit Jahren werden Schulen bis zur Baufälligkeit vernachlässigt.

    Kommen wir zu Ihren Ausschweifungen, ja Hannover ist potthässlich. Ob da aber ein neuer Plenarsaal die Richtung zur Moderne ebnet wag ich zu bezweifeln. Meinem Instinkt nach müsste sich eher etwas an der Grundhaltung der Deutschen ändern, jene müssten hiernach das Geschwür Bürokratismus und Vater Staat auf einen gesunden Rahmen zurückdrängen. Nur freie, selbstverantwortliche Bürger erschaffen kreative Vielfalt, die auch im Städtebau aus einem hässlichen Entlein eine Perle machen können. Also weg mit Gaubehöhenbestimmungen, verstaubten überbordenen Denkmalschutz, Vorschriften für Türknöpfe, Hausfassaden etc. pp.

    Wenn das in Hannover mal ankommen mag, können unsere Volksvertreter auch gerne 300m hoch und 200m tief bauen. Wer wollte sich daran dann stören?

    Guten Abend

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