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Helmut Schmidt und die Fallen des Skeptizismus

Letzte Woche habe ich an dieser Stelle die Ansichten Helmut Schmidts über einen angeblich genetisch bedingten Hang der Deutschen zum eliminatorischen Antisemitismus referiert und kritisiert. Es stellt sich die Frage, wie ein kluger Mensch wie Schmidt einen solchen Unsinn reden kann. Natürlich schützt Intelligenz vor Dummheit nicht, wie man auch bei Thilo Sarrazin sehen kann. Und auch ich, obwohl nicht annähernd so intelligent wie diese beiden hohen Herren, habe hier und dort Unsinn verzapft. Allerdings bin ich – alles in allem – nicht so selbstgerecht wie diese zwei Sozialdemokraten.

Zumindest bei Schmidt ahne ich, woher diese Selbstgerechtigkeit kommt. Schmidt gehört jener Alterskohorte an, die der Soziologe Helmut Schelsky als „skeptische Generation“ bezeichnete. Diese Generation war im „Dritten Reich“ aufgewachsen und machte Karriere im Kalten Krieg. Sie war desillusioniert und pflegte den Zynismus als Attitüde; „Visionen“ waren für diese Menschen ein Fall für den Augenarzt oder die Psychiatrie; Ideen standen von vornherein unter Ideologieverdacht; der Pragmatismus war ihre Leitphilosophie.

Keine Frage, diese Haltung hat ihre Meriten. Aber ein solcher Skeptizismus birgt ihre eigenen Gefahren. Der skeptische Pragmatiker erkennt nicht, dass auch seine Praxis von philosophischen oder weltanschaulichen Voraussetzungen ausgeht, die umso wirksamer sind, da sie nicht ausformuliert werden und daher ihrerseits der Ideologiekritik entzogen bleiben. Würde man das skeptische Manifest ausformulieren, es würde vermutlich mit Bertolt Brechts Satz beginnen: „Erstens, vergesst nicht, kommt das Fressen…“ Es würde mit der Feststellung weitergehen, dass man die Freiheit nicht essen kann und dass die meisten Menschen glücklich wären, von pragmatischen Experten möglichst geräuschlos regiert zu werden. Deshalb hielten die Skeptiker aus der SPD den Gegensatz zwischen Kommunismus und Demokratie für maßlos übertrieben und glaubten an die „Systemkonvergenz“ unter der Ägide pragmatischer Manager, auch „Wandel durch „Annäherung“ genannt. Der Skeptiker hält die Menschen zwar nicht für gut, aber auch nicht für böse, weil er gut und böse als Kategorien nicht anerkennt.  Für ihn zählt nur der Erfolg.

Wie sehr Schmidt Opfer der eigenen unreflektierten Skepsis ist, zeigt sich – ich beziehe mich hier wie im vorigen Beitrag auf den Gesprächsband „Unser Jahrhundert“ – in seiner Bewunderung für Hitlers Finanzminister Hjalmar Schacht, „einen der erfolgreichsten Ökonomen, die Deutschland je besaß“, der „Keynesianismus in Reinform praktiziert“ habe. Dass man Hitlers „Keynesianismus“ nicht loslösen kann von seiner Zielsetzung, Europa zu unterwerfen und mit dem Gut und Blut der unterworfenen Völker die vom Reich angehäuften Schulden zu bezahlen, hätte Schmidt in diesem Zusammenhang wenigstens beiläufig erwähnen können.

Pragmatiker, der er ist, glaubt Schmidt, dass Russland nach 1989 „einen wie Peter den Großen“ gebraucht hätte, der zwar „das Volk missachtet, aber für jede technische und wirtschaftliche Entwicklung offen“ wäre. Leider habe Russland aber Michail Gorbatschow bekommen: „Jeder Machthaber, der ein schwieriges Manöver namens Perestroika einleitet und zugleich eine öffentliche Meinung schafft, eine kritische zudem, lässt sich auf ein Abenteuer ein.“ Wladimir Putin hätte es nicht besser formulieren können. Bei ihm wird die kritische öffentliche Meinung abgeschafft, notfalls per Kopfschuss. Ach ja, und die Perestroika auch.

Und so geht es bramarbassierend und besserwisserisch weiter durch die Weltgeschichte. Denn wer sich wie Helmut Schmidt über aller Ideologie erhaben wähnt, fällt den eigenen Vorurteilen oder den Vorurteilen der eigenen Nation, Klasse und Zeit umso sicherer zum Opfer. Herbert Wehner bemerkte einmal, Schmidt habe „seine Manieren im Offizierskasino gelernt“. Schmidt nutzt zwar die Gelegenheit des Gesprächs mit Fritz Stern, um Hohn und Spott über Wehner auszugießen, weil er weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg gedient habe (als Kommunist war Wehner aus Deutschland geflohen) und daher nicht einmal wissen konnte, dass Schmidt als Unteroffizier „nie ein Offizierskasino von innen gesehen“ habe. Aber Wehner hatte natürlich Recht, und nicht nur Schmidts Manieren, sondern auch seine apodiktischen Aussagen, die umso selbstsicherer daher kommen, je weniger Schmidt von der Materie versteht, seine Verachtung für Intellektuelle und die brüske Abfertigung des wahrhaft kultivierten und wohlmanierierten Fritz Stern bezeugen die philiströse Überheblichkeit des preußischen Militärs.

Das Gespräch mit Stern dauert drei Tage. Schmidt findet darin anerkennende Worte für seinen Nachfolger; er bringt es aber nicht fertig, die Jahrhundertgestalt seines Vorgängers zu würdigen. Das verrät eine Engherzigkeit, die bei einem Politiker und Publizisten, den die Deutschen so verehren, zutiefst verstören muss.

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16 Gedanken zu “Helmut Schmidt und die Fallen des Skeptizismus;”

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    Um Gottes oder Marxens Willen, das ist doch keine Blamage, sondern eher ein Tipp-, jedenfalls kein Nach-Denk-Fehler. Danke für Ihre Antwort!

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    Skeptischer Pragmatismus – eine nunmehr mit diesem Text Alan Posener´s naseweis zum Ausdruck kommende, ebenso neudefinierte wie zum Standpunkt mit dem Radius Null reduzierte Position. Ein Käffchen, eine Prise Schnupftabak und eine entspannt gerauchte Zigarette dürfte die gelassene Antwort sein.

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    @Jokus: Natürlich meinte ich das. Sorry, in der hitzigen Diskussion und meinen vielen Beiträgen dazu, kein Wunder.
    Danke für den Hinweis, blamiere mich ungern so gravierend!!

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    Alle Rockfans, womöglich sogar Herrn Posener

    Am 18.9.2010 in Adelholzen rock er wieder, der rockende Mönch und Abprimas der Benediktiner, zusammen mit Spider Murphy.
    Nicht alles ist so wie es scheint, und auch das Gegenteil, scheint er uns beweisen zu wollen.
    In seinen Büchern ruft er nicht nur zu Widerstand auf, zu Demokratiebewußtsein, selber gibt er kein schlechtes Beispiel dafür. In seinem Kloster gewährte er mehrere Jahre Asyl, einer nichtchristlichen Familie – gegen den Widerstand des Freistaates. Weder Polizei noch Rom konnte ihn bremsen.
    Auch der alte Abt ist müder geworden – seine Instrumente beherrscht er immer noch meisterlich.
    Kleine Kostprobe:

    http://www.youtube.com/watch?v.....re=related

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    Lieber KJN: Ja, Sie haben das richtig erkannt!
    Auch ich habe nicht das Geringste gegen Pragmatismus – als gefühlter Pragmatiker(Wittgenstein wird sich im Grabe umdrehen bei unseren Wortkreationen)- solange nicht die Werte von Aufklärung und Demokratie berührt werden.
    Übrigens, einen guten Faden kann man an Mao lassen, versuchte er nicht das Analphabetentum in China abzuschaffen? Ansonsten war er natürlich „tödlich“ pragmatisch.

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    Nein, fair ist das wieder nicht, was, Alan Posener hier mit Schmidt macht. Beispiel:
    „Dass man Hitlers „Keynesianismus“ nicht loslösen kann von seiner Zielsetzung, Europa zu unterwerfen und mit dem Gut und Blut der unterworfenen Völker die vom Reich angehäuften Schulden zu bezahlen, hätte Schmidt in diesem Zusammenhang wenigstens beiläufig erwähnen können“…Offenbar hat APO nur selektiv gelesen, denn auf den Einwand von Stern: „Ja, aber da spielt die Wiederaufrüstung eine ganz große Rolle“ kommt im Buch die Antwort von Schmidt: „Richtig…Die Wiederaufrüstung wurde finanziert durch Herrn Schacht, durch eine unglaubliche Ausweitung des Staatskredits“ Bester Alan P. so geht es wirklich nicht. Sie zitieren nicht vollständig, doch nutzen das für Ihre Anklage…
    Im übrigen erklärt gerade dieser „Keynesartige“ Wirtschaftsaufschwung den Erfolg Hitlers in den Anfangsjahren seiner Herrschaft.

  7. avatar

    @Rita E.

    Sie sagen: „@KJN: Die Väter der freien und sozialen Marktwirtschaft hatten ein klares “Feindbild”, um es simpel zu formulieren, Konkurrenz zum Sozialismus. Das Verbot von Monopolen, daß faktisch nicht mehr existiert, müßte z.B. eine ökonomische Selbstverständlichkeit sein.“

    Ähem – das war doch jetzt für EJ, nicht wahr? Denn so ist es. Ich bin nämlich für klare Trennung von staatlichen Aufgaben und Wirtschaft. (Allerdings lese ich gar nichts dazu bei EJ heraus (??) ) Staatsmonopole als solche zu privatisieren ist ein schwerer Sündenfall, der sich noch sehr rächen wird.

    Zum Thema fällt mir ein, daß ich Pragmatismus sehr gut finde, solange er die Werte von Aufklärung und Demokratie nicht berührt.
    Der in meiner Jugendzeit oft gehörte Satz von Älteren, daß Mao keinen Vorwurf zu machen wäre, weil „ein so großes Volk, wie China ja auch nur mit eiserner Hand zu regieren wäre“ gehört aus meiner Sicht nicht zu einem unterstützenswerten Pragmatismus.

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    „Das Gespräch mit Stern dauert drei Tage. Schmidt findet darin anerkennende Worte für seinen Nachfolger; er bringt es aber nicht fertig, die Jahrhundertgestalt seines Vorgängers zu würdigen. Das verrät eine Engherzigkeit, die bei einem Politiker und Publizisten, den die Deutschen so verehren, zutiefst verstören muss.“

    Muss es nicht, wenn man Schmidts Band „Weggefährten – Erinnerungen und Reflexionen“ kennt. S. 440-449. Dieses relativ späte Erinnerungs-Buch aus dem Jahr 1996 ist super strukturiert und sehr poentiert geschrieben. Sie finden darin auch ein gesondertes Kapitel über diverse Vorbilder Helmut Schmidts.

    Ihr Essay war gewohnt flüssig und spannend. Leider liegt mir bisher Ihr Ausgangsbuch Schmidts nicht vor und mit jedem weiteren Zitat fürchte ich, ich würde einen ähnlich miesen Eindruck wie Sie gewinnen, weshalb ich fast froh bin, es bisher nicht gelesen zu haben.

    Auch Schmidts 1987 geschriebenes „Menschen und Mächte“ ist von der Intention her dem später erschienenen Band „Weggefährten“ ähnlich und gleichfalls in meinen Augen lesenswert.

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    Alan Posener: Bei aller Kritik, haben Sie dennoch Herrn Schmidt fair behandelt!
    Sie schrieben über die Abkommandierung des Soldaten Schmidt zu den Schauprozessen des Herrn Freissler, gegen die Attentäter des 17. Juni; nicht schrieben Sie, daß er sich davon hat befreien ließ, weil er angewidert war, davon, was ich zur Abrundung der Persönlichkeitsbetrachtung von Herrn Schmidt ergänzen möchte. Das meinten Sie bestimmt mit skeptischem Pragmatismus.
    Daß er zu den ersten Unterzeichnern “ Der Liste der Menschenpflichten“ gehörte, verdeutlicht ebenfalls, aus welcher Perspektive Herr Schmidt die Welt betrachtete.

    Als junger Mensch fand ich ihn im Fall Schleyer gnadenlos und unbarmherzig. Auch heute bin ich noch nicht sicher, ob ein Staat erpressbar sein kann, oder nicht – unsere Regierungen heute werden von GM und Banken erpresst, was mit einem Achselzucken und vielen Milliarden erledigt wird, in Wirklichkeit aber nicht wesentlich weniger gewalttätig ist, als die Verbrechen der RAF?

    Die letzten Äußerungen buche ich persönlich auf das Konto „Altersstarrsinn“, des Herrn Schmidt – pragmatisch, wie ich nun einmal bin.
    LG die Landplage

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    @KJN: Die Väter der freien und sozialen Marktwirtschaft hatten ein klares „Feindbild“ , um es simpel zu formulieren, Konkurrenz zum Sozialismus. Das Verbot von Monopolen, daß faktisch nicht mehr existiert, müßte z.B. eine ökonomische Selbstverständlichkeit sein. Bahn und Post weitesgehend in Staatshand war vernünftig, wie die entgleiste Privatisierung mir demonstriert (unsere Briefkästen werden von Taxifahrern gelert und Post wird Freitag und Montag nicht ausgetragen). War nicht so schlecht angedacht, wie Sie glauben. Ansonsten stimme ich Ihnen vollkommen zu.

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    Ich glaube nicht, dass Schmidt zur „skeptischen Generation“ gehört, jedenfalls nicht im Sinne Schelskys.

    Schmidt ist Jahrgang ’18. Er gehört zu denen, die „erwachsen“ mitgemacht haben. Und die waren nicht „Gegenstand“ der jugendsoziologischen Untersuchung Schelskys. Tatsächlich braucht man Schelsky auch eher nicht zu bemühen, um Schmidt zu erklären. Seine scheinbare Ideologielosigkeit, seinen autoritär „pragmatischen“ Charakter dürfte er an Alexander Rüstow, Walter Eucken und Wilhelm Röpke einstudiert haben. Die Väter der „Sozialen Marktwirtschaft“ wollten den starken Staat „oberhalb“ aller Partikularinteressen, einschließlich aller wirtschaftlichen.

    Diese Linie ist bis zu Erhards bzw. Rüdiger Altmanns „formierter Gesellschaft“ zu ziehen. Dass die „formierte Gesellschaft“ schon in deren Vorfeld durch den Wolf der 68er gedreht wurde, führte nach dem visionären Zwischenspiel Brandts zu dem noch „pragmatischeren“, noch „ideologiefreieren“ Gehabe des „Machers“: Bloß keine (demokratische) Einmischung provozieren!

    Sieht man nachträglich, wie krude das mindestens zum Teil unterfüttert war, kann man nur sagen: Glück gehabt!

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    Sehr bemerkenswerte Beobachtungen. Ja, Engherzigkeit, Besserwissertum, schlechte Manieren und auch Arroganz und Dünkelhaftigkeit kann man bei Schmidt sicher finden. Interessant sind v.a.D. die Überlegungen zu den Voraussetzungen des Pragmatismus/Skeptizismus. Ja, die gibt es natürlich, aber vielleicht sind sie sozusagen flacher als die große Emotionalität der großen Visionen. Nach meiner vorläufigen Ansicht beschränken sie sich eher auf die Grundlagen des allgemeinen Handelns, Kommunizierens und Verstehens, unter diätischem Verzicht auf weitergehende Ziele. (Die Denkweise des späten Witrtgenstein kommt mir hierbei in den Sinn.)
    Jedenfalls, Herr Posener: Man müsste dem nachgehen.

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